Regime Change-Theater oder Revolution?
In den Großstädten Mexikos gehen Tausende auf die Straße. Sie fordern, dass die Regierung energisch gegen Drogenkartelle vorgeht. Sie bezweifeln, dass die Regierung unter Claudia Sheinbaum den nötigen Willen hat, die Organisierte Kriminalität wirklich und nachhaltig zu zerschlagen.
Ein Standpunkt von Hermann Ploppa.
Am 15. November gingen in vielen großen Städten Mexikos zumeist junge Demonstranten auf die Straße, um gegen den Terror übermächtiger Drogenbanden und gegen Korruption zu demonstrieren. Zunächst, wie so oft bei solchen Demonstrationen, verlief alles ganz friedlich.
Dann schälten sich aus der Masse der Demonstranten etwa eintausend schwarz gekleidete und maskierte Individuen heraus, die die Polizisten angriffen. Der Präsidentenpalast befindet sich am Platz der Verfassung, volkstümlich auch Zocalo genannt. Wochen zuvor ließ die Regierung eine stählerne Schutzmauer von drei Metern Höhe um den Präsidentenpalast errichten. Bei der Demonstration stürmten jetzt die Provokateure gegen diese Mauer an und versuchten in den Präsidentenpalast einzudringen. Was allerdings von der Polizei verhindert werden konnte. Die große Mehrheit der Demonstranten distanzierte sich von dieser Gewalt-Eskalation. Auf der Strecke blieben einhundert Verletzte auf Seiten der Demonstranten. Ebenfalls einhundert Polizisten wurden verletzt. Videoaufnahmen zeigen eine hilflose Polizei, die nicht einmal ihre eigenen Kollegen vor der Gewalt der Provokateure schützen kann. Zwanzig Provokateure wurden inhaftiert. Auch in weiteren Großstädten wie Guadalajara kam es massenhaften Protestkundgebungen, die weniger gewaltsam endeten.
Empörung löste die Ermordung des beliebten Oberbürgermeisters der Großstadt Uruapan, Carlos Manzo am 1. November aus, ausgerechnet in der Woche, in der die Mexikaner ihrer Toten gedenken (1). Carlos Manzo war erst vor einem Jahr als parteiloser Kandidat zum Oberbürgermeister von Uruapan gewählt worden. Wie kaum ein anderer Amtsträger in Mexiko geißelte Manzo die unangefochtene Macht der Drogenkartelle und versprach, mit äußerster Härte gegen das Organisierte Verbrechen vorzugehen. Seine stahlharte Rhetorik brachte Manzo den Ruf ein, der Nayib Bukele von Mexiko zu sein. Bukele ist der Präsident des Nachbarstaats El Salvador. Bukele ist mit militärischer Härte gegen die Drogenkartelle in seinem Land vorgegangen. Bukeles Nulltoleranzpolitik hat allerdings den Nachteil, dass die Gefängnisse von El Salvador aus allen Nähten platzen und das Bukele-Regime autoritäre Züge angenommen hat. Ob die Bürger von El Salvador durch Bukeles Krieg gegen die Drogenbanden wirklich freier geworden sind, wird sich noch zeigen. Carlos Manzo selber hat allerdings de Vergleiche mit Bukele zurückgewiesen.
Manzo wurde nun zur Galionsfigur der Protestierenden. Viele Demonstranten trugen genau so einen Strohhut wie ihn Manzo immer getragen hatte. Doch Manzo war bereits der siebte Bürgermeister in Mexiko, der von Drogenbanden ermordet wurde. Bereits vor einem Jahr wurde der Bürgermeister von Chilpancingo bestialisch ermordet. Seine Mörder hatten Alejandro Arcos Catalán enthauptet (2). Bereits im Juni letzten Jahres wurde die Bürgermeisterin von Cotija, Yolanda Sánchez Figueroa erschossen. Figueroa wollte insbesondere gegen die Verfilzung von Polizei und Drogenmafia vorgehen (3).
Damit sind wir bei einem zentralen Problem in Mexiko. Ganz Mexiko ist von einem Flickenteppich untereinander konkurrierender Drogenbanden überzogen. Man spricht schon von Kartellen. Denn diese kriminellen Organisationen sind bestens ausgerüstet mit modernster Waffentechnik. Oft sind die Narcos, wie man sie in Mexiko nennt, deutlich besser ausgestattet als ihre Kontrahenten, die örtlichen Polizeikräfte. Die Narcos nutzen sogar modernste Überwachungstechnik (4). Sie haben in Straßenlaternen Überwachungskameras eingebaut. Sie überwachen das Geschehen zudem mit Aufklärungsdrohnen. Die Narcos beschäftigen in ihrer Struktur hochqualifizierte IT-Fachleute, die sie bisweilen entführen und dann zwingen, ihr Fachwissen dem organisierten Verbrechen zur Verfügung zu stellen.
Die Polizei hat in der Region diesen Kräften wenig bis gar nichts entgegenzusetzen. Also kooperieren die meisten Polizisten über kurz oder lang mit der kriminellen Übermacht. Das Problem wird dadurch verschärft, dass die Kommandostrukturen und die Koordination innerhalb der Polizei wenig entwickelt sind. Da gibt es die Bundespolizei, die Polizei der einzelnen mexikanischen Bundesstaaten und obendrein die lokale Polizei vor Ort. Die Bundesregierung in Mexiko City hat aufgrund der Autonomie der einzelnen Bundesstaaten wenig Einfluss auf die Polizei vor Ort in der Provinz. Die Bürger in Mexiko lehnen die Zusammenarbeit mit der Polizei ab. Denn sie können ja nie wissen, ob die örtlichen Polizisten sachdienliche Hinweise der Bürger nicht an die Mafiosi weitergeben und dann die Bürger Opfer der Gewalt der Narcos werden (5). In manchen Gebieten, wo mehrheitlich indigene Völker leben, haben sich Bürgerwehren gebildet, die sowohl gegen die Polizei als auch gegen die Narcos militant vorgehen. Korrupte Polizisten entführen bisweilen sogar unbescholtene Bürger und übergeben sie der Gewalt der Mafiosi. Die Folge ist, dass annähernd zwei Drittel aller befragten Mexikaner angeben, dass sie sich auf der Straße nicht sicher fühlen (6). In Acapulco an der mexikanischen Pazifikküste trieben die lokalen Polizisten ihre Kollaboration so arg, dass nationale Streitkräfte einrückten, um die korrupten Polizisten festzunehmen (7).
Unter diesen bizarren Umständen kann sich Mexiko nur schwer entwickeln. Das Land befindet sich in einem Zustand der Lähmung. Trotzdem hat sich viel zum Positiven verändert in Mexiko. Die Gesundheitsversorgung ist effizienter geworden. In der Sozialpolitik sind unter der Präsidentschaft des außergewöhnlich beliebten vorherigen Präsidenten Andrés Manuel López Obrador, vom Volk nur AMLO genannt, erhebliche Fortschritte gemacht worden. Seine Nachfolgerin Claudia Sheinbaum führt AMLOs Politik konsequent weiter. Sheinbaum errang schnell Zustimmungswerte von achtzig Prozent. Auch jetzt noch im September befürworteten siebzig Prozent der befragten Mexikaner ihre Politik (8). Dazu trug bei, dass Frau Sheinbaum dem übermächtigen US-Präsidenten Donald Trump rhetorisch mächtig kontra gegeben hat und immer wieder auf die Souveränität Mexikos gepocht hat. In der Praxis allerdings kam Sheinbaum den meisten Forderungen Trumps nach: sie verstärkte die Präsenz mexikanischer Grenzsoldaten an der Grenze zu den USA. Sie nahm auch klaglos von Trump ausgewiesene Mexikaner entgegen.
Allerdings kann auch die Regierung unter Claudia Sheinbaum ihr Versprechen, das Organisierte Verbrechen zu bekämpfen, nur schleppend einlösen. Wie wir schon feststellten, hat die Zentralregierung nur wenig Einflussmöglichkeiten auf die Sicherheitskräfte in den untergeordneten Bundesstaaten. Zudem schreckt die Regierung verständlicherweise davor zurück, in einen offenen Bürgerkrieg einzutreten. Was Bukele in dem kleinen überschaubaren Staat El Salvador geschafft hat, lässt sich nicht eins zu eins auf das riesige und nur schwer kontrollierbare Mexiko übertragen.
Und so steht die Regierung Sheinbaum vor einem Dilemma. Von außen ist Mexiko bedroht durch die Aggressivität der Trump-Regierung. Unter dem Vorwand der Drogenbekämpfung militarisiert Trump den karibischen Raum und droht nicht nur Venezuela mit Invasion. Auch im Fall des direkten Nachbarn Mexiko schließt Trump einen militärischen Überfall nicht grundsätzlich aus (9).
Und nun droht auch eine innere Destabilisierung Mexikos. Da sind zum einen die berechtigten Forderungen der neuen Protestbewegung. Zum anderen ist aber auch ersichtlich, dass gewisse Kräfte massiv daran arbeiten, die Protestbewegung für Regime Change-Manöver zu nutzen. Netzanalysen der mexikanischen Regierung haben ergeben, dass seit etwa zwei Monaten in sogenannten Sozialen Netzen zu den bereits vorhandenen Konten von Protestbewegungen viele neue, vornehmlich im Ausland beheimatete Konten hinzugekommen sind. Von 179 TikTok-Konten sind fünfzig neue Konten hinzugekommen. Von den 359 Facebook-Konten, durch die Proteste koordiniert werden, sind 28 aus dem Ausland gesteuert (10).
Der mexikanische Besitzer eines gigantischen Mischkonzerns, Ricardo Salinas Pliego, investiert schon lange in Gegner der amtierenden Sheinbaum-Regierung. Salinas ist der drittreichste Mexikaner und verfügt über ein Privatvermögen von 13,5 Milliarden Dollar. Salinas beeinflusst mit seinem Privatsender Azteca TV die öffentliche Meinung in Mexiko in seinem Sinn. Salinas ist überzeugter Anarchokapitalist und möchte den Nationalstaat fast vollständig abschaffen. In Lobbygruppen wie dem World Economic Forum oder dem marktradikalen Atlas-Netzwerk kämpft er für die unumschränkte Macht der Oligarchen. Salinas hat eine libertäre Privatuniversität gegründet (11). Und rein zufällig gründete er gerade im letzten September eine marktradikale neue Partei, mit der er bei den nächsten nationalen Wahlen im Jahre 2030 die Regierung Sheinbaum aus dem Amt jagen will (12). Die neue synthetische Salinas-Partei hat sich rein zufällig den Kampf gegen die Korruption als oberstes Ziel vorgenommen. Ob Salinas und seine Freunde wirklich neunzig Millionen mexikanische Pesos in die aktuelle Protestbewegung investiert hat, wie die Regierung behauptet, muss noch überprüft werden.
Jedenfalls steht Mexiko vor schwierigen Herausforderungen. Ein Regime Change im Sinne solcher Multimilliardäre wie Salinas Pliego würde auch den Geostrategen in Washington sehr gelegen kommen. Wir werden sehen, ob Mexiko seine nationale Souveränität behaupten kann und ob die jungen Protestierenden begreifen, auf welch empfindlichem Minenfeld sie sich bewegen.
Quellen und Anmerkungen
(1) https://edition.cnn.com/2025/11/04/americas/mexico-protest-mayor-murder-latam-intl
(6) https://edition.cnn.com/2025/10/05/americas/claudia-sheinbaum-popularity-analysis-intl-latam
(7) https://www.spiegel.de/panorama/justiz/mexiko-militaer-entwaffnet-polizei-in-acapulco-a-1230116.html
(8) https://edition.cnn.com/2025/10/05/americas/claudia-sheinbaum-popularity-analysis-intl-latam
(9) https://www.zeit.de/politik/ausland/2025-11/mexiko-usa-donal-trump-angriff-moeglichkeit-gxe
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bild 1: Mexico City, Mexiko 25. September 2024. Claudia Sheinbaum Pardo, gewählte Präsidentin von Mexiko.
Bildquelle 1: Octavio Hoyos / shutterstock
Bild 2: Mexico City - 26. Juli 2025: Protest, dritter Marsch gegen Gentrifizierung in Mexiko-Stadt, Mexikaner fordern von der Regierung bezahlbare Wohnprojekte und die Regulierung digitaler Plattformen
Bildquelle 2: Gill_figueroa / shutterstock
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