Ein Meinungsbeitrag von Stephan Ossenkopp.
Am 28. März besuchte US-Vizepräsident JD Vance mit einer Delegation Grönland und sprach vor Truppen der Pituffik Space Base, einem US-Militärstützpunkt im Nordwesten der eisbedeckten Insel. Besonders lobte er die Rolle des Frühwarnradars zur Erkennung anfliegender Raketen. Zudem verband Vance dies etwas ominös mit der Bemerkung, dass „Russland, China und andere Nationen ein außerordentliches Interesse an arktischen Passagen, arktischen Seewegen und in der Tat an den Mineralien der arktischen Gebiete haben“. Das dürfte aus durchaus nachvollziehbaren wirtschaftlichen Gründen offensichtlich sein, denn Asien insgesamt boomt und will in Zukunft seine Energie und andere Rohstoffe auch aus der Arktis beziehen, die zum allergrößten Teil von Russland kontrolliert und erschlossen wird. Es geht schlicht um mögliche Kosteneinsparungen durch kürzere Transportwege.
Auch US-Sicherheitsberater Mike Waltz wandte sich an die US-Soldaten:
„Hier geht es um Schifffahrtsrouten, hier geht es um Energie, hier geht es um Fischerei und natürlich geht es um Ihre Mission, die darin besteht, unsere Sicherheit zu gewährleisten und unsere Feinde zu überwachen.“
Waltz, der vor nicht allzu langer Zeit noch gemeinsam mit US-Außenminister Marco Rubio dem russischen Außenminister Sergej Lawrow im saudi-arabischen Riad gegenüber saß, um die diplomatischen Beziehungen zu Russland zu normalisieren, spricht schon wieder von "Gegnern". Vance beschuldigte Dänemark, zu dessen Territorium Grönland trotz aller Unabhängigkeitsbestrebungen immer noch gehört, Grönland und den US-Truppen nicht genügend Schutz zu bieten. Schutz wovor? Vor „zahlreichen sehr aggressiven Vorstößen Russlands, Chinas und anderer Nationen“. Ist es die eisige Temperatur, von der Vance und andere Delegationsmitglieder wiederholt schwatzen, die die Sprache des Kalten Krieges wieder aufleben lässt?
Warum machen die USA ausgerechnet jetzt so viel Aufhebens um Grönland, eine Insel mit einer Bevölkerungsdichte von 0,026 Einwohnern pro Quadratkilometer (zum Vergleich: Deutschland 237) und größtenteils unwirtlichen Lebensbedingungen? Plötzlich erscheinen auch in der deutschen Presse Artikel mit Titeln wie "Amerikas Aufholjagd in der Arktis" (Süddeutsche Zeitung) oder "In diesem Kalten Krieg liegt Putin bereits weit vorn" (Welt). Nun soll also das unerwartete Auftauchen der Amerikaner in Grönland als Teil eines Kampfes um die Arktis und den Nordpol in den Mittelpunkt gerückt werden. Mit welcher Begründung? Vizepräsident Vance sagte in Pituffik auf die Frage eines Journalisten, ob es konkrete Anzeichen für Bedrohungen gebe, man habe „sehr starke Anzeichen dafür gesehen, dass sowohl die Chinesen als auch die Russen an Grönland interessiert sind. Und warum sollten sie kein Interesse an Grönland haben? Es ist ein wunderschöner Ort mit unglaublichen Menschen.“ So schön dieser Ort auch sein mag, Vances Antwort wirft mehr Fragen auf, als dass sie irgendetwas erklärt.
Deutsche Medienberichte wollen den Leser in die Zeit des Kalten Krieges zurückversetzen, indem sie von „Putins Expansion in die Arktis“ sprechen und im gleichen Atemzug Russlands Atom-U-Boot-Flotte, seine Flugplätze und Tiefseehäfen in der Region erwähnen. Das Szenario: die militärische Kontrolle der Seewege zwischen Arktis und Atlantik einerseits und zwischen Arktis und Pazifik andererseits. Darüber hinaus gelte es, territoriale Ansprüche und den impliziten Besitz riesiger Rohstoffvorkommen zu sichern. Dem leichtgläubigen Leser bleibt nichts anderes übrig, als das Ganze als ein weiteres Kapitel des angeblichen russischen Großmachtstrebens zu sehen – und da die Europäer schlafen oder mit sich selbst beschäftigt sind, müssen eben die Amerikaner einspringen, um dem Ganzen frühzeitig Einhalt zu gebieten.
Betrachtet man das Ganze jedoch aus russischer Sicht, ergibt sich ein wesentlich differenzierteres Bild. Besonders kontrastreich wird es, wenn man die Rede von Präsident Putin auf dem Internationalen Arktisforum am 27. März in Murmansk, einer Stadt mit rund 300.000 Einwohnern, 1.500 km nördlich von Moskau, liest. Hierzulande wurde in der Presse meist nur erwähnt, dass Putin in seiner Rede auf die lange zurückreichenden Pläne der USA eingegangen sei, Grönland zu besitzen. Diese Bestrebungen reichten bis in die 1860er Jahre zurück, seien aber immer wieder politisch gescheitert. Putin hat recht. US-Außenminister William Seward wollte 1868 Grönland und Island für 5,5 Millionen Dollar kaufen. Noch 1946 hatte US-Präsident Truman vergeblich 100 Millionen Dollar in Gold für Grönland geboten. Später erkannten die Amerikaner Dänemark als Besitzer an, errichteten aber bis 1953 die Thule Air Base für 10.000 US-Soldaten, den Vorläufer der heutigen Pituffik Space Base, auf der Vance und Waltz sprachen. Soweit die Geschichte. Doch Putins lange Rede in Murmansk hat nur ein Ziel: die Modernisierung und zivilisatorische Erschließung des russischen Teils der Arktis und die wirtschaftliche Nutzbarmachung des Nördlichen Seeweges für den Transport von Rohstoffen nach Asien. Expansion? Rivalität mit dem Westen? Kein Wort.
Das Forum will vor allem Länder und Investoren aus aller Welt anziehen, die in ein generationenübergreifendes Megaprojekt investieren, das das Gesicht Eurasiens und damit großer Teile der Welt verändern wird: den Transarktischen Transportkorridor (TATC). Dabei geht es um die wirtschaftliche und industrielle Erschließung des riesigen russischen Nordens, in dem aufgrund der rauen Bedingungen nur rund zweieinhalb Millionen Menschen leben. Russland sei bereit, nicht nur mit den Anrainerstaaten der Arktis zusammenzuarbeiten, sondern mit „allen, die wie wir die Verantwortung für eine stabile und nachhaltige Zukunft des Planeten teilen und in der Lage sind, ausgewogene Entscheidungen für die kommenden Jahrzehnte zu treffen“, sagte Putin in seiner Einführung. Bis 2030 sollen die Schiffe auf dem Nördlichen Seeweg bereits 70 bis 100 Millionen Tonnen Güter transportieren können. 2014 waren es noch magere 4 Millionen Tonnen, 2024 38 Millionen Tonnen.
Dafür setzt die Russische Föderation die größte Eisbrecherflotte der Welt ein, acht davon mit Nuklearantrieb. Es geht um Öl und LNG, aber auch um Kohle, Container und Massengüter. Doch die russischen Pläne sind viel ehrgeiziger: Es geht um eine Entwicklungsstrategie, die von St. Petersburg bis Wladiwostok reicht. Diese Vision erfülle nicht nur kurzfristige Bedürfnisse, sondern
„berücksichtigt auch unsere nationalen Interessen mit einem Zeithorizont von mehreren Jahrhunderten. Wir müssen uns bei der Entwicklung des Transarktischen Korridors von diesem Ansatz leiten lassen“,
sagte Putin. Weißrussland, China, die Vereinigten Arabischen Emirate und viele andere Länder hätten bereits großes Interesse bekundet. Multimodale Hubs, wichtige Logistikzentren, neue Häfen sollen entstehen. Diese sollen zunehmend an eine zu modernisierende nördliche Eisenbahnstrecke und schließlich an das landesweite Schienennetz angebunden werden. Über den internationalen Nord-Süd-Transportkorridor wird auch eine Verbindung über den Iran bis nach Indien angestrebt.
In diesem arktischen Streifen sollen sich zunehmend Industriezentren zur Weiterverarbeitung und Veredelung von Rohstoffen ansiedeln. Produktionen mit hoher Wertschöpfung in der Petrochemie, bei Erdgas, Seltene Erden und andere für den Maschinenbau notwendige Bereiche sollen aufgebaut werden. Natürlich steht und fällt das Projekt mit der Tauglichkeit als lebenswerter Standort für die Bevölkerung. Deshalb geht der russische Präsident ausführlich auf alles ein, vom Kindergarten bis zur Notfallklinik, von Schulen bis zu Freizeitzentren, was das dauerhafte Leben und Arbeiten in der Arktis überhaupt erst attraktiver macht.
„Der Schlüssel und das übergeordnete Ziel der russischen Bemühungen ist es, die Lebensqualität der Menschen in der Arktis zu verbessern und moderne Bedingungen für Studium, Arbeit, Freizeit und Kindererziehung in dieser harschen Region zu schaffen, die nach wie vor Menschen mit großer Kraft anzieht“,
sagte Putin. Die russische Regierung hat einen Masterplan für städtisches Leben in Auftrag gegeben, und auch kleine und mittlere Unternehmen sollen angezogen werden.
Mittel- und langfristig wird sich die russische Arktis zu einer immer moderneren Lebens- und Arbeitsregion entwickeln, die vor allem verarbeitete Rohstoffe und andere Güter für den heimischen Bedarf, vor allem aber für den Export in die schnell wachsenden Regionen Asiens liefert. Der Nördliche Seeweg wird dabei unter voller souveräner Kontrolle Russlands, aber unter internationaler Eigentümerschaft stehen. Es handelt sich, wie bereits erwähnt, um ein Jahrhundertprojekt, das neben der Entwicklung anderer Regionen Russlands einen großen Teil der Kapazitäten Moskaus binden wird. Hier liegt ein Teil der wirtschaftlichen und zivilisatorischen Zukunft Russlands und Eurasiens insgesamt. Je mehr man über das Projekt des Arktischen Transportkorridors erfährt, desto mehr fragt man sich, warum Putin überhaupt militärisch in Europa einfallen sollte, wie es hierzulande jeden Tag gebetsmühlenartig wiederholt wird. Das wäre nicht nur irrational, sondern auch verheerend ruinös. Mehr Stärke kann Russland nur durch die Erschließung und den Ausbau des eigenen Territoriums erlangen. Und welches Interesse sollte es am schönen Grönland haben? Rohstoffe? Wer’s glaubt, wird selig.
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: Andrei Stepanov / shutterstock
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