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„Sieh an, Schneider ist draußen!“ - Eine unheimliche Geschichte

„Sieh an, Schneider ist draußen!“ - Eine unheimliche Geschichte

Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.

»Sehen Sie, des is so: wir haben ... also morgens begann der Dienst, abends war der Dienst zu Ende und dann waren wir weg«.

Der Intercity warf sich mit dumpfen Knall in den Wirbel eines entgegenkommenden Zuges, als wollte er die Worte unter sich begraben. Malin rückte den Kopfhörer zurecht. Der Mann, der dort wahrheitsgetreu Auskunft über seinen Arbeitsalltag in Auschwitz gab, war SS-Unterscharführer Gerhard Schneider.

„Sie sind angekommen in Viehwagons, immer drei- bis viertausend Menschen, alle aus Warschau. Dazwischen sind aber auch noch Züge gekommen von anderen Orten, die hat man, weil die Stalingrad-Offensive im Gange war, hat man die Judentransporte an einem Bahnhof stehen lassen. Und noch dazu vielfach in französischen Wagen. Die waren aus Blech, also so, dass es war, dass angekommen sind fünftausend Juden und davon waren dreitausend tot. Ausgeladen hat man Halbtote und Halbwahnsinnige. Die Toten hat man aufgeschichtet. Aufeinander geschichtet, so hoch. An der Rampe. Die waren aufgeschichtet wie Holz.“ 

Eine Dame gesellte sich zu Malin ins Abteil. Sie trug ein geblümtes gelbes Sommerkleid und weiße Handschuhe. Nachdem sie ihm kurz zugenickt hatte, nahm sie gegenüber am Fenster Platz.

„Der erste Eindruck für mich und meine Kameraden war katastrophal. Weil man uns nicht gesagt hat, wie und was, dass dort Menschen getötet werden, das hat man uns nicht gesagt. Man hat gesagt, der Führer hat Umsiedlungsaktionen angeordnet, das ist ein Führerbefehl, verstehen Sie? Man hat nie gesagt töten. Na, dann hat uns der Spieß, hat uns das Lager gezeigt. Und als wir hinauf kamen, gingen gerade die Türen auf von der Gaskammer und die Menschen fielen heraus wie Kartoffeln.“

Malin drückte die Stopptaste des Aufnahmegeräts. Ihm zur Seite schwang sich eine Hochspannungsleitung in eleganten Sätzen durch die Landschaft. Unter ihr dösten Kühe wiederkäuend im Gras. Er verließ das Abteil und stellte sich auf den Gang. Die Dame mit den weißen Handschuhen hatte die Augen geschlossen. Sie atmete tief und regelmäßig, als hielte sie die Zügel ihres Tagtraums fest in der Hand.

Der Zug legte sich in die Kurve. Das Lichtquadrat, das zuvor ihren Schoß gewärmt hatte, kroch von den Oberschenkeln der Frau zu Boden. Im gleichen Tempo, in dem ihre Beine in den Schatten gerieten, erlosch das Lächeln auf ihrem Gesicht. Es kehrte erst langsam wieder, als sich das scharfkantige Lichteck Zentimeter für Zentimeter das textile Blumenfeld zurückeroberte. Für einen Moment begegneten sich ihre Blicke. Die Frau erschrak, strich ihr Kleid zurecht und drängte kurz darauf an ihm vorbei Richtung Speisewagen. Malin kehrte ins Abteil zurück. In weniger als einer Stunde würde er Simon Goldstein gegenüberstehen. Der 97jährige war der Letzte seiner Art, der letzte bekannte Überlebende eines deutschen Konzentrationslagers. Mit Goldstein würde die einzige noch lebende Stimme verstummen, die von dem Grauen Zeugnis ablegen konnte. Zur „Einstimmung“ auf das Interview hörte sich Malin Schneiders Aussage in voller Länge an.

„Das waren die heißen Augusttage. Das Erdreich hat sich bewegt wie Wellen, durch die Gase. Der Geruch war infernalisch. Das hat furchtbar gestunken, dass man es kilometerweit, überall, je nachdem wie der Wind ging, so war der Gestank, verstehen Sie? Die Juden haben es geahnt, die haben es geahnt ... Sie waren vielleicht im Zweifel, aber manche werden es gewusst haben. Zum Beispiel waren jüdische Frauen, die haben ihren Töchtern in der Nacht die Adern geöffnet und sich selbst, andere haben sich vergiftet, weil sie doch das Rattern der Motoren von den Gaskammern gehört haben. Da war ein Panzermotor in dieser Gaskammer. In Treblinka hat man nur Auspuffgase genommen.“

Zwei Herren in offenen Kaschmirmänteln öffneten die Tür. Ein kalter Hauch umwehte sie, ähnlich dem, den eine einfahrende U-Bahn in die Station drückt. Sie wuchteten ihre Koffer erstaunlich behände auf die Ablage. Malin blickte in ihre gebräunten, mit Altersflecken gesprenkelten Gesichter. Er hatte sich im Laufe der Jahre die Fähigkeit erworben, die Physiognomien der Menschen auf der Zeitspur nach hinten bewegen zu können. Diese Männer machten ihm Angst. Ihre blauen Augen, die gescheitelten silbergrauen Haare, die scharfkantig geschnittenen Kinn- und Wangenpartien legten sich in der Verjüngung wie eine deckungsgleiche Folie auf das Bild, das man sich hierzulande einmal vom Herrenmenschen gemacht hatte.

„Und da so viele Leute anfielen, lagen tagelang ganze Haufen von Menschen vor der Gaskammer. Unter diesen Menschen war eine Kloake, zehn Zentimeter hoch, Blut, Würmer, Dreck. Es wollte das niemand wegräumen. Die Juden, die haben sich lieber erschießen lassen und haben dort nicht arbeiten wollen. So gingen wir selbst hinauf und ließen Riemen schneiden, die hat man den Leichen um die Brust gelegt und hat sie weggeschliffen ...“

Malin presste seine Schläfe gegen die Fensterscheibe, deren kühler Stempel ihm guttat. Sie passierten den Bahnhof Wittenberge, wegen Gleisarbeiten hatte der Zug das Tempo extrem gedrosselt. Er schloss die Augen. In seinem Kopf wirbelten verstörende Bilder auf. So blickte er in eine triste Straße voller Kinder, die apathisch im Rinnstein hockten. Zerlumpte Gestalten mit Handwägen zogen stumm an ihnen vorüber. Sie bewegten sich wie in Gelee gegossen. Plötzlich, als hätte man ihnen einen Stromschlag verpasst, flüchteten die Menschen in Hinterhöfe und Hauseingänge, manche versteckten sich in der Kanalisation. Kurz darauf bogen zwei Männer in schwarzen Uniformen um die Ecke, sie scherzten miteinander wie auf einem Sonntagsspaziergang. Vor der unbekleideten Leiche eines jungen Mädchens hielten sie an. Während der eine mit der Stiefelspitze gegen ihre Brust stieß, zog der andere seine Pistole und feuerte auf das letzte intakte Fenster in der Straße. Gelangweilt setzten sie ihren Weg fort. Hinter ihnen hoben sich die Gullydeckel. Malin riss die Augen auf. „DAS IST DIE LÖSUNG!“ stand auf einer Plakatwand.

„Sieh an,“ bemerkte einer seiner Reisebegleiter, „Schneider ist draußen!“ Er faltete die Zeitung zusammen und reichte sie seinem Gegenüber. Dann griff er in die Tasche seines Jacketts und setzte sich eine Sonnenbrille auf.

Malin schnappte seine Tasche und mühte sich an den Männern vorbei. Auf dem Weg zum Speisewagen rempelte er mehrmals gegen die Abteiltüren, was ihm den einen oder anderen bösen Blick bescherte. Endlich angekommen setzte er sich an den einzig freien Tisch. Er musste erst kürzlich verlassen worden sein, denn weder Teetasse noch Eisbecher waren bisher abgeräumt worden. Unter der Zuckerdose lugte ein weißer Handschuh hervor. Malin nahm ihn in die Hand und führte ihn an die Nase.

„Entschuldigen Sie,“ hörte er eine sanfte weibliche Stimme sagen, „haben Sie hier zufällig einen weißen Handschuh gefunden?“ Er schüttelte den Kopf und roch erst wieder daran, als der Zug den Hauptbahnhof von Berlin erreichte.

PS: Die Zitate in dem Artikel sind echt. Ich habe sie einer Dokumentation über den Auschwitz-Prozess entnommen, der 1964 in Frankfurt stattfand. Gelegentlich sollten wir uns den Filter des Vergessens vom Gesicht reißen, egal ob wir jung sind oder alt. Erst wenn unsere Herzen weit ausgreifen, tragen wir zur Heilung dieser zutiefst verwundeten Welt bei. Ich meine nicht das Mitleid, das nur die instinktive Abwehr des fremden Leidens vor der eigenen Seele ist, wie Stefan Zweig es formulierte. Der Dichter nannte auch das Mitleid, das einzig zählt:

„Das unsentimentale, schöpferische Mitleid, das entschlossen ist, geduldig alles durchzustehen bis zum Letzten seiner Kraft und noch über dies Letzte hinaus.“

Das ist hart, sicher, das schmerzt. Aber es ist nun mal die Prüfung, die jeder zu bestehen hat, der sich als Mensch nicht verlieren möchte. Gegen das Leid der wahrhaft Betroffenen, wie aktuell das der Palästinenser in Gaza, wiegt das nichts, obwohl es uns zerreißen kann.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bildquelle: sergio34 / shutterstock 

 

 

 

 

 


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Dirk C. Fleck auschwitz vergessen nicht vergessen gaza Palästina Mitgefühl