Artikel

Kursker Déjà-vu

Kursker Déjà-vu


Ein Meinungsbreitrag von Hans-Jürgen Mülln.

Zum Antikriegstag am 1. September 2024

Das deutsche Militär als ewiges Raubtier hält es mit Prädatoren, wenn es um die Bezeichnung seiner Panzer geht: Nannte die faschistische Wehrmacht die ihren „Tiger“ und „Panther“, so ihre Nachfolgerin, die Bundeswehr, in guter Nazi-Tradition stehend, „Leopard“ und „Marder“. „Tiger“ und „Panther“ waren im Sommer 1943 rund um Kursk im Einsatz; im Sommer 2024 sind es die Schützenpanzer „Marder“ gewesen, die versucht haben, im Gebiet um Kursk weiter vorzudringen. Russische Aufnahmen zeigen sie klar und deutlich von oben, bevor die Drohnen die gepanzerten Eindringlinge samt Besatzungen vernichten[1].

Trotz meiner skeptischen Grundeinstellung hätte ich es vor einigen Jahren nicht für möglich gehalten, dass deutsche Panzer – nach allem, was war – auf russischem Territorium erneut auf Kursk vorrücken könnten. Egal, wer in den gepanzerten Särgen sitzt. Nichts scheint aber mehr unmöglich zu sein. Für mich persönlich ist es aufgrund meiner Biographie (siehe unten) erschütternd, dies noch erleben zu müssen.

Natürlich sind diese erneuten Kämpfe um Kursk eine Karikatur der Schlacht von 1943[2] ganz im Sinne von Marx, der 1852 seinen Aufsatz „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ mit den berühmt gewordenen Sätzen eröffnete: „Hegel bemerkt irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“[3] Die Farce sollte aber nicht als lächerliche Petitesse fehlinterpretiert werden. Sie könnte Folgen haben, die die fürchterliche Schlacht von 1943 weit in den Schatten stellen würden.

Historische Verantwortung ist nicht die Sache der heutigen bürgerlichen Politiker-Kaste in Deutschland. Es werden dem Kiewer Nazi-Regime offenbar nicht einmal mehr Grenzen in Bezug auf den Einsatz der deutschen Waffensysteme gesetzt. Für deutsche grundgesetzwidrig handelnde Politiker wie den Parteikarrieristen Marcus Faber von der FDP, der seit Juni als Nachfolger von Strack-Zimmermann dem Verteidigungsausschuss des Bundestages vorsteht, kein Problem, „wenn die Ukraine von Deutschland gelieferte Waffen wie den Kampfpanzer Leopard 2 für den Vorstoß auf russisches Gebiet nutzt“[4].

Kriegsminister Pistorius und Konsorten sind bereits in die Fußstapfen der Nazi-Schlächter getreten. Pistorius ist Jahrgang 1960, also gehört er nicht zur jüngeren Generation, die glaubt, wirklicher Krieg sei ein Computerspiel, wenn er fordert, die Deutschen müssten wieder „kriegsbereit“ und „kriegstauglich“ werden. Er kann sich nicht herausreden, von nichts gewusst zu haben, wenn er dereinst aufgrund seiner lebensgefährlichen Politik zur Verantwortung gezogen werden sollte. Ich bin Jahrgang 1955, bin also am vergangenen Geschehen mindestens noch genauso nah dran wie er. Und habe keine Gedächtnislücken.

Mein Vater und sein Bruder waren dabei und kämpften im Sommer 1943 rund um Kursk. Deshalb mein Déjà-vu-Erlebnis. Beide als Soldaten der Waffen-SS. Sie überlebten. Die Durchsicht zahlloser zeitgenössischer Fotos von der Schlacht und Erzählungen von Teilnehmern haben mich vor Jahren veranlasst zu versuchen, das Schlachtgeschehen in wenigen Absätzen, in hochkomprimierter Form zu beschreiben. Der zustande gekommene Text bildet ein Kapitel in meinem 2017 erschienenen Buch „Zerrissen im Land der Dichter und Henker“[5]. Anlässlich des Antikriegstages am 1. September zitiere ich diese Passage nun leicht modifiziert, um zu zeigen, dass Krieg kein Computerspiel ist und die Geschichtsvergessenheit der herrschenden deutschen Politiker uns in den Abgrund führen wird, wenn sie nicht gestoppt werden:

Schlachtfest am Kursker Bogen vom 5. bis 12. Juli 1943. Ziel: die „Begradigung“ des als „Bogen“ bezeichneten Frontvorsprungs westlich von Kursk. Das berühmt-berüchtigte Gemetzel war die letzte Großoffensive der deutschen Wehrmacht im Osten oder besser: nach dem Desaster von Stalingrad der letzte Versuch einer Großoffensive. Während der „Operation Zitadelle“, so der Deckname, fand die größte Panzerschlacht in der Geschichte statt. Insgesamt mehr als zwei Millionen deutsche und sowjetische Soldaten sowie über 6000 Panzer prallten aufeinander und führten einen erbitterten Abnutzungskrieg, aus dem keiner als wirklicher Sieger hervorging. Trotzdem der endgültige Wendepunkt! Endlich! Die Verluste an Material und Menschen waren für die Deutschen einfach zu hoch. Nicht zu ersetzen. Danach ging es für die teutonischen Eroberer nur noch rückwärts. Fortan tanzten sie nach der Musik, die die Stalinorgeln ihnen vorgaben. 

Mein Vater, wenige Monate zuvor erst 18 Jahre alt geworden und in seinem zweiten Einsatz nach der Rückeroberung von Charkow, und sein fünf Jahre älterer Bruder befanden sich beide als Panzergrenadiere der 1. SS-Panzerdivision „Leibstandarte Adolf Hitler“ im Zentrum des Infernos in den Hügeln von Prochorowka an vorderster Front, mittendrin im Massaker. Als der Tag zur Nacht wurde, in der Sommerhitze dem zurückschlagenden „Iwan“ entgegen, dem sogenannten bolschewistisch-russischen Untermenschen, der auf sie bereits wartete, in drei hintereinander liegenden Reihen eingegraben, um jeden Meter Boden ringend. Unterstützt von doppelt und dreifach aufgestellten unüberwindlich scheinenden Stahlwänden aus wendigen T34, bereiteten sie ihren Panzern das Feld, konzentriert aufs Töten und Nicht-getötet-Werden, vollgepumpt mit Adrenalin, das chaotische Drumherum nur en passant wahrnehmend. 

Den Lärm: Jus 87 im heulenden Sturzflug über der weitläufigen Steppe. Granatenhagel in der Luft über den eingezogenen Köpfen, das kreischende Klappern und unerbittliche Rasseln der Panzerketten, Geschützdonner der mächtigen Tanks aus voller Fahrt, Einschläge, Explosionen ringsum, umherfliegende Geschütztürme. Schnell, schnell unter dem Blutregen hindurch! Weiter, durch vermintes Gelände, Körperteile fliegen entgegen, harte, schnell hämmernde Feuerstöße aus unzähligen Maschinengewehren, gnadenlos, Gezische der Kugeln, unberechenbar umherfliegend, Schmerzensschreie und Geröchel all überall im Kampf Mann gegen Mann. 

Die Gerüche: Eine Mischung aus schwarzem Rauch, der sich von den hoch aufgewirbelten Staubfahnen deutlich abhob und in Säulen nach oben stieg, Pulverdampf, heiß gelaufenem Metall, ausgelaufenem Öl, kokelndem Steppengras, brennenden Getreidefeldern, gerösteten Körpern in voller Krümmung aus geknackten, glühenden Panzern hängend oder steil aufragend. Aus geronnenem Blut, herausgeplatztem, freiliegendem Gekröse, noch dampfend warm, ausgelaufener Pisse, aus dem Darm gepresster Scheiße, Erbrochenem. 

Im Vorwärtsdrang über menschliche Reste stolpernd, abgerissene Glieder, Körper von Panzerketten in Hackfleisch verwandelt, vorbei an gespaltenen roten Schädeln. Zwischen den sanften Hügeln rauf und runter hetzen, dann wieder kriechen, schießen, Granaten werfen, Haftminen am Panzerstahl platzieren, zustechen. Als „Mordskerle“ das ganze Elend völlig ausblendend, abgestumpft vom täglichen Grauen. Und doch kämpften sie nicht jede Sekunde auch gegen die eigene Todesangst? 

Die schreckliche Bilanz: In nur acht Tagen verreckten sage und schreibe 240.000 Menschen im russisch-ukrainischen Grenzgebiet – geschätzte 60.000 deutsche und 177.000 sowjetische Soldaten. Wie viele davon gingen auf dein Konto, Vater? 

Ihr dagegen – du und dein Bruder – überlebtet dieses Grauen physisch. Psychisch sicherlich nicht.

 

Quellen und Anmerkungen

[1] Russland: Deutsche Panzer an Gefechten in Kursk beteiligt, morgenpost.de, 8. August 2024 (https://www.morgenpost.de/politik/article406973424/russland-deutsche-panzer-an-gefechten-in-kursk-beteiligt.html).

Dazu auch: https://de.rt.com/international/214996-kursk-marder-gesichtet-marder-bekaempft/ [2] Der geopolitische Analyst Pepe Escobar schätzt, „dass mindestens 12.000 Angehörige der ukrainischen Streitkräfte (UAF) in Kursk eingedrungen sind, darunter viele Ausländer (Briten, Franzosen, Polen)“. Zit. nach: Pepe Escobar, Was geschah wirklich in Kursk?, uncutnews.ch, 19. August 2024 (https://uncutnews.ch/was-geschah-wirklich-in-kursk/). [3] Karl Marx, Friedrich Engels, Werke (MEW), Band 8, Berlin 1975, S. 115. [4] Russland: Deutsche Panzer an Gefechten in Kursk beteiligt, a.a.O. [5] Hans-Jürgen Mülln, Zerrissen im Land der Dichter und Henker, Berlin 2017, S. 120-122. +++ Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags. +++ Bildquelle: fernandeztokan / shutterstock


+++
Ihnen gefällt unser Programm? Machen wir uns gemeinsam im Rahmen einer "digitalen finanziellen Selbstverteidigung" unabhängig vom Bankensystem und unterstützen Sie uns bitte mit Bitcoin: https://apolut.net/unterstuetzen#bitcoinzahlung

Informationen zu weiteren Unterstützungsmöglichkeiten finden Sie hier: https://apolut.net/unterstuetzen/

+++
Bitte empfehlen Sie uns weiter und teilen Sie gerne unsere Inhalte in den Sozialen Medien. Sie haben hiermit unser Einverständnis, unsere Beiträge in Ihren eigenen Kanälen auf Social-Media- und Video-Plattformen zu teilen bzw. hochzuladen und zu veröffentlichen.

+++
Abonnieren Sie jetzt den apolut-Newsletter: https://apolut.net/newsletter/

+++
Unterstützung für apolut kann auch als Kleidung getragen werden! Hier der Link zu unserem Fan-Shop: https://harlekinshop.com/pages/apolut

Abnutzungskrieg Antikriegstag frieden Geschichtsvergessenheit Hans-Jürgen Mülln krieg Kursk panzer