Lyrische Beobachtungsstelle

Rilkes 150. Geburtstag | Von Paul Clemente

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Den Panther rauslassen

“Die Lyrische Beobachtungsstelle” von Paul Clemente.

Seine Wirkung auf die Jugend scheint ungebrochen: Wer auf Tiktok unter dem Hashtag Rilke sucht, erntet Massen an Kurzvideos. Rezitationen seiner Lyrik. Gerne auch als Rap- oder K-Pop-Version. Die Anziehung beruht auf Gegenseitigkeit: Schon zu Lebzeiten hatte Rilke viele Newcomer gefördert und beraten. Seine „Briefe an einen jungen Dichter“ sind nur ein Beispiel. Rilke ist Tröster, versteht zehrende Trauer und abgrundtiefe Angst. Dennoch gab er das Leben nie auf. Einen Zoo-Panther erhob er zum Symbol für blockiertes Leben: „Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, dass er nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.“  Der „Dichter der Angst“, der Unruhe und Verzweiflung offeriert  Heranwachsenden tiefgehende Selbsterfahrung. Kein leichter Job, den Rilke von Hermann Hesse übernommen hat.

Am 04. Dezember feiert man seinen 150. Geburtstag. Neue Bücher erscheinen: Biographien, aber auch Studien wie „Das Flimmern der Raubtierfelle. Rilke und der Faschismus: Rainer Maria Rilkes Biografie in neuem Licht“. Autor Hans-Peter Kunisch analysiert die Verehrung des Dichters für Benito Mussolini. Ja, richtig gehört. Rainer Maria Rilke, der 1926 im Alter von 51 Jahren starb, begeisterte sich für den italienischen Faschismus. Allerdings sollten Fans der Cancel-Culture nicht voreilig den Schampus öffnen: Rilkes Werk muss weder eingestampft noch mit Triggerwarnungen bekritzelt werden. Wir kommen darauf zurück.

Geboren wurde er 1875 als René Karl Wilhelm Johann Josef Maria Rilke in der Schweiz. Der Frühgeborene blieb lebenslang schwächlich, kränklich, ein wandelndes Versuchslabor für damalige Lebensreformer. Aber es kam noch Schlimmer. Seine Mutter hatte zuvor eine Tochter verloren. Um diesen Verlust zu kompensieren, erzog sie den Sohn als Mädchen! In den ersten sechs Jahren, in denen sich die Psyche bildet. Davon hat Rilke sich nie erholt. Seine Angst und Hypersensibilität: Hier liegen die Wurzeln. Spätere Aufarbeitung durch Psychoanalyse lehnte er ab: Zu groß die Furcht vor Beschädigung seiner Kreativität. Dass er sich Rainer nannte, basiert auf einem Vorschlag von Lou Andreas-Salomé - seiner temporär Geliebten, lebenslangen Freundin und Ersatzmutter. René - das klang ihr zu feminin.

Menschen, die unter Angsterkrankung leiden, sind oft thanatophob: Das heißt: Ihre größte Angst gilt der totalen Auslöschung, dem Tod. Rilkes Roman „Malte Laurids Brigge“ zeigt ein Paris aus thanatophober Perspektive: Kein Moulin Rouge, keine Champs-Élysées, keine Intellektuellen-Cafés, keine Flaniermeilen, kein Künstlerviertel, kein Bordell. Rilkes Paris ist keine Stadt des Eros, sondern eine Nekropole. Gleich zu Beginn heißt es: „So, also hierher kommen die Leute, um zu leben, ich würde eher meinen, es stürbe sich hier. Ich bin ausgewesen. Ich habe gesehen: Hospitäler. Ich habe einen Menschen gesehen, welcher schwankte und umsank.“

Rilkes Lebensbejahung, sein Feiern des Daseins als „herrlich“, als ästhetisches Faszinosum ist diesen Ängsten abgetrotzt. Diente ihm als Gegengift. Starke, unbedingte Emotion hingegen schien ihn zu überfordern. In den „Duineser Elegien“ fragt er:

„Wer, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? Und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich. Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf dunkelen Schluchzens.“ 

Vor allem fürchtete Rilke die zunehmende Entfremdung des Sterbenden. Daher sein Gebet: „O Herr, gib jedem seinen eignen Tod, das Sterben, das aus jenem Leben geht, darin er Liebe hatte, Sinn und Not.“ Sein letzter Brief an Lou Andreas-Salomé endete mit dem Satzfragment: „aber die Höllen“. Manche Interpreten deuten diese „Höllen“ als Horror vor dem Krankenhaus-Tod. Denn genau den durchlitt der leukämiekranke Dichter: Im Dezember 1926 starb er im Sanatorium in Valmont-sur-Territet, in den Armen seines Arztes.

Rilke verehrte Russland. Seine Freundin Lou Andreas Salomé, geboren in Sankt Petersburg, zeigte ihm die Kultur des Landes, das Bauerntum, arrangierte sogar ein Treffen mit Leo Tolstoi. Der Bezug einfacher Menschen zum Gegenständlichen, zu alltäglichen Gebrauchsgütern galt ihm um vieles „tiefer“ als die Konsumkultur made in USA. Auch Aufstände der Unterschichten, wie 1917 in der russischen Revolution, rissen ihn mit. Ebenso die Ausrufung der Münchener Räterepublik: Deren Akteure gingen 1919 bei dem Dichter ein und aus: Revoluzzer wie Ernst Toller oder Oscar Maria Graf. Bald wurde Rilke des Bolschewismus verdächtigt. Nach einem Spontanbesuch durch bewaffnete Polizisten, entschloss er sich zur Flucht in die Schweiz. 

Mitauslöser für Rilkes späten Weg zu Mussolini war vielleicht die Lektüre von Oswald Spenglers „Untergang des Abendlandes“, einer morphologischen Deutung der Kulturen. Die haben laut Spengler ihr frühes Wachstum, dann Blütezeit bis zum finalen Verwelken. Das Abendland, so der Geschichtsdenker, hat die letzte Phase erreicht. Großes Kulturschaffen brächte es laut Spengler nicht mehr hervor. Wohl aber noch einen Caesaren. Und den glaubte er in Mussolini erkannt zu haben. Dass der „Duce“ kaum mehr als unfreiwillige Parodien auf den „Caesarismus“ bot, entging dem Philosophen. Auch Rilkes Faschismus-Flirt entbehrt nicht der Komik. Wer kann sich den schmächtigen, schwermütigen Poeten so vorstellen: In schwarzen Uniform, stramm stehend, zackig marschierend, staatlich verordnete Feinde niederschießend?

Dass der Dichter kein politisches Manifest geschrieben hat, legt eine psychologische Sicht seiner Mussolini-Verehrung nah. Durch Spurensuche in seinen Werken und Briefen. Und man wird fündig. In den „Sonetten an Orpheus“ beispielsweise. Darin verteidigt Rilke die Jagd: „Töten ist eine Gestalt unseres wandernden Trauerns“. Allerdings lasse der Mensch sein destruktives Potenzial verkümmern. Nicht zufällig wählte Rilke ein Raubtier, ein Panther für selbst auferlegten Gewaltverzicht. Übrigens: Hollywood hat dieses Symbol in den beiden „Cat People“-Filmen thematisiert: 1942 und 1982 gedreht. Erzählt wird von einer Frau, die bei sexueller Erregung zum Panther wird, ihren Liebhaber zerfleischt. Im Finale der 1982er Version lässt sie sich freiwillig in einen Zoo-Käfig sperren.

Diese Kraft des Raubtiers findet Rilke bei einem Herrscher wie Mussolini. Der „wahre Diktator“ sei eine „gewisse Kraft, die zur Herstellung der Ordnung gebraucht wird.“ Sie „bewahrt etwas von dieser tiefen Unschuld […], die wir der Natur zuschreiben, selbst da, wo sie sich mit Schroffheit durchsetzt.“ Sein verzweifelter Versuch, die eigene Psyche zu ordnen, das Chaos von Impulsen und Emotionen zu sortieren, die Unfähigkeit, im eigenen Seelen-Haushalt hart durchzugreifen – all das erwartet Rilke von Mussolini in der Außenwelt. Die unerfüllbare Sehnsucht nach innerer Ordnung wird ins Politische verschoben. Eine gewaltige Projektion. O-Ton-Rilke:

So „groß und ungeduldig ist mein Verlangen nach Ordnung. Nichts als die kraftvolle und lebendige Einstimmigkeit der Kräfte, die seit einiger Zeit Ihr Land formen, kann uns noch retten vor den Zaghaftigkeiten und nutzlos sich widersprechenden wehleidigen Anwandlungen von Taten.“

Im kraftvollen Tun, so die Hoffnung, weicht auch die Todesangst. Ein Irrtum, der unausrottbar scheint.

Erinnern wir uns: Vor fünf Jahren. Eine medial erzeugte Panik vor dem Corona-Virus trieb Millionen in die Hände von „Experten“. Weltweit. Die gaben ein Versprechen: Wer unsere Regeln befolgt, hat nichts zu befürchten. Die Ungeimpften standen für Skepsis, für Zweifel an der rettenden Unterwerfung. Also forderte man, sie zu zwingen, auszusperren, ins Abseits zu drängen. Wieder war es Angst, die nach Ordnung, Struktur, Zwang und ein Wahrheitsmonopol verlangte. Auch in dieser Hinsicht ist Rilke ungebrochen gegenwärtig.

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bild: Leonid Pasternak - Porträtgemälde von Rainer Maria Rilke

Bildquelle: Leonid Pasternak/ Wikimedia Commons


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