Ein Kommentar von Dirk C. Fleck.
Der amerikanische Künstler Chris Jordan startete 2009 eine Fotoserie, die er „Midway: Message from the Gyre“ nannte. Auf einem der Bilder ist der Sterbeort und der Kadaver eines Albatros-Jungen zu sehen. Während der Kadaver auseinander fällt, tritt die Unzerstörbarkeit des Plastiktreibguts, das seinen Magen füllte, mit schreiender Deutlichkeit zu Tage.
„Plastik ist ein Indikatormaterial der Moderne,“
schreibt Gene Ray in einem bemerkenswerten Artikel, der im Rahmen der Documenta 14 (18. April - 17. September 2017) erschien.
„Chemie und Konsum, Hand in Hand. Das zuckersüß gefärbte Traummaterial entpuppt sich jedoch als vergiftetes Geschenk. Acht Prozent des geförderten Erdöls gehen in die Plastikherstellung. Ein typisches Plastikprodukt enthält eines oder mehrere von 80.000 chemischen Additiven; an alles, womit es in Kontakt kommt, gibt es Giftstoffe ab oder dunstet sie aus: Luft, Wasser, Erde, Körper. Diese Toxine, die mit Unfruchtbarkeit und zahllosen anderen Krankheiten in Verbindung gebracht werden, reichern sich im Körpergewebe an und steigen die Nahrungskette nach oben. Heutzutage kann nicht mehr angenommen werden, dass irgendein Ort der Erde noch frei von Plastik ist. Und nicht eine Person, die in Kanada, den Vereinigten Staaten oder in vielen andern Ländern untersucht worden ist, war frei von chemischen Verbindungen, die aus Plastikmaterialien stammen.“
In meinem Roman FEUER AM FUSS, der 2015 erschien, gibt es ein Kapitel, dass sich mit dieser Problematik beschäftigt. Dort sagt eine meiner Figuren, Frau Dr. Cipriana Navarrete von der Universidad Católica del Norte in Santiago de Chile, folgendes:
„Die Menschen sind auf dem besten Wege auszusterben. Nicht weil sie sich gegenseitig vernichten, das haben sie immer getan und sind doch immer mehr geworden. Nein, wir sterben aus, weil wir demnächst nicht mehr zeugungsfähig sein werden. Das ist schon einer ganzen Reihe von Tierarten passiert, unter anderem den Alligatoren, die zu den ältesten Lebewesen auf diesem Planeten gezählt haben. Bei der Frage, warum sich eine Spezies nach der anderen auf diese Weise verabschiedet, sind wir auf Vermutungen angewiesen, beim Menschen kennen wir die Ursache: Plastik. Es gibt Gegenden so groß wie Europa, in denen die Plastikkonzentration um das 40fache höher ist als die Planktonkonzentration. Und es wird noch schlimmer kommen in den nächsten Jahren, da die größeren Teile, die man theoretisch noch aus dem Wasser fischen könnte, durch die Arbeit der Sonne und des Salzes allmählich abgebaut und zu kleinen Teilchen zerfallen, die von den Meeresbewohnern aufgenommen werden und am Ende der Nahrungskette in unseren Mägen landen. Jetzt fragen Sie sich, was dies mit der wachsenden Zeugungsunfähigkeit zu tun hat, schließlich ernährt sich nur gut die Hälfte der Menschheit von den Früchten des Meeres. Richtig. Aber Plastik ist überall, in jedem Haushalt und auf jeder Müllkippe. Und überall im Plastik sind Phthalate. Sie haben sich nachhaltig in unser Leben gefressen. Und noch lange nachdem man ihre gesundheitsschädigenden Wirkungen erkannt hatte, war es der Politik nicht möglich, die PVC-Industrie in die Schranken zu verweisen, die damit einen gigantischen Reibach macht. Weichmacher gehören zu den meistverkauften Chemikalien der Welt. Dumm nur, dass Phthalate nicht in den Verpackungen bleiben, sie bleiben auch nicht im Küchengerät oder im Kinderspielzeug – Phthalate verflüchtigen sich, sie gehen sozusagen in die Luft - in unsere Atemluft.“
Die Universität Católica del Norte hatte aus eigenen Mitteln eine Studie finanziert, in der Kinder aus allen fünf Kontinenten auf Phthalate untersucht wurden. Es wurde kein einziges Kind gefunden, das nicht belastet war. Viele Kinder werden bereits im Mutterleib Opfer der Weichmacher. So wird beispielsweise die Entwicklung des Hodens gestört. Bei erwachsenen Männern sind die Testosteron-Niveaus inzwischen deutlich abgesenkt, was eine Verschlechterung der Spermaqualität zur Folge hat. Bei jungen männlichen Fischen zum Beispiel wird ein Protein gefördert, das eigentlich nur bei ausgewachsenen Fischen vorkommt und ausschließlich der Eiproduktion dient. Mit anderen Worten: die Weichmacher haben dafür gesorgt, dass die männlichen Fische verweiblichen. Und genau diese Entwicklung steht uns Menschen nun auch bevor…
Was wird das Vermächtnis der Moderne sein, was ist es bereits: eine nachhaltig zerstörte Biosphäre und eine schwindende Gemeinschaft des Lebens, ein Planet in ökologischen Trümmern. Um in diesen Trümmern zu überleben, um Orte für das Bestehen der Menschen und möglichst vieler anderer Lebewesen zu bewahren, werden andere soziale Formen entwickelt werden müssen.
„Wenn sie sich zu zeigen beginnen“, schreibt Gene Ray, „dann in lokalen Bestrebungen. Sie werden sichtbar in praktischen, an der Basis stattfindenden Umwertungen umstrittener Begriffe wie Nachhaltigkeit und Widerstandskraft, in Bewegungen für ein Recht der Erde und für radikale Demokratie, in nachhaltiger Landwirtschaft und Agrarökologie sowie in indigenen Kämpfen um Land, Würde und Nahrungssouveränität. Heute, in der Krise, in der finalen Phase der Moderne, erstaunt mich die Kraft und der Großmut der indigenen Stimmen. Kann die kritische Theorie sich öffnen, kann sie von indigenem Wissen lernen, ohne es sich einzuverleiben, ohne zu versuchen, es zu beherrschen? Könnte die Kunst ein dritter Ort sein, an dem die kritische Theorie und das indigene Wissen zusammenkommen und zu Verbündeten werden könnten?“
Gute Frage. Auch darüber habe ich in FEUER AM FUSS nachgedacht und meine Protagonistin Maeva folgendes sagen lassen:
„Es ist nicht leicht, den Steinschlägen eines kollabierenden weltweiten Wirtschaftssystems zu entkommen. Aber vermutlich braucht es diese Steinschläge, vermutlich braucht es diese Verletzungen und Härten, damit sich die Menschen wieder daran erinnern, dass ihr Leben unter der Decke der Zivilisation erstickt wird, einer Zivilisation, die keinerlei Verbindung zu den Mysterien der Schöpfung zulässt.“
Milliarden Menschen werden durch die katastrophalen Verhältnisse auf diesem Planeten gezwungen, die engen Grenzen, die ihnen das kapitalistische Giersystem auferlegt, radikal zu überdenken. Das Problem dabei ist: eine solche Bestandsaufnahme tut weh. Verstand und Intellekt beiseite zu lassen, zu akzeptieren, dass die materielle Welt, so wie sie wahrgenommen wird, eine Illusion, ein Betrug ist, tut weh. Es gibt nur eine Gemeinschaft und sie lebt und stirbt als Einheit. Jedes Übel, das wir der natürlichen Welt zufügen, verschlechtert die menschliche Welt. Mit jeder Kultur, die der unersättlichen Lebensweise der Zivilisation zum Opfer fällt, werden die Träume ihrer Angehörigen ausgelöscht.
„Also müssen wir Orte der Zuflucht schaffen,“ sagt Maeva in meinem Roman, „Orte, die frei sind von Schrecken und Ausbeutung, Orte, in denen wir heilende und nährende Beziehungen entwickeln können – zu den Tieren und Pflanzen, zu unserem Land, zu den Sternen, zur Kunst, zu unseren Mitmenschen und nicht zuletzt zu uns selbst. Die Orte in uns selbst, die wir geschützt halten vor Schrecken und Angst, können uns daran erinnern, was es heißt, Mensch zu sein… Die Tragödie der Menschheit besteht darin, dass sie anstelle des Urvertrauens den Aberglauben an die Wissenschaft gesetzt hat. Die Wissenschaft begreift das Leben als Versuchskaninchen, dem man seine Geheimnisse auf dem Seziertisch entreißt. Das ist dumm und anmaßend. Sie können noch so tief in den Mikro- oder Makrokosmos steigen, sie können die Dinge in Zahlen fassen oder ihnen Namen geben, dem göttlichen Mysterium kommen sie damit nicht auf die Spur. Es sind nur Zahlen und Namen, es sind nur Etiketten. Etiketten sind keine Weisheiten, Etiketten haben keine Seele. Und sie berauben uns der Ehrfurcht. Ein ehrfürchtiger Mensch akzeptiert den Zusammenhalt materieller und nichtmaterieller Existenz, er weiß, dass sich das Mysterium des Lebens niemals zu Wissen reduzieren lässt.“
Ich verstehe, dass manche Leute die Verantwortlichen brutal zur Rechenschaft ziehen wollen. Das Problem ist nur, dass man den schleichenden Ökozid nicht an einzelnen Personen festmachen kann. Es ist das System, an dem man sie festmachen muss. Die globale Machtelite ist in diesem System gefangen, und in diesem System ist jede Person austauschbar - das nämlich ist das System! Das System ist eine Hydra, deren Köpfe man nur um den Preis abschlägt, dass in „besserer“ Qualität nachwächst, was man eigentlich bekämpfen wollte. Personen werden gnadenlos ersetzt, wenn sie nicht der Spur des Geldes folgen, wenn sie sich nicht dem Gesetz der maximalen Gewinnmaximierung unterwerfen.
„Auf diese Weise,“ so Maeva, „habt Ihr euch wie ein Heuschreckenschwarm durch die Wirtschaft armer Länder gefressen, eure marodierenden Multis haben sich die Luft angeeignet, die wir einatmen, die Erde, auf der wir stehen, das Wasser, das wir trinken, ja sogar unsere Gedanken. Und was war der Grund dafür? Angst! Aus Angst davor, in einer gesunden Gesellschaft nicht lebensfähig zu sein, habt ihr Psychopathen sie krank gemacht, flach, zweidimensional. Die kulturellen Wurzeln der Menschen wurden von Euch wie Unkraut gekappt. Aber jetzt beginnt euer System zu faulen, und es dauert nicht mehr lange, dann wird es implodieren. Die Vollstrecker des Gier-Systems aber drehen die Schraube bis zum Anschlag. Sie sind Schlafwandler des Todes, sie haben von Tuten und Blasen keine Ahnung mehr. Bewusstsein ist keine Frage des Lernens, es ist eine Frage des Verlernens geworden. Nur so erlangen wir Vertrauen, nur so werden wir frei von Angst. Mein sehnlichster Wunsch ist es, dass wir ein Verbund von Angstfreien werden, denn anders geht es nicht, wenn der Mut nicht sinken soll.“
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Dirk C. Fleck ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er wurde zweimal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Sein Roman "Go! Die Ökodiktatur" ist eine beklemmend dystoptische Zukunftsvision.
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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: faithie / shutterstock.com
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