
Ein Standpunkt von Stephan Ossenkopp.
Das Baisaran-Tal mit seinen herrlichen Wanderwegen, Seen und wilden Bächen, umrahmt von einer malerischen Bergkulisse, galt bisher als äußerst beliebtes Ausflugsziel im indischen Teil der Region Kaschmir. Doch diese Idylle wurde auf grausame Weise zerstört, als Terroristen am 22. April in der Nähe des Ortes Pahalgam mindestens 25 überwiegend indische Ausflügler und Ortsansässige ermordeten. Zu dem Anschlag bekannte sich eine Gruppe namens The Resistance Front, die sich als Ableger der mit dem IS verbundenen Terrororganisation Lashkar-e-Taiba-a-Pakistan bezeichnet. Die indische Regierung machte umgehend die pakistanische Regierung für die Gräueltat verantwortlich. Diese dementierte umgehend. Doch seitdem hat sich die Lage derart zugespitzt, dass selbst eine heiße militärische Konfrontation zwischen den beiden südasiatischen Nachbarstaaten – die beide über Atomwaffen verfügen – nicht ausgeschlossen werden kann. Neu-Delhi ordnete die Schließung eines Grenzübergangs an, reduzierte seine diplomatische Präsenz in Islamabad und führte Visabeschränkungen ein. Ausgangssperren und Internetsperren folgten.
Für einige große indische Tageszeitungen stand einzig fest, dass die Terroristen von Pakistan aus nach Kaschmir eingedrungen seien. Die näheren Umstände blieben unklar und mögliche erste Untersuchungsergebnisse wurden nicht abgewartet. Jüngste Berichte zeigten Übungen der indischen Marine mit Überschallraketen. Gleichzeitig hielt der indische Premierminister Narendra Modi eine Rede, in der er den Tätern die schlimmste Strafe androhte und Pakistan als Unterstützer des Terrorismus bezeichnete. Die Spannungen an der sogenannten Line of Control, der undefinierten Grenze zwischen Pakistan und Indien, nahmen zu und belasten den im Jahr 2021 ausgehandelten Waffenstillstand. Von verschiedenen Seiten kamen seither Beileidsbekundungen und Aufrufe zur Mäßigung. Zuletzt telefonierte der iranische Präsident Pezeshkian sowohl mit Modi als auch mit dem pakistanischen Premierminister Shehbaz Sharif. Pezeshkian bot seine Hilfe an, um Missverständnisse zwischen den beiden Ländern auszuräumen. Er verwies auf das Erbe der großen indischen Friedensführer Gandhi und Nehru und deren Botschaft der Völkerfreundschaft und friedlichen Koexistenz.
Der chinesische Außenminister Wang Yi sprach sich in einem Telefonat mit seinem pakistanischen Amtskollegen Mohammad Dar für eine sofortige und unparteiische Untersuchung des Vorfalls aus und hoffte, dass beide Seiten Zurückhaltung üben, aufeinander zugehen und zusammenarbeiten würden, um die Spannungen abzubauen. Pakistans Premierminister Sharif hatte eine neutrale, transparente und glaubwürdige Untersuchung gefordert. In Richtung Indien sagte er, die ständigen Schuldzuweisungen müssten ein für alle Mal aufhören. Die pakistanische Presse reagierte ihrerseits mit Vorwürfen an die Adresse Indiens, warum es trotz der Präsenz von 7000 Mann starken Sicherheitskräften in der Region vor dem Anschlag keine Anzeichen für ein solches Attentat gegeben habe. Das gesamte Gebiet Kaschmirs hat allerdings eine Fläche von etwas mehr als 100.000 km² und ist damit etwas kleiner als Bulgarien. Indien und Pakistan stehen sich auf einer 740 km langen Frontlinie gegenüber. Das gesamte Gebiet ist gebirgig und unübersichtlich, so dass Infiltrationen unbemerkt möglich sind.
Besonders alarmierend war die reflexartige Entscheidung Indiens, das Indus-Wasserabkommen auszusetzen, das seit 1960 die gemeinsame Nutzung des Wassers aus den sechs Quellflüssen des Indus regelt. Dies geschah nicht einmal während der dramatischen Ereignisse im Jahr 2019, als 40 indische Soldaten bei einem Anschlag ums Leben kamen und die indische Armee sogar militärische Operationen auf pakistanischem Gebiet durchführte. Die drei Quellflüsse, die Pakistan rechtlich zustehen, bewässern mehr als 16 Millionen Hektar Ackerland, das sind bis zu 80 Prozent der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche Pakistans. Pakistanische Bauern aus der Provinz Sindh, wo der Indus nahe der Stadt Karatschi in das Arabische Meer mündet, sagten der Nachrichtenagentur Reuters, dass sich ihr Gebiet in eine Wüste verwandeln würde, sollte Indien den Wasserfluss stoppen. Die Äußerung des pakistanischen Eisenbahnministers Hanif Abbasi, Pakistan könne auf die ‚Wasserwaffe‘ mit dem Einsatz von Atomwaffen reagieren, sorgte für Aufsehen. Obwohl Indien nicht über die Kapazitäten verfügt, den Wasserhahn komplett abzudrehen, würde eine Aussetzung des Vertrages Indien dazu antreiben, weitere Dämme und andere Infrastruktureinrichtungen zu bauen, um sein Ziel der Kontrolle zu erreichen. Dies ist für Islamabad eine absolute rote Linie.
Die bisher wichtigste Einschätzung der Situation und ihrer Hintergründe stammt jedoch vom pakistanischen Verteidigungsminister Khwaja Asif. Auf die etwas harsche Frage einer Redakteurin des britischen Senders Sky News, „Sie geben doch zu, dass Pakistan eine lange Geschichte der Unterstützung, Tarnung, Ausbildung und Finanzierung dieser Terrororganisationen hat“, antwortete der Minister:
„Nun, wir haben die Drecksarbeit für die USA drei Jahrzehnte lang gemacht, wissen Sie, und für den Westen, einschließlich Großbritannien.“ Asif fügte hinzu: "Das war ein Fehler, und wir haben den Preis dafür bezahlt, und deshalb reden Sie so mit mir."
Dass der Westen eine makabre Genugtuung über die Dynamik des Teilens und Herrschens zwischen Pakistan und Indien empfindet, zeigt eine Analyse des wohl einflussreichsten Think Tanks, des in London ansässigen Royal Institute of International Affairs, kurz Chatham House. Unter der Überschrift “Der Angriff in Kaschmir wird die Feindseligkeiten zwischen Indien und Pakistan erneuern“ schrieb der Senior Research Fellow for South Asia, Chietigj Bajpaee, dass alle Fortschritte und Annäherungsbemühungen der letzten Jahre durch die jüngsten Angriffe entgleist seien. Eine Lösung hatte Bajpaee natürlich nicht parat.
Der pakistanische Verteidigungsminister Asif hat auf seine Weise in die richtige Richtung gezeigt. Denn keines der jüngsten Ereignisse ist ohne die Rolle des Westens, insbesondere der USA in den letzten Jahrzehnten, auch nur ansatzweise zu verstehen. Unter pakistanischen Experten ist es ein offenes Geheimnis, wie sich Pakistan in Bushs Krieg gegen den Terror nach dem 11. September 2001 zu einem Frontstaat im Stellvertreterkrieg der Angloamerikaner instrumentalisieren ließ. Im Grunde geht er sogar schon auf die Operation Cyclone im Sommer 1979 unter US-Präsident Jimmy Carter und seinem Sicherheitsberater Zbigniew Brzezinski zurück. Aus 43 Ländern wurden zwischen 100.000 und 500.000 Mudschaheddin nach Afghanistan und Pakistan mobilisiert, um gegen die UdSSR zu kämpfen, die in Afghanistan einmarschiert war. Der amerikanische Geheimdienst CIA und der pakistanische Geheimdienst ISI, mit finanzieller Unterstützung Saudi-Arabiens, besiegten die sowjetischen Truppen in Afghanistan. Danach zogen sich die USA zurück und ebneten damit den Weg für den afghanischen Bürgerkrieg und die erste Taliban-Regierung in Kabul.
Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 kehrten die USA zurück und änderten kurzerhand die Ausrichtung des Krieges. Pakistan wurde wieder zum Stellvertreter der USA und bekämpfte nun plötzlich die früheren Helden im Kampf gegen die UdSSR als Schurken und feindliche Dschihadisten. Doch Pakistan hatte nun Feinde im Innern, nämlich starke islamistische Milizen, von denen die Tehrik-Taliban-Pakistan zu den mächtigsten gehörte und fortan den Staat bekämpfte. Laut einer pakistanischen Sicherheitsdatenbank ereigneten sich 84% aller Terroranschläge, das sind über 9650, nach dem Beitritt des Landes zum Krieg gegen den Terror. Seit 2001 starben fast 60.000 Menschen, darunter die ehemalige Premierministerin Benazir Bhutto im Jahr 2007. Angegriffen wurden nicht nur militärische, sondern auch zivile staatliche Einrichtungen wie Strafverfolgungsbehörden, soziale Einrichtungen, Polizei und religiöse Organisationen, Parteien, Medien und Journalisten. Die US-Drohnenangriffe unter Präsident Obama auf terroristische Ziele, bei denen zahlreiche Zivilisten als ‚Kollateralschäden‘ ums Leben kamen, verschärften die Situation zusätzlich. In der Folge erhielten militante Gruppen immer mehr Zulauf.
Man kann also sagen, dass Pakistan noch immer unter dem schweren Erbe der Drecksarbeit für die westlichen Machteliten leidet. Inzwischen ist Pakistan eine Allianz mit Chinas Neuer Seidenstraße eingegangen und baut mit chinesischen Investitionen von über 60 Milliarden US-Dollar Kraftwerke, Hafeninfrastruktur und Transportwege. Gleichzeitig ist Pakistan im Rahmen der Shanghai Cooperation Organisation ein gleichrangiger Partner Indiens für Entwicklung und Sicherheit in der Region. Der Terroranschlag von Pahalgam und die massiven Reaktionen darauf haben das fragile Fundament der bilateralen Beziehungen deutlich erschüttert.
Ein Innehalten und Nachdenken über den Missbrauch der gesamten Region für geopolitische Konflikte und Täuschungsmanöver ist unerlässlich. Irgendjemand hat ein Interesse daran, den Brand zu schüren und Öl ins Feuer zu gießen. Könnte es sein, dass jetzt, wo der Ukraine-Konflikt beendet und der Iran-Krieg verhindert werden könnte, neue Brandherde nötig sind, die von Geheimdiensten befeuert werden? Denn eine Welt, in der Wandel durch Annäherung und friedliche Koexistenz durch gemeinsame Entwicklung Raum gewinnen, liegt nicht im Interesse jener Kreise, deren Profite auf der Existenz von Konflikten und Unsicherheit beruhen. Nur eine Sicherheitsordnung, die die Interessen aller Länder der Region berücksichtigt, kann dauerhaft zu Stabilität führen – bevor die Lage völlig außer Kontrolle zu geraten droht.
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bild: Schachfiguren mit den Flaggen Pakistans und Indiens
Bildquelle: sameer madhukar chogale / shutterstock
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