Tagesdosis 09.05.2018 – Berlin, Waldbaden und springende Kühe

Ein Kommentar von Rüdiger Lenz.

Vor Kurzem war ich mal wieder in Berlin. Berlin ist eine Reise wert. Ich bin gerne in Berlin. Mitten in der Stadt. So viel los dort, so viele Menschen. Vor allem, so viele unterschiedliche Menschen. Einfach unglaublich für Landeier wie mich, die komplett abgelegen in der Walachei leben. Allein wir Dorfbewohner hätten in einem einzigen größeren Haus in Berlin genügend Platz. Dort wo ich wohne zählt das Dorf knapp 300 Einwohnern, 50 Kühe, zwanzig Enten, zweihundert Hühner, viele Katzen und Hunde. Man trifft sich und tauscht sich unter den Spezies des öfteren aus. Achja, fünf Pferde sind auch noch da. Eine Pferdedame ist sogar trächtig.

Ach, Berlin, Du bist so aufregend und so einladend. Ich mag es, durch viele Küchen der Welt zu schlemmen – muss aber seit gut 18 Monaten aufpassen, dass sich oberhalb meiner Hüften nicht zu viel Umfang ansammelt. Der Stoffwechsel ist eine Schnecke, wenn man sich der sechzig immer weiter annähert. Die Natur kann echt übel drauf sein, wenn sie sich entwickelt und man selbst dabei Nachteile erfahren muss. Ein Bierchen, etwas Nudeln mit Öl, Gewürze, ein Cappuccino und ein Eis und schon darf ich eine ganze Woche lang nur noch Gemüse und Obst zu mir nehmen. Naja, kein Problem für mich, weil ich ja Vegetarier bin.

Und dann das ganze Internet. Einfach wunderbar dieses Netz. Alles sofort. Zack, da ist die Wahrheit. Recherchiert und schon online einen Blog erstellt. Meinungsfreiheit, die lass ich mir nicht nehmen. Ich weiß Bescheid. Über alles. Und das gründlich. In meinem Zimmer in Berlin ist die Luft so verbraucht, da mache ich doch mal das Fenster auf. Boah, was für ein Lärm. Und was für ein Mief, Autoabgase. Und ich bin schon in schwindliger Höhe. Vierter Stock. Ab sechs Uhr Morgens schlängelt sich der Lärm und der Mief so langsam durch alle Gasse, in die Höhe und bleibt dort einfach stehen.

Ja, die Berliner Luft, die war einmal köstlich. Trotz allem, ich liebe es, nach Berlin zu kommen. Ich kann  nicht sagen, warum. Ich liebe diese vielen Kulturen dort. Aber leben, leben möchte ich dort nicht. Alles ist zubetoniert, asphaltiert. Überall Baustellen, Umleitungen und Touris. Touris, also Touristen, haben wir hier in Hameln auch viele. Busweise werden die angekarrt. Tagtäglich. Fotos machen. Von allen Häusern in der Altstadt. dann kommt der Rattenfänger. Der ist heute angestellt bei der Stadt. Er reist sogar in viele Länder, USA und Japan sind seine bevorzugten Reiseziele. Dort buchen sie ihn, den Rattenfänger. Fahren voll auf ihn ab. Kultureller Austausch nennt sich so etwas heute.

Ja, Berlin. Da gibt es viel Natur. Auch schöne Stellen. So bezeichnet man ja kleinere Oasen in Städten, wo der Mensch mal alle gerade sein lassen kann. Dort, in dem Dorf, wo ich wohne, da ist das der Normalzustand. Alles gerade sein zu lassen. Wenn ich dort mit meinem Hund und meiner Katze spazieren gehe, treffen wir auch andere Katzen und Hunde. Manchmal auch Dorfbewohner. Dann wird angehalten und gequatscht. Die Hunde kommen dann von der Leine und rasen los. Freuen sich, zeigen sich untereinander, wo das Gras besser riecht und wo im Boden etwas wohlriechendes heraus gebuddelt werden muss. Wir Menschen unterhalten uns dann über Gott und die Welt. Nichts Ernstes, wie hier auf KenFM, den Nachdenkseiten oder auf Rubikon.

Dann gehe ich weiter mit Hund und Katze in den Wald. Das Weserbergland, in dem das Dorf, in dem ich lebe, sich ausgebreitet hat, ist von Wäldern umzingelt. Man kann keinen Kilometer gehen. Schwups ist man im Wald. Nähere ich mich dem Wald, dann ertönen erst einzelne Vogelstimmen. Die werden immer heftiger und zahlreicher, je näher ich mich zum Wald begebe. Bin ich im Wald, bleibe ich stehen und mache meine Augen für kurze Zeit zu. Himmlisch diese Stimmen. Ich höre viel, sehe wenig, manchmal ein Reh, ein Hirsch oder mehrere Rehe mit ihren Jungtieren, ein Fuchs, viele Mäuse. Die staunen dann über mich, aber mehr noch über meinen Hund. Mein Hund merkt schon anhand meiner Ausstrahlung, was er zu tun haben darf, wenn Wildtiere sich uns nähern. Er setzt sich dann und scannt mich komplett ab. Ich habe einen Jagdhund. Drei Jahre Hundeschule und eine gekonnt, auf Hundeohren trainierte männliche Stimme reicht aus, auch ohne Leine, dass meine Lotta nicht auf die Wildtiere zu rennt. Beziehungsarbeit, harte, liebevolle Beziehungsarbeit.

Ja, der Wald. Ein Mysterium für sich. Wenn ich mit Lotta durch den Wald spaziere, also nicht auf Pfaden gehe, dann ist unser Band so stark und sie so intensiv mit mir verbunden, dass ich keine Leine brauche. Ich flüstere ihr zu und sie versteht mich, was sie Zuhause jedoch in dieser Tonlage nicht würde. Es ist, als wäre sie plötzlich ein Teil von mir und ich von ihr. Manchmal erahnt sie mein Verhalten, bevor ich es überhaupt wahrnehme. Ich liebe Lotta. Noch nie habe ich so eine intensive Beziehung mit einem Hund gehabt wie mit ihr. Gassi gehen –  das kennt Lotta nicht. Sie ist immer stundenweise unterwegs. Ja, der Wald. Ein Mysterium für sich. Jeden Pfad von Tieren zeigt Lotta mir sofort an. Manchmal, wenn sie so um die zehn Meter vor mir oder hinter mir geht, gibt sie Laut und bleibt stehen. Ich kann sie dann rufen wie ich will, sie bleibt stehen und schaut mich stur an. Gehe ich dann zu ihr, liegt dort ein totes Tier. Erst wenn ich ihr dann sage, dass es weiter geht und das Tier liegen bleiben soll, geht sie weiter. Futtersuche ist ihr wichtigster Trieb. Und Lotta findet alles.

Henry David Thoreau, wohl nur Wenigen hier bekannt, gründete das „Walden“ und schrieb dazu auch ein Buch. Er war einer der ersten, der zum „zivilen Ungehorsam“ gegen den Staat aufrief. Denn der Staat holzte zu seiner Zeit zu viel Wälder ab. Thoreau lebte im Wald, war von Ralph Waldo Emerson angetan und vergötterte Alexander von Humboldt. Thoreau wollte die Natur in sich fühlen, wie Alexander von Humboldt die Natur beschrieb. Emotional, empathisch, mystisch, verbunden und in ihr auflösend. Mensch und Natur, das war für Humboldt untrennbar. So forschte er, so begriff er und so schrieb Humboldt auch. Die Natur korrespondiert mit uns, sie malt sich in uns aus, ganz von selbst. Das kann man fühlen, nicht begreifen oder sezieren oder kategorisieren. Die Natur, das bin ich und die Liebe dieser Natur das ist unser Alphazustand. Unser Omega ist, sie als ein Wesen zu verstehen. Das war die Natursicht Alexanders. Wenn Alexander sich darin in Worten verlor, horchte Goethe ihm wie keinem anderen zu. Alexander von Humboldt, außerhalb Deutschlands der bekannteste Deutsche. Aber im Inland? Frag lieber nicht.

Ach Berlin. In dir tobt kein Wald. Grün bist du, ja, aber ein Wald wie der Ith, der mich umspannt, den hast du nicht. Du träumst, in modernster Weise nun vom „Waldbaden“. Ja, so nennt sich dieser neue, aus Japan kommende Trend, mit dem sich wohl ein kleiner kapitaler Markt kreieren lässt. Naturverhungernde Menschen gibt es sicher zur Genüge – und nicht nur in Berlin. Ich merke es immer, wenn Besuch aus Großstädten kommt und bei mir nächtigt. Dann wird am Morgen immer gesagt: Ach, so gut habe ich schon lange nicht mehr geschlafen. Und wenn dann Frühjahr, Sommer oder Frühherbst ist, dann drängt sich der Gast ans Fenster oder auf die Terrasse, um lautlos die Natur einzusaugen. „Hörst Du es auch?“, frage ich dann häufig. „Was denn?“, ist dann stets die Antwort. „Genau“, antworte ich dann lächelnd zurück., „Nichts, Du hörst hier meistens nichts“. Entschleunigung pur.

Anfang März sind Hühner meine unmittelbaren Nachbarn, zum Greifen nah. Anfang Mai kommen die Kühe. Wenn ich das Fenster kippe, dann höre ich ihr Schmatzen und das Reißen des Grases, das sie sich genüßlich schmecken lassen. Kommen sie zum ersten Mal nach dem Winter wieder auf ihre Wiesen, dann kann man die Freude sofort erkennen, Die Kühe springen dann in die Luft, rennen herum, animieren dann die anderen Kühe und alle rennen und springen herum. Das sieht man nur am ersten Tag ihrer erneuten Freiheit und jedes Jahr wieder.

Ob Kühe Freude empfinden können oder ob der Wald lebt? Ach, alles Geschwurbel. Waldbaden, ein neuer Trend. Was der wohl für den Wald bringt? Spazieren gehen im Wald, also der Waldspaziergang, ob dieser Begriff wohl bald zu „old school“ wird? Ob es dafür ein neues App geben wird? Man drückt auf die App und schon zwitschert das Smartphone los. In der Ferne hören wir leise das Röhren eines Hirsches, das Wiehern von Pferden. Waldbaden, eine neue Medizin. Ob die Wissenschaft das herausfinden kann und wird? Ist Waldbaden medizinisch wirkungsvoll? Ob die Pharmaindustrie das zulassen wird? Vielleicht Dauertherapien? Zwölf Anwendungen? Ob deine Krankenkasse das dann zahlt? Fünf Euro die Stunde, Waldbaden. Jeder muss zahlen. Kräuter sammeln? Pro einhundert Gramm ein Euro fünfzig. Kräuterwellness heißt das dann. Vielleicht schon morgen, übermorgen?

„Waldbaden bedeute, sagt Bernjus, in die angenehme Atmosphäre des Waldes einzutauchen: wo es würzig riecht, das Licht milde schimmert, die Luft klar ist, sich die Wipfel im Wind wiegen und der Boden unter den Füßen federt. “Der Wald tut uns gut“. So beschreibt ein Artikel in der Zeit dieses neue Waldbaden und ich muss gestehen, dass ich den Bericht nicht weiter gelesen habe, als zum Ende der ersten Seite. Lotta sitzt gerade neben meinem Stuhl und schaut mich an. Tatzt mit ihrer rechten Pfote auf meinen linken Schenkel und deutet mir: „Ich will Walden, los, lass uns gehen“. Da gehe ich aus dem Büro und zur Tür, die zur Werkstatt und dann nach draußen führt und höre von oben schon das schnelle Laufen meiner Katze. Sie hört das knarren der Werkstatttür und weiß, jetzt gehts in den Wald. Aber nicht ohne mich, „miau“.

Quelle:

https://www.zeit.de/zeit-wissen/2018/03/waldbaden-natur-heilung-gesundheit-japan

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