
“Die Lyrische Beobachtungsstelle” von Paul Clemente.
Wer eine frühere Dracula-Verfilmung gesehen hat, dem fiel vielleicht auf: Der alte Graf besitzt eine riesige Schlossbibliothek. Und mancher fragt vielleicht: Was für Bücher stehen dort? Was mag ein Untoter lesen? Tatsächlich wurde ein Buch genannt. Aber nicht in Bram Stokers „Dracula“-Roman, sondern in der Fortsetzung „Gräfin Dracula“ - verfasst von der Jungautorin Carol Borland während der frühen Dreißiger Jahre. Borland hatte die Geschichte in ihre Gegenwart verlegt. So konnte ein Besucher in Draculas Bibliothek den Roman „Im Westen nichts Neues“ finden. Ja, richtig, den Remarque-Klassiker von 1928. Hat sich Dracula anscheinend direkt nach Erscheinen gekauft. Natürlich leuchtet diese Lektüre ein: Denn wo fließt mehr Blut als im Krieg? Das Schlachtfeld als Vampir-Paradies: Löscht den ganz großen Durst. Mehr noch: Dracula müsste bei der Lektüre vor Neid erblasst sein: Im Vergleich zu kriegsführenden Politikern ist sein Blutkonsum lachhaft gering. - Eine ähnliche Gleichung präsentierte der französische Regisseur Jean-Luc Godard: Zu dem Film „Deutschland im Jahre Null“, der Berlin anno 1947 als Trümmerwüste zeigt, assoziierte er: „Berlin, das ist Draculas Grab.“ Ja, hatten die Monster im Reichstag nicht millionenfach Blut fließen lassen? In nicht mehr messbarer Menge?
Aber bleiben wir bei Remarques Roman: Der wurde vor drei Jahren neu verfilmt. Das dritte mal. Gestartet wurde er im Herbst 2022. Wenige Monate, nachdem Großbritannien den ukrainischen Präsidenten Selensky beschwatzt hatte, Friedensverhandlungen mit Russland abzulehnen. Lieber den Krieg ausfechten. Natürlich mit westlichem Support. Der Beginn eines langen Blutvergießens. Auch Propaganda-Medien schwenkten voll auf Kriegskurs. Da kam „Im Westen nichts Neues“ in die Kinos. Jetzt hatten die Kulturjournalisten ein Problem: Den gelungenen Anti-Kriegsfilm loben - ohne die Konfrontationspolitik abzuwatschen – wie geht das? Da gab’s nur eins: Man verzichtete auf Bezugnahmen zur Gegenwart. Gesagt, getan. Nur der Kritiker von NTV sprach Klartext: Remarques Friedensbotschaft sei zwar wichtig, aber bei einem Angriffskrieg durch böse Russen gebe es nur militärische Auswege.
Zwei Jahre später, im Frühjahr 2025, ist der Russland-Ukraine-Krieg noch immer nicht beendet. In Deutschland gab es derweil Regierungswechsel: Ein spindeldürrer Black-Rocker ist an der Macht. Ein Finanz-Nosferatu. Der will durchsetzen, wo sein Vorgänger Olaf Scholz noch zögerte: Die Lieferung von Taurus-Raketen in die Ukraine. Russische Gegenschläge oder dritter Weltkrieg? Werden locker riskiert. Aufrüstung ist angesagt, nach außen wie nach innen. Und ausgerechnet jetzt starten in Berlin zwei Ausstellungen über Yoko Ono. Im Gropius-Bau und in der Neuen Nationalgalerie. Und wieder stehen Mainstream-Kritiker vor dem Problem: Die Hardcore-Pazifistin Ono abfeiern und gleichzeitig den bellizistischen Regierungskurs beklatschen? Sie lösen es diesmal, in dem sie Kriege per se verurteilen, aber die aktuellen Brandherde nur kurz oder gar nicht erwähnen.
Bevor wir die Ausstellung besprechen, ein paar Kurzinfos zu Frau Ono: Das hartnäckige Gerücht, lediglich die Heirat mit Ex-Beatle John Lennon habe ihr zum künstlerischem Durchbruch verholfen, ist falsch. Schon Jahre zuvor hatte die Philosophie-Studentin mit Szene-Stars wie dem Avantgarde-Musiker John Cage gearbeitet. Ausschlaggebend für ihren Pazifismus war ein Kindheitstrauma: 1945 bombardierten US-Flieger ihre Heimatstadt Tokio. Die zwölfjährige Yoko wurde aufs Land verfrachtet. Natürlich erfuhr sie von Hiroshima. Ein Schrecken, der in den Sechzigern wieder hochkam. Das TV zeigte Bilder vom Vietnamkrieg: Massaker und Napalmbomben. Yoko Ono wurde klar: Das ist kein Krieg. Da wird ausgerottet. Die US-Armeen, nach 1945 gefeiert, entpuppten sich als Bad Boys. Onos früher Film „Match“ zeigt in Nahaufnahme das Zünden eines Streichholzes. Gefilmt mit 2000 Bildern pro Sekunde. Vorgeführt in 24 Bildern pro Sekunde, also in extremer Zeitlupe: Die Entflammung des Schwefels erscheint wie die Explosion einer Bombe.
Das Gros von Onos Werk gehört zur Konzept-Art. Nicht das Resultat, nicht das Werk, sondern Idee und Entstehungsprozess zählen. Vom Publikum fordert sie Mitmachen, eine Beteiligung am Prozess. Ono betont das spielerische, spricht das Kind im Besucher an. Ihre frühen Bilder bestehen aus japanischen Schriftzeichen, die eine Anweisung geben. Appelle, wie Werbeslogans, aber ohne kommerzielle Interessen: Beispielweise werden Besucher aufgefordert, einen Nagel in eine Glasscherbe zu schlagen, die einzelnen Splitter aufzusammeln und an willkürlich ausgewählte Adressen zu schicken. Eine der Installation besteht aus einem Schachbrett und mehreren Stühlen. Kleine Partie gefälligst? Allerdings gibt es keine schwarzen Figuren. Alle sind weiß. Die eigenen und die des Gegners. Nicht zu unterscheiden. Der Kampf, der Krieg ist damit beendet.
Onos Glauben an die Kraft des Einzelnen bezeugt vor allem ein Plakat. Das prangte 1968 in zwölf Großstäften. Aufschrift: „War ist over“ Darunter, in kleinen Buchstaben: „If you want it.“ Und noch kleiner: „Love and Peace by John & Yoko“. Die bekannteste Co-Produktion der Japanerin mit dem Ex-Beatle war die Presse-Konferenz in einem Amsterdamer Luxushotel. Eine Demonstration ihrer Make-Love-not-War-Philosophie: Ono und Lennon liegen tagelang auf Matratzen, mit Drogen vollgepumpt, und sprechen über Frieden. Noch mehr anti-militärischer Habitus ging nicht. Diese Präsentation hatte Durchschlagkraft, weil Sex und Drogen das Bürgertum in Schrecken versetzte. Das funktioniert freilich anno 2025 nicht mehr. Im Gegenteil: Inzwischen haben zahlreiche Ex-68er, Kommunarden oder Hippies die Macht erobert und für Krieg, Sozialabbau und Überwachung gesorgt. Die Generation der Schröders, Fischers oder Steinmeiers. Deren Motto: Make Love AND War.
Auch Onos berühmte „Cut Peace“- Performance hat inzwischen ihren Biss verloren. Die Erstaufführung fand 1964 in Japan statt: Die Künstlerin saß auf der Bühne, neben ihr lag eine Schere. Das Publikum wurde aufgefordert, nach vorne zu kommen und ein Stück von Yoko Onos Kleidung abzuschneiden. So lange, bis sie komplett nackt wäre. Zunächst schlichen vereinzelte Zuschauer hervor. Sehr vorsichtig. Mancher sogar ängstlich. Man schien sich zu schämen. Aber Ono blieb reglos. Konsequent. Keine Bewegung. Kein Satz. Bald schon verflogen Angst und Vorsicht. Gierig riss und zerrte das Publikum an der Reglosen. Ein Kampf. Ein Geschlechterkrieg. Ein Vampirismus… Einundsechzig Jahre später, im Mai 2025, wiederholte US-Sängerin Peaches diese Performance im Gropius-Bau. Resultat: Party-People stürmten die Bühne, setzten der stillsitzenden Performerin einen Kopfhörer auf, lachten, furzten laut, rissen die Show an sich. Die spießige Rezensentin der Süddeutschen Zeitung schäumte vor Wut.
Nein, der Gegenwart braucht man das animalische Erbe, das Destruktive, die Gier nicht mehr zu enttarnen. Sie weiß davon. Ihr Kunststück ist jedoch: Dieses Wissen in der Realpolitik abzuspalten, Vorwände zu kreieren, irgendeine „Wertegemeinschaft“ zu beschwören. Deshalb sind weder „Im Westen nichts Neues“ noch Yoko Ono-Ausstellungen, weder Schock-Bilder noch Performance-Spiele eine Gefahr für moderne Kriegspolitik.
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: Bill Images/ shutterstock
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