HIStory: Die Hintergründe des Kapp-Putsches im Jahre 1920
In der heutigen Folge von HIStory beleuchten wir die Hintergründe des so genannten Kapp-Putsches aus dem Jahre 1920. Damals versuchte eine Clique von rechtsextremen, vom Kriegsausgang frustrierten Militärs, die Macht in der noch gar nicht richtig gefestigten Weimarer Demokratie in der Manier von südamerikanischen Generälen mal eben an sich zu reißen. Doch der Putsch scheiterte bereits nach wenigen Tagen. Denn Arbeiter und Angestellte traten in den unbefristeten Generalstreik. Verwaltung und Provinzialregierungen ignorierten die Befehle und Anordnungen der Putschisten.
Gemeinhin wird dieses Ereignis als ein rein innerdeutsches Geschehen gedeutet. Doch wie so oft in HIStory werden wir auch dieses Narrativ äußerst kritisch hinterfragen und mit bis dato wenig beachteten Dokumenten und Zusammenhängen konfrontieren. Für unsere detektivische Expedition begeben wir uns nunmehr direkt in das Büro des damaligen Reichspräsidenten Friedrich Ebert:
Die ganze Nacht vom Freitag, dem 12. März 1920, auf den darauffolgenden Samstag sitzen Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD), Reichskanzler Gustav Bauer (ebenfalls SPD) und die Minister zusammen. Sie sind wirklich nicht zu beneiden. Denn hohe Militärs haben ihnen gedroht, in Berlin einzumarschieren, wenn die Regierung tatsächlich die neu gebildete Reichswehr auf 100.000 Soldaten begrenzen sollte. Die Beunruhigung der Militärs ist ein Stück weit nachvollziehbar. Denn die kaiserlichen Streitkräfte hielten immerhin 400.000 Soldaten in Lohn und Brot. 300.000 entlassene Soldaten würden die sowieso schon deprimierend hohe Arbeitslosigkeit weiter verschärfen. Auf die Straße geworfene Soldaten, die nach vier Jahren brutalem Stellungskrieg eigentlich erst einmal dringend eine Behandlung ihrer Traumata benötigen, bevor man sie wieder in die Fabriken schickt. Das interessiert naturgemäß die höheren Offiziere weniger. Sie fürchten dagegen einen massiven Machtverlust durch die geschrumpfte Truppe. Der Vertrag von Versailles, der Deutschland von den Siegermächten nach dem Ersten Weltkrieg diktiert wurde <1>, sah neben dem massiven Personalabbau auch ein Verbot der Fliegerei für alle Waffengattungen und ein Ende aller Panzerdivisionen vor. Die Stimmung ist also auf das äußerste gereizt in jenen Märzwochen. Denn es ist der Regierung nicht gelungen, den Siegermächten wenigstens ein Zugeständnis über insgesamt 200.000 verbleibende Soldaten abzuringen.
Reichswehrminister Gustav Noske, ebenfalls SPD, unterhält exzellente Beziehungen zu den Militärs. Er hat arbeitslose Frontsoldaten, die nicht in das komplexer gewordene Zivilleben zurückkehren wollen, in neu gebildeten illegalen Söldnertruppen unterzubringen gewusst. Als nach dem Waffenstillstand im November 1918 in Deutschland eine starke Bewegung für direkte Demokratie durch Arbeiter- und Soldatenräte aufkam, hetzte Noske seine Freikorpssoldaten auf die wehrlose Bevölkerung. Die Söldner beendeten in außerordentlich brutalen Massakern diese Ansätze von Basisdemokratie. Noske wurde der Satz „einer muss ja den Bluthund abgeben!“ zugeschrieben. Jetzt befinden sich Noske und sein Vorgesetzter Friedrich Ebert in der Zwickmühle einer unheilvollen Symbiose mit den von ihnen ins Leben gerufenen Freikorpsverbänden.
Als nun Gustav Noske am 29. Februar 1920 von den Militärs die Auflösung der Marinebrigade Ehrhardt fordert, wird dies von den Offizieren als Verrat gewertet. „Marinebrigade Ehrhardt“ ist vom Namen her eine glatte Irreführung. Denn diese besonders brutale Mördertruppe ist keine reguläre Einheit der Marine, sondern eine zu wesentlichen Teilen von Privatleuten finanzierte Söldnertruppe. Es ist vielleicht gerade deswegen eine besonders scharfe Waffe der Militärs. Sie betrachten die Freikorpseinheiten nämlich als ihre inoffizielle Reserve, mit der sie die Beschränkungen durch den Versailler Vertrag unterlaufen wollen. Haudegen Ehrhardt ignoriert die Auflösungsaufforderung und hält demonstrativ am 1. März eine schneidige Parade mit seinen Schlägerbanden ab. Noske meint es diesmal aber ernst. Der Kriegsminister setzt Ehrhardt ab und delegiert die Führung dieser Brigade an die reguläre Marine. Da geht General Walther von Lüttwitz aus der Deckung und nimmt den großen Dienstweg. Er baut sich am 10. März vor Reichspräsident Ebert auf: die geplante Auflösung der Marinebrigade Ehrhardt soll gefälligst zurückgenommen werden. Und Lüttwitz schiebt noch politische Forderungen nach: Ebert soll die Weimarer Nationalversammlung, in der immer noch an der Verfassung für die neue Republik gefeilt wird, auflösen. Er soll Neuwahlen zum Reichstag veranlassen. Das sehen Ebert und Noske nun gar nicht ein. Sie schicken den größenwahnsinnigen Lüttwitz, verzuckert durch eine schmeichelhafte Beförderung, in die einstweilige Beurlaubung. Lüttwitz schäumt und fährt nach Döberitz bei Berlin. Dort hat sich der widerspenstige Kommandant Ehrhardt mit seiner Brigade verschanzt. Lüttwitz fordert nun die Söldner auf, nach Berlin zu marschieren und die neuerdings eigensinnig gewordene Regierung einzukesseln, abzusetzen und sodann zu verhaften. Zugleich ruft Lüttwitz bei dem ostpreußischen Landschaftsdirektor (was ungefähr der Position eines Regierungsdirektors entspricht) Wolfgang Kapp, sowie bei dem bereits früher zwangsbeurlaubten Offizier Waldemar Pabst und bei Erich Ludendorff an. Sie sollen auch nach Berlin kommen und dort die neue Putschistenregierung anleiten.
Ein klarer Fall von Befehlsverweigerung. Eigentlich müssten alle anderen militärischen und polizeilichen Kräfte die Putschisten sofort verhaften. Doch der Geist weht aus einer ganz anderen Richtung in jenen harten Nachkriegstagen. Die preußische Sicherheitspolizei verweigert Noske die Gefolgschaft und lässt durchblicken, dass sie sich den Putschisten gegenüber in wohlwollender Neutralität verhalten wird. Auf wen also soll die amtierende rechtmäßige Regierung sich stützen? Es wird eng. Am Freitag dem 12. März nachts um halb zwölf hat Noske alle Kommandeure um sich versammelt. Und diese lassen den Reichskriegsminister wissen, dass sie es eher mit General Lüttwitz und seinen Freunden halten als mit dem zivilen Minister.
Den sozialdemokratischen Regierungsmitgliedern schwant, dass die Geister, die sie 1918 riefen, nicht mehr in die Flasche zurückzuholen sind. Am Samstagmorgen, dem 13. März 1920, können sie um 6.25 gerade noch durch den Hinterausgang entkommen, während die fröhliche Kampflieder schmetternden Totschläger der Brigade Ehrhardt durch das Brandenburger Tor ins Regierungsviertel einmarschieren. In Dresden findet sich auch kein Militär, das die Reichsregierung beschützen will. In Stuttgart schließlich wird Ebert und Noske mit ihren Mitarbeitern Unterschlupf gewährt. Sicher und willkommen sind sie hier auch nicht wirklich. Im Schwabenländle sind die Militärs zumindest nicht zu hundert Prozent gegen die Zivilregierung eingestellt.
Dass die Herrschaft der blanken Waffengewalt nicht obsiegt, verdanken Ebert und seine Mitstreiter einer einmaligen Koalition aus Arbeiterbewegung und bürgerlich-konservativ geprägter Bürokratie. Für über eine Woche stehen nun in Deutschland alle industriellen Räder still. Die Arbeiter und Angestellten treten in einen Generalstreik. Als Kapp, Lüttwitz, Pabst und Ludendorff illegal die Regierungssessel in Berlin besetzen, findet sich kein einziger Mitarbeiter der Ministerialbürokratie, der die Anordnungen der Hasardeure umzusetzen bereit ist. Reichsbankpräsident Rudolf Havenstein verweigert jede Geldüberweisung, sodass die Putschisten bald ohne Geld dastehen. Die Usurpatoren müssen ihre Söldner schließlich mit einem regelmäßigen Sold versehen, sonst legen auch diese Gewaltprofis ihre Gewehre einfach beiseite. Die Arbeiter- und Soldatenrätebewegung erlebt eine bemerkenswerte Renaissance. Die Massen sind mobilisiert, worauf die Sicherheitspolizei mit Terror aus der Luft reagiert: die Beamten bombardieren Arbeiterviertel aus Doppeldeckerflugzeugen. Als Reaktion auf den Angriff von rechts entstehen Revolten in Thüringen und Sachsen. Im Westen formiert sich eine Ruhrarmee mit bis zu 120.000 bewaffneten Arbeitern, die den Freikorps zu schaffen machen. Schließlich gewinnen die Freikorps doch noch die Oberhand und es kommt zu einem monströsen Massaker.
In Berlin sind noch Regierungsmitglieder bürgerlicher Parteien zurückgeblieben, unter anderen der liberale Vizekanzler und Justizminister Eugen Schiffer von der Deutschen Demokratischen Partei. Zusammen mit dem ehemaligen Staatssekretär Karl Trimborn von der katholischen Zentrumspartei ermöglicht Schiffer den gescheiterten Putschisten einen sanften Abgang. Am 17. März tritt die Regierung Lüttwitz zurück, nachdem ihr Trimborn und Schiffer eine Amnestie in Aussicht gestellt haben. Unbehelligt verlassen nun Lüttwitz, Ludendorff und Konsorten das Berliner Regierungsviertel. Am 23. März beenden die Gewerkschaften ihren Generalstreik. Präsident Ebert ist wieder im Amt.
Reichskanzler Gustav Bauer (SPD) allerdings muss gehen. Und auch Noske ist nicht länger zu halten. Zu deutlich ist, dass der „Bluthund“ jene Kräfte erst möglich gemacht hat, die jetzt so viel Stress verursachen. Und die Gewerkschaften, die gerade eine beachtliche Kraft entfaltet haben, will Ebert dadurch bändigen, dass er den Vorsitzenden des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes, Carl Legien, zum neuen Reichskanzler ernennen will. Der lehnt jedoch dankend ab. So wird der farblose SPD-Parteisoldat Hermann Müller neuer Reichskanzler. Die Freikorps-Schlächter kommen straflos davon. Die Brigade Ehrhardt wird allerdings aufgelöst. Doch der verwegene Abenteurer Ehrhardt schmiedet mit der Organisation Consul eine konspirative Terroristengruppe, die in den folgenden Jahren einige der brillantesten Politiker der Weimarer Republik wie zum Beispiel Matthias Erzberger oder Walther Rathenau ermorden und der zerbrechlichen Demokratie auf diese Weise unersetzliche Verluste zufügen.
Soweit der Ablauf der Ereignisse. In der offiziellen Geschichtsschreibung wird immer wieder betont, dass der Kapp-Putsch eine Aktion deutschnationaler Militärs gewesen sei, um die strengen Bestimmungen des Versailler Vertrages einer Minimierung der deutschen Streitkräfte zu unterlaufen und eine mögliche Auslieferung deutscher Kriegsverbrecher an die Alliierten zu verhindern. Die Alliierten hätten den Kapp-Putsch nicht gerne gesehen.
Zunächst einmal: die Forderung nach Auslieferung der deutschen Kriegsverbrecher aus dem Ersten Weltkrieg wurde seitens der Alliierten relativ schnell fallengelassen. Nunmehr sollte nach den Vorstellungen der Alliierten ein deutsches Spezialgericht die Verbrecher aburteilen. Was einer stillschweigenden Amnestie gleichkommt, da auch den Vertretern der Entente nicht entgangen sein kann, dass die Justiz wenig Bereitschaft zeigte, auf Konfrontationskurs gegen hochrangige deutsche Militärs umzuschwenken.
Der Kapp-Putsch hatte nämlich durchaus internationale Dimensionen. Am 15. März 1920 berichtet ein Besucher aus Deutschland dem liberalen Literaten Harry Graf Kessler in Bern: „Die Engländer stünden der Sache [Kapp-Putsch] sympathisch gegenüber, weil sie eine reaktionäre Regierung in Deutschland gegen Russland [Bolschewisten] zu verwenden hofften.“ <2> Es geht aber noch weiter. Die deutschen Territorien westlich des Rheins sind mittlerweile von französischen, britischen und US-amerikanischen Streitkräften besetzt. In Koblenz befehligt der amerikanische General Henry T. Allen eine kleine amerikanische Besatzungszone. Allen schreibt in sein Tagebuch am 14. März 1920: „Einige Mitglieder meiner Gruppe 2 glauben, in dem Putsch Englands Hand zu entdecken, doch vermag ich nicht einzusehen, was ein auf der Kippe stehendes Deutschland den Engländern nützen kann.“ <3> Am 17. März hat General Allen allerdings seine Skepsis abgelegt, denn er notiert: „Die merkwürdige Art, mit der englische Agenten in den verschiedenen Hauptstädten Deutschlands auftauchen und gehört zu werden scheinen, macht fast den Eindruck eines abgekarteten Spiels bei den letzten deutschen Ereignissen.“ <4>
Zu den unzähligen Merkwürdigkeiten dieses Kapp-Theaters gehört das plötzliche Auftauchen einer äußerst obskuren Gestalt als „Pressesprecher“ der Putschisten: die Rede ist von Ignaz Lincoln-Trebitsch. Ein Abenteurer in allen Winkeln der Erde. Geboren im orthodox-jüdischen Milieu Ungarns der KuK-Monarchie wuchs Trebitsch-Lincoln unter anderem in Hamburg auf, ging nach Kanada, diesmal als presbyterianischer Prediger, macht in England Karriere als liberaler Unterhausabgeordneter, versucht sich im Ersten Weltkrieg als Ölmakler auf dem Balkan. Er avanciert zum „militärischen Zensor“ – was immer das bedeuten soll. Trebitsch-Lincoln flieht in die USA und wird von dort nach England ausgeliefert und muss auf der Insel wegen Betrügerei und Spionage für Deutschland drei Jahre Haft im Zuchthaus verbüßen. 1919 sehen wir ihn beim gerade abgedankten Kaiser Wilhelm II. Angeblich um den gedemütigten Monarchen zu interviewen. Und dann ist er plötzlich mitten im Zentrum des Kapp-Putsches. Dass der deutsche Oberst Max Bauer den bunten Vogel Trebitsch-Lincoln mit Nachdruck in die Position eines Repräsentanten der Putschisten geschubst hatte, brachte Bauer durchaus kontroverse Reaktionen ein. Max Bauer war zu Kriegszeiten ein zentraler Organisator im Umfeld des faktischen Militärdiktators Erich Ludendorff. Bauer half mit, im Weltkrieg den damaligen Kriegsminister und obersten militärischen Befehlshaber Erich von Falkenhayn zu stürzen und dafür Ludendorff in den Sattel zu schubsen. Auf Bauer geht der Einsatz von Flammenwerfern und Giftgas im festgefahrenen Stellungskrieg zurück. Man kann Bauer getrost als einen Lobbyisten der Rüstungsindustrie, insbesondere von Krupp, bezeichnen. Bauer firmierte auch als Verbindungsmann vom Alldeutschen Verband, zur Obersten Heeresleitung. Beim Alldeutschen Verband handelt es sich um einen außerordentlich aggressiven Lobbyverein der deutschen Rüstungswirtschaft, der schon Kaiser Wilhelm den Zweiten vor sich her getrieben hatte. Nach der Niederlage gründete Bauer die Nationale Vereinigung, ein Bindeglied der deutschen Industrie zu aggressiven Militärführern und Politikern, die eine autoritäre antikommunistische Diktatur anstrebten. Nach der Blamage mit dem Kapp-Putsch hatte Bauer allerdings keine Bedenken, seine Kontakte zu deutschen Herstellern von Giftgas auch den bislang geächteten Bolschewisten anzubieten. Daraus entstand eine heimliche Giftgaseinheit der deutschen Reichswehr im russischen Ort Lipezk. Max Bauer unterhielt obendrein vor und während des Kapp-Putsches nachweislich Kontakte zu leitenden britischen Militärs <5>.
Es gibt aber noch eine weit heißere Spur, die auf eine geopolitische Dimension des Kapp-Abenteuers hinweist. Dahin führt uns der Aufruf zum Generalstreik durch die SPD-geführte Reichsregierung: „Wir paktieren nicht mit Baltikumsverbrechern!“ Was hatte das Baltikum denn mit dem Putsch zu tun? Bekannt ist, dass als Ergebnis der Waffenstillstandsvereinbarung vom November 1918 die deutschen Streitkräfte sich verpflichteten, umgehend besetzte ausländische Territorien zu räumen und sich nach Deutschland zurückzuziehen. Weitgehend unbekannt ist dagegen der Artikel 12 der Waffenstillstandsvereinbarung. Der besagt nämlich, dass deutsche Streitkräfte dort mobilisiert und bewaffnet bleiben, wo die Alliierten sie im Kampf gegen den Bolschewismus einzusetzen gedenken. Und die Westmächte versuchten an mehreren Flanken das neue Sowjetreich niederzustrecken. In Archangelsk im hohen Norden Russlands befand sich eine US-amerikanische Division, die sich „Polarbären“ nannte. Die amerikanischen Polarbären sollten eine tschechoslowakische Söldnertruppe sowie liegen gebliebenes amerikanisches Kriegsgeschirr, das noch für die zaristischen Truppen gedacht war, vor den heranrückenden Sowjets schützen. Zugleich lauerte eine antibolschewistische russische Truppe unter General Judenitsch vor Petrograd, dem früheren Sankt Petersburg. Und im Baltikum war das 6. Deutsche Armee Corps unter Rüdiger von der Goltz mit 73.000 deutschen Soldaten ebenfalls anwesend <6>. Befehligt wurden die deutschen Landser von der britischen First Light Cruiser Squadron unter Konteradmiral Cowan, die in der Ostsee vor Anker lag. Angeblich sollte sie Schiffsbewegungen der Deutschen behindern. Tatsächlich taten sie aber gerade das Gegenteil, so dass am 16. April 1919 das Freikorps Westfalen unter Pfeffer von Salomon komfortabel über den Seeweg in Lettland landen kann. Die deutschen Soldaten und Söldner sollen die russischen und baltischen Kommunisten vernichten, aber auch die russischen und deutschen Großgrundbesitzer vor demokratischen Landreformen der gemäßigten lettischen, estnischen und litauischen Politiker schützen. Auch der deutsche Kriegsminister und Sozialdemokrat Noske lässt sich am 26. April in Libau blicken, um den Fortgang der kriegerischen Bemühungen seiner Landsleute zu inspizieren.
In der Schlacht zu Wenden am 19. Juni 1919, bei dem die Deutschen Max Bauers Giftgas einsetzen, kann eine estnisch-lettische Armee die deutschen Söldner entscheidend besiegen. Den finalen Schlag können sie jedoch gegen ihre Peiniger nicht ausführen. Denn die Engländer unter Führung von Colonel Harold Alexander drohen ihnen massive Vergeltung an für den Fall, dass sie sich nicht mit den deutschen Söldnern arrangieren. Die deutschen Verbände werden zum Schein aufgelöst, um sich sodann einer russischen Truppe unter dem kosakischen Abenteurer Pavel Avalov-Belmondt anzuschließen. Diese bunte Truppe wiederum soll nun General Judenitsch vor Petrograd zu Hilfe kommen.
Am 3. November stellen sich lettische und estnische Verbände deutschen Söldnern an der Kurischen Küste in den Weg. Den bedrängten deutschen Verbänden kommt aus Deutschland das Freikorps Rossbach zu Hilfe. Beide gemeinsam praktizieren daraufhin im Baltikum eine Politik der verbrannten Erde. Die westalliierten Generäle Gough (Großbritannien), Boset (Frankreich) und Dawley (USA) machen den Esten und Letten erneut unmissverständlich klar, dass jede Landreform zu unterbleiben hat, und dass nunmehr die deutschen Söldner ungestört nach Deutschland abziehen sollen. Nachdem die Freikorps-Brandschatzer noch halb Litauen ausgeplündert haben, kehren sie, geschlagen, gedemütigt und vollkommen abgestumpft, am 13. Dezember über Ostpreußen heim ins Deutsche Reich. Ihr Leben verdanken sie den Westalliierten. Nachdem sie kurze Zeit als Landarbeiter auf ostelbische Güter verteilt wurden, treffen wir sie wenige Monate später beim Kapp-Putsch wieder. Die „Baltikumer“ werden, wie wir an der Verlautbarung der SPD-Regierung ablesen können, als aktiver Kern des Kapp-Putsches von der Öffentlichkeit erkannt. Es ist nicht zu verstehen, warum unsere Historikerzunft diese geopolitischen Zusammenhänge komplett ignoriert.
Der Kapp-Putsch war unverkennbar ein erster, dilettantisch vorgetragener Versuch, der Demokratisierung Deutschlands einen Riegel vorzuschieben. Weitere Versuche sollten folgen. Zu nennen ist der von Hitler und von Ludendorff angeführte Münchner „Bierhallenputsch“ im November 1923. Die Bemühungen gewannen im Laufe der Jahre an Professionalität und endeten schließlich im März 1933 mit dem Sieg der Nationalsozialisten.
Die Baltikumer hatten wesentlichen Anteil an dieser Faschisierung Deutschlands. Baltikumer stellten die Kernmannschaft nationalsozialistischer Militanz in SA und SS. Um nur einige wenige Namen von „Baltikumern“ in Führungspositionen zu nennen.
Ein Teil der Eisernen Division wechselte später in die 2. Marine-Brigade Ehrhardt. Als prominente Mitglieder sehen wir dort Major von Lossow oder den späteren legendären Panzerkommandanten, Generaloberst Heinz Guderian.
Aus dem Freikorps Roßbach kämpften später ganze Mannschaften in Oberschlesien gegen polnische Milizen. Später waren sie an Hitlers Münchner Bierhallenputsch 1923 beteiligt. Prominente Teilnehmer an diesen Abenteuern waren Martin Bormann, Kurt Deluege (Mitglied der SS und Generaloberst der Polizei). Nicht zu vergessen der Auschwitz-Kommandant Rudolf Höss. Mitglieder des Freikorps Westfalen unter Pfeffer von Salomon taten sich besonders brutal bei der Niederschlagung des Ruhraufstandes im April 1920 hervor. Aus dem Freikorps Baltische Landeswehr ging der spätere General der Fallschirmtruppe, Hermann-Bernhardt Ramcke hervor.
All diese Leute standen also unter britisch-amerikanisch-französischem Kommando im Baltikum. Sie haben sich sodann im Kapp-Putsch betätigt und bildeten dann die Eliten der NSDAP, der SA und der SS. Welche Rolle spielten die Westalliierten bei der weiteren Karriere dieser Gewaltverbrecher. Historiker sollten diesen hochinteressanten Spuren einmal intensiver nachgehen. Wir wissen natürlich, dass die Hof-Historiker sich hüten werden, dieses heiße Eisen anzufassen.
Wir lernen aus der Vergangenheit, wie wir die Zukunft besser machen.
Quellen und Anmerkungen: <1> Einer der schärfsten Kritiker des Versailler Vertragswerks war der britische Ökonom John Maynard Keynes: The Economic Cosnsequences of the Peace. London 1919. <2> Harry Graf Kessler: Tagebücher 1918-1937. Frankfurt 1961, S.210f <3> Henry T. Allen: Mein Rheinland-Tagebuch. Berlin 1923, S.60 <4> ders., S.62 <5> Unter vielen Hinweisen sei nur genannt: E. Könnemann/G. Schulte: Der Kapp-Lüttwitz-Ludendorff-Putsch. München 2002, S.389 <6> Einen aufschlussreichen Einblick in die Lage im Baltikum 1919 geben die Korrespondenzen zwischen militärischen und geheimdienstlichen „Missionen“ und der US-amerikanischen Delegation bei den Friedensverhandlungen in Paris in: United States Department of State / Papers relating to the foreign relations of the United States. The Paris Peace Conference 1919. Volume XII (1919). Field Missions to Negotiate Peace. Im folgenden FRUS genannt. Die hier genannten Zahlen und Fakten beziehen sich auf FRUS, S. 138/139, Schreiben Greene an US-Außenminister aus Libau, 11.4.1919, AZ 861.00/4208: „German force / is here with tacit Entente consent in accordance with article 12 of Armistice and its departure before arrival of other adequate forces will deliver automatically entire Courland to Bolsheviki.“ <138/39> Bildquellen: https://commons.wikimedia.org/
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