Das Interview führte Ullrich Mies.
Für die deutsche Regierung begann mit der russischen Militäroperation in der Ukraine vom 24. Februar 2022 eine „Zeitenwende“. Offensichtlich haben sich die europäischen Regierungen und der mediale Komplex auf dieses Narrativ geeinigt, um die lange Vorgeschichte des Konflikts zu vertuschen. Könnten Sie aus russischer Sicht kurz die wichtigsten Faktoren benennen, die zur Militärintervention führten?
Die heutige Krise hat ihren Ursprung Ende 2013. Damals verschob der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch die Unterzeichnung des Assoziierungsabkommens mit der EU, um die Folgen eines solchen Schrittes ausführlicher zu analysieren. Umgehend wurden im Land Unruhen, der sogenannte Maidan, ausgelöst, die unter dem aktiven politischen und finanziellen Beistand des Westens erfolgten. Im Februar 2014 unterzeichnete Janukowitsch unter Vermittlung Deutschlands, Frankreichs und Polens eine Vereinbarung mit den Anführern der ukrainischen Opposition, in der es de facto um eine friedliche Machtübergabe ging. Allerdings wurde buchstäblich einen Tag später ein bewaffneter Staatsstreich im Land durchgeführt. Unter stillschweigender Billigung des Westens sind nationalistische Kräfte an die Macht gekommen, die angefangen haben, politische Gegner zu verfolgen, Parlamentsparteien zu verbieten und einen Kurs verkündet haben, der sich gegen alles richtete, was auf die eine oder andere Weise mit Russland verbunden ist. Folglich wurde unter dem Regime von Pjotr Poroschenko der in der Verfassung verankerte neutrale Status der Ukraine durch die Möglichkeit eines NATO-Beitritts ersetzt.
Die Krim und der Donbass weigerten sich, die Diktatur der Putschisten anzuerkennen. Die Bevölkerung der Krim stimmte für den Austritt der Krim aus der Ukraine und für die Wiedervereinigung mit Russland. Im Donbass entfachte sich ein bewaffneter Konflikt, dem eine gewaltsame Unterdrückung des Andersdenkender und prorussischer Gesinnungen durch die neue Führung in Kiew zugrunde lagen. Ein Bürgerkrieg konnte durch die Unterzeichnung der Minsker Abkommen vermieden werden. Jedoch sabotierte Kiew unter der Patronage der westlichen Vermittler die Umsetzung seiner Verpflichtungen. Später haben die Bundeskanzlerin a.D. Angela Merkel und der ehemalige Präsident Frankreichs François Hollande öffentlich eingestanden, dass die Minsker Abkommen nur dafür dienten, Kiew eine Atempause zu gewähren, damit das Land seine Streitkräfte stärken und sich auf einen Krieg mit Russland vorbereiten konnte. Von Anfang an beabsichtigte niemand — weder Kiew, noch die westlichen Vermittler —, die erreichten Vereinbarungen ernsthaft einzuhalten.
Mehrfache Appelle Russlands, die vereinbarten Verpflichtungen umzusetzen und die Sicherheitsinteressen unseres Landes zu berücksichtigen, wurden erneut ignoriert, ebenso wie die Vorschläge, die Moskau im Dezember 2021 an die USA und die NATO übermittelt hat. Im Endeffekt ist uns keine Wahl geblieben. Das Ziel der im Februar 2022 begonnenen militärischen Sonderoperation besteht nicht in territorialen Gewinnen, sondern im Schutz der Rechte der russischsprachigen Bevölkerung der Ukraine, in der Demilitarisierung und Denazifizierung des Landes, in seiner Rückkehr zu einem neutralen blockfreien Status, in der Beseitigung der von seinem Gebiet ausgehenden Bedrohungen für die Sicherheit Russlands. Diese Ziele werden erreicht.
Ullrich Mies: Wie beurteilt die russische Regierung den aktuellen Zustand der deutsch-russischen Beziehungen? Bestehen überhaupt noch diplomatische Beziehungen, die man als solche bezeichnen könnte? Hat die Diplomatie noch eine Chance?
Sergej Netschajew: Der heutige Zustand der deutsch-russischen Beziehungen ist bedrückend. Berlin hat den Kurs der Zerstörung der einzigartigen Formate bilateraler Zusammenarbeit eingeschlagen, die von den Generationen von Vorgängern geschaffen worden waren. Die sogenannte „Zeitenwende“ führte zum Abbruch des politischen Dialogs, zur Entfesselung barbarischer Russenfeindlichkeit, zur Verhängung von Zehntausenden illegitimen Sanktionen gegen Russland sowie zur Ausarbeitung von Plänen, unserem Land eine „strategische Niederlage“, auch auf dem Schlachtfeld, zuzufügen. Die neue Bundesregierung bereitet sich intensiv auf eine groß angelegte militärische Auseinandersetzung mit Russland vor. Die Möglichkeit, russische souveräne Vermögenswerte zu stehlen und sie für die Fortsetzung des ukrainischen Konflikts einzusetzen, wird unverblümt diskutiert. Diese Handlungen sind beispiellos und äußerst gefährlich.
Diplomatische Beziehungen zwischen unseren Staaten wurden nicht abgebrochen, die Kontakte sind aber auf das Minimum reduziert. Das Auswärtige Amt initiierte mehrere Ausweisungen von russischen Diplomaten und entzog vier von fünf russischen Generalkonsulaten die Erlaubnis für den Betrieb. Es ist selbstverständlich, dass diese Schritte vor allem die Interessen einfacher russischer Bürger beeinträchtigen, die in Deutschland wohnen und konsularische Betreuung brauchen.
Wir haben unsererseits auf den Dialog nicht verzichtet, keine Brücken verbrannt und die Zusammenarbeit nicht eingestellt. Doch, wie es so heißt, zum Tango gehören immer zwei. Ein Interesse der deutschen Behörden an einer Veränderung des derzeitigen Status quo sehen wir bislang nicht.
Ullrich Mies: Ist Ihnen klar, dass weite Teile der deutschen Bevölkerung mit der kriegstreiberischen Politik der deutschen Regierung und des angeschlossenen Medienbetriebes in keiner Weise einverstanden sind und weiteren Spannungen gegenüber Russland ablehnend gegenüberstehen?
Sergej Netschajew: Uns sind die Stimmungen in der deutschen Gesellschaft bekannt: Die Mehrheit der Bevölkerung unterstützt den Kurs der militärisch-politischen und wirtschaftlichen Konfrontation mit Russland nicht. Nach wie vor haben wir viele Freunde in Deutschland. Unbestreitbar ist, dass Russland keine Maßnahmen ergriffen hat, die gegen die Interessen Deutschlands gerichtet waren, und dies auch künftig nicht tun wird. Die von den deutschen Medien geschürte Spionagehysterie sowie angebliche Pläne Moskaus, die NATO anzugreifen, sind völliger Unsinn, worauf der Präsident der Russischen Föderation mehrfach hingewiesen hat. Die jahrzehntelange, für beide Seiten nutzbringende Zusammenarbeit unserer Staaten hat die Führungsposition Deutschlands sowohl in der EU als auch in der Weltwirtschaft gefördert und war eine Garantie für das soziale Wohlergehen der Bürger. Der Versuch des Westens, Russland wirtschaftlich zu erwürgen, hat das Gegenteil bewirkt: Heute versinkt Westeuropa in einer Rezession sowie in Finanz-, Wirtschafts- und Haushaltsproblemen. Deindustrialisierung und Insolvenzen nehmen zu, die Wettbewerbsfähigkeit der Waren sinkt, und Produktion sowie Kapital werden ins Ausland verlagert.
Ullrich Mies: Wie könnten Sie die Lage um die im Westen eingefrorenen russischen Vermögen kommentieren?
Sergej Netschajew: In einigen europäischen Hauptstädten werden weiterhin Aufrufe laut, sich die Vermögenswerte der Bank von Russland anzueignen, einschließlich jener, die beim belgischen Zentralverwahrer „Euroclear“ liegen. Für die Umsetzung dieser Pläne existieren keine „rechtsstaatlichen Mechanismen“. Jegliche ohne Zustimmung Russlands vorgenommenen Transaktionen mit souveränen russischen Vermögenswerten sind Diebstahl. Offensichtlich wird die Aneignung russischer Staatsgelder höchst negative Folgen haben. Dieser beispiellose Schritt kann den geschäftlichen Ruf der Europäischen Union zerstören und die europäischen Regierungen in endlose Gerichtsverfahren stürzen.
Der Grund für den beharrlichen Drang der Europäer nach rechtswidrigen Schritten liegt auf der Hand. Das korrupte neonazistische Regime von Wladimir Selenskij, auf das Europa weiterhin setzt, befindet sich kurz vor einer Agonie. Die kritische Lage an der Front wird durch innere Querelen, die Neuaufteilung von Einflusszonen, eine katastrophale finanz- und wirtschaftliche Situation sowie eine massenhafte Abwanderung der Menschen aus dem Land ergänzt. Ganz zu schweigen von der weit verbreiteten Korruption innerhalb des Regimes. Um die Überlebensfähigkeit des Kiewer Regimes zu stützen und den Krieg „bis zum letzten Ukrainer“ fortzusetzen, werden erhebliche Mittel benötigt, über die Europa nicht verfügt. Angesichts dieser Umstände mag die Idee, russische Vermögenswerte zu enteignen und diese im Interesse Kiews zu nutzen, für manche verlockend erscheinen. In Wirklichkeit führt dies jedoch auf den Weg in eine Rechtsanarchie und zur Zerstörung der Grundlagen des internationalen Finanzsystems, was vor allem die Europäische Union treffen wird.
Ullrich Mies: Wie schätzen Sie den Verlauf der Ermittlungen hinsichtlich der Anschläge auf die Nord-Stream-Leitungen ein?
Sergej Netschajew: Die Terroranschläge auf die Nord-Stream-Pipelines liegen über drei Jahre zurück, jedoch gibt es nach wie vor keine eindeutigen Antworten auf die Frage nach den Tätern und Organisatoren des Anschlags auf eines der größten Objekte der europäischen Energieinfrastruktur. Die russische Seite hat mehrmals vorgeschlagen, die Bemühungen im Interesse einer unvoreingenommenen transparenten Ermittlung zu bündeln. Jedoch sind alle unsere Ersuchen ohne Antwort geblieben. Nationale Ermittlungen Schwedens und Dänemarks sind eingestellt. Die deutsche Ermittlung dreht sich im Kreis. Kennzeichnend ist auch das Schweigen Berlins als Antwort auf die faktische Rechtfertigung des Anschlages durch die polnischen Behörden und die Weigerung, den ukrainischen Verdächtigen nach Deutschland auszuliefern. Dabei ist es erwähnenswert, dass die Folgen der Sabotage vor allem die Interessen der deutschen Staatsbürger und Wirtschaftsakteure beeinträchtigt haben. Leider muss man erneut feststellen, dass der Vorrang der politischen Erwägungen vor der wirtschaftlichen Zweckmäßigkeit und den nationalen Interessen unbestreitbar ist.
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Bild: Sergej Netschajew / Botschafter der Russischen Föderation in Deutschland
Bildquelle: Flavio von Witzleben / YouTube
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