HIStory: Der 17. Juni 1953

Der Siebzehnte Juni 1953 – Aufschrei der Freiheit oder amerikanisches Agentenstück?

Herzlich willkommen zu einer neuen Folge von HIStory!

Ich bin Hermann Ploppa. Und ich gehe mit Ihnen zusammen der Frage nach: was genau geschah am 17. Juni des Jahres 1953?

Der Siebzehnte Juni ist schon lange kein Feiertag mehr. Der Siebzehnte Juni musste weichen für den Dritten Oktober. Der Dritte Oktober: ein Freudentag. Der Siebzehnte Juni dagegen steht für dunkle Schwarz-Weiß-Filme, gehüllt in finstere Qualmwolken. Gewaltige Menschenmassen rennen durch Ostberlin. Panzer rollen auf den Potsdamer Platz und drehen ab. Wütende Bürger werfen den Panzern Steine hinterher.

Am Tag vor dem Siebzehnten, dem 16. Juni 1953 nämlich, hatten Arbeiter in Berlin gestreikt. Über das amerikanische Radio RIAS Berlin geht die ungeheure Botschaft von den Wilden Streiks durch die gesamte Deutsche Demokratische Republik. In über 250 Städten der DDR kommt es zu spontanen Aktionen. Demonstrationen. Kundgebungen. Aber es kommt auch zur Erstürmung von Gebäuden von Stasi und Polizei. Aktenblätter fliegen zu Schnipseln zerlegt aus den eingeschlagenen Fenstern und verteilen sich chaotisch auf dem Straßenpflaster. In Halle entern die Protestierenden das Gefängnis und lassen die Häftlinge frei. Leute, die als Helferlein des Systems erkannt werden, bekommen eine gehörige Tracht Prügel. Die Wut einiger weniger Demonstranten droht dabei schon in offenes Lynching überzugehen. Parteigebäude gehen in Flammen auf.

Dazu unüberhörbar der Ruf: „Spitzbart und Brille sind nicht des Volkes Wille!“ <1>

Der Mann, dem diese Rufe gellen, hat sich mit dem gesamten Politbüro in die sicheren Fittiche der sowjetischen Militärverwaltung begeben. Janz weit draußen – außerhalb von Berlin. Niemand von der Volkspolizei oder der Stasi kann die Sicherheit von Walter Ulbricht und den übrigen DDR-Hierarchen garantieren. Das Land ist für einige Stunden tatsächlich herrenlos. Es ist Zeit für die eigentlich bestimmenden Sowjets, das Heft jetzt sofort selber komplett in die Hand zu nehmen. Ab 13 Uhr an diesem 17. Juni 1953 wird der Ausnahmezustand mitsamt Kriegsrecht verhängt. Das heißt: wenn mehr als drei Leute zusammen stehen, ist das schon Bandenbildung und das kann hart bestraft werden. Wer sich jetzt noch offen auflehnt, der kann ganz legal erschossen werden. Sofort ist Ruhe auf den Straßen und Plätzen. Jetzt kann man unbeobachtet die Leute von zuhause abholen und einsperren. Es sind im Vorgang des 17. Juni und in dessen Nachgang 31 Tote zu beklagen gewesen. Offiziell wurden 458 Verletzte gemeldet. Eine Anzahl von Leuten ist verschollen. Die Polizeiakten sprechen von 6.171 Verhaftungen. Davon werden etwa 1.300 Personen sofort der Stasi überstellt. Und wer ganz großes Pech hatte, wurde direkt an die sowjetische Militärverwaltung weitergereicht. Auf diese Weise verschwanden etwa zweihundertfünfzig DDR-Bürger. Wie auch immer: auf die allermeisten der im Zusammenhang mit dem 17. Juni festgenommenen Personen kam eine harte Zeit zu.

Bilder von diesem Aufstand gingen um die Welt. Diese Szenen wurden früher bei den Feiertagen immer und immer wieder im Fernsehen rauf- und runter geleiert. Vielleicht wurden sie noch mit schwülstiger Musik unterlegt, die immer wiederkehrende Botschaft: die Stimme der Freiheit kann sich nur mit Steinwürfen gegen die garstigen Panzer der totalitären Unfreiheit zur Wehr setzen. Der erzböse Kommunismus. Und die lupenreine Weste des Westens.

Die DDR-Propaganda war auch nicht gerade begnadet: da wollen doch diese Schurken aus dem Ami-Land unsere im tiefsten Inneren zufriedenen werktätigen Arbeiter und Bauern unzufrieden machen. Die Ami-Spione erzählen ihnen so genannte „RIAS-Enten“. Soll heißen: der Ami-Sender RIAS erzählt allerlei Zeitungsenten über die Zustände in der DDR <2>. Zudem kommen Provokateure aus Westberlin und stiften unsere Leute zur Konterrevolution an. Und schon 1952 haben diese amerikanischen Agenten von Flugzeugen aus Zigarrenkisten abgeworfen, voll mit Kartoffelkäfern. Daraufhin ist unsere sozialistische Ernte verdorben.

Beide Seiten: das westliche Märchen vom Kampf gegen das sowjetische Böse schlechthin; oder das östliche Märchen von der diabolischen Perfektion westlicher Geheimdienste sind meilenweit von der Wirklichkeit entfernt. Die wirkliche Geschichte ist viel verwickelter. Und viel spannender. Sie handelt von real existierenden Menschen. Es geht um ein Zusammenspiel von Planlosigkeit und der Fähigkeit, aus dieser Planlosigkeit Kapital zu schlagen. Und dabei ein durchaus respektables Gesellschaftsexperiment für alle Zeiten an die Wand zu fahren. Und das nur, um die eigene Karriere zu retten. Die Karriere vom Spitzbart und Brille nämlich. Kurz und schlecht: Walter Ulbricht hat den Zustand herbeigeführt, auf den das Volk so zornig reagierte. Und derselbe Ulbricht steigt dann noch zum absoluten Alleinherrscher für anderthalb Jahrzehnte auf. Es war nämlich für alle unverkennbar der Genosse Parteisekretär Walter Ulbricht, der die Forderung der Sowjets umsetzte, von den Arbeitern bei gleicher Entlohnung aus dem Stand zehn Prozent mehr Leistung abzuverlangen. In der damaligen Sprachregelung: die Arbeitsnorm um zehn Prozent zu erhöhen.

Das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei hatte die Karre in den Sand gefahren. Lassen Sie mich ganz kurz die wesentlichen Ursachen aufführen:

  • Die DDR hatte von Anfang an deutlich die schlechteren Karten als das Konkurrenzmodell Bundesrepublik Deutschland. Denn in der sowjetischen Besatzungszone wurden besonders viele Industrieanlagen demontiert und in die Sowjetunion verbracht. Auch die Reparationszahlungen an die Sowjetunion waren deutlich höher als die Reparationszahlungen Westdeutschlands.
  • Ebenso wie in der Bundesrepublik lag die Betonung der Wirtschaftsentwicklung auch in der DDR auf dem raschen Aufbau der Schwerindustrie. Das bedeutet also: verschärfte Produktion von Stahl. Wofür wohl? Die hinter den deutschen Satellitenstaaten stehenden Großmächte bereiteten sich offenkundig schon wieder auf den nächsten Krieg vor. Auch hier hatte die DDR die Arschkarte. Denn während in der Bundesrepublik die Schwerindustrie bereits voll entwickelt war und lediglich wieder angefahren werden musste, musste auf der anderen Seite die DDR zum Teil eine völlig neue Schwerindustrie von heute auf gestern aus dem Boden stampfen. Das erforderte natürlich besondere Anstrengungen.
  • Der Druck der Sowjetführung auf die DDR war groß, eine Aufrüstung und Militarisierung voranzutreiben. Aber solange die Bundesrepublik keine Streitkräfte unterhielt, wurde in der DDR die Kasernierte Volkspolizei unterhalten, die de facto bereits als stehendes Heer funktionierte. Die Unterhaltung dieser getarnten Streitkräfte verschlang enorme Geldmittel.
  • Seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges wurde in der sowjetischen Besatzungszone und dann in der 1949 gegründeten DDR das selbe Konzept einer Fassadendemokratie vorangetrieben wie in der Bundesrepublik auch. Das heißt: man pflegte die Fiktion eines souveränen Teilstaates, in dem bürgerlich-demokratisch ein Wettbewerb von Parteien unterschiedlicher politischer Ausrichtung und politischer Klientel frei und friedlich um das Mandat der Wähler konkurrierten. Und wo dann der durch Wahlen ermittelte Wille der Wählermehrheit die Richtlinien der Politik bestimmen sollte. Tatsächlich bestimmte aber in der BRD letzter Hand immer die Regierung der USA, was zu tun und zu lassen ist. Und selbstverständlich nahmen auch die Regenten der DDR ihre Weisungen aus Moskau entgegen. Und letzteres Durchregieren geschah um einiges nackter und ungenierter als im Westen. Und so kam im Sommer des Jahres 1952 ganz plötzlich und unerwartet aus Moskau der Befehl, die ostdeutsche Fassadendemokratie sofort zu beenden. Stattdessen sollte jetzt alles auf die rasche Durchsetzung des Sozialismus nach Sowjetmuster umgepolt werden. In Windeseile beruft die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands ihre Zweite Parteikonferenz vom 9. bis zum 12. Juli 1952 ein. Genosse Parteisekretär Walter Ulbricht stellt den plötzlichen Schwenk so dar, dass die Parteiführung nur ganz dringend einem unwiderstehlichen Drang der Basis folge: „Vorschläge aus der Arbeiterschaft und aus der werktätigen Bauernschaft“ werden umgesetzt. Deswegen folge man dem Wunsch der Bevölkerung und nun werde „der Sozialismus planmäßig aufgebaut.“
  • Die ehrlichen Sozialisten und Kommunisten in der DDR freuen sich wie die Schneekönige. Endlich werden Nägel mit Köpfen gemacht. Hatte denn die Erfahrung mit dem Nationalsozialismus nicht eindeutig gezeigt, dass liberale Regierungen im Kapitalismus jederzeit durch faschistische Regierungen ausgetauscht werden können, je nach Bedarf der Kapitalisten und Finanzkreise? Jedoch die bürgerlich-konservativen Kreise in der DDR sind geschockt und sie fühlen sich betrogen. Man kann doch nicht zuerst in sieben Jahren mühsam die Leute auf das Gleis eines gemäßigten Kapitalismus einspuren, um dann mit einem Schlag eine radikal andere Gesellschaftsform zu verordnen. Bürgerliche Kreise gehen schon mal in die innere Emigration. Oder auch gleich in die ganz offene äußere Emigration. Denn allein im Jahre 1952 wandern 110.000 DDR-Bürger in die Bundesrepublik aus. Denn da wird ganz plötzlich eine Umwandlung der privaten bäuerlichen Landwirtschaft in große Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften verordnet. Natürlich, „freiwillig“ und natürlich nur auf dringenden Wunsch der werktätigen Bauern. Die Abstimmung mit den Füßen führt dazu, dass im Jahre 1952 dreizehn Prozent der Äcker in der DDR herrenlos sind und nicht bestellt werden. Es kommt in diesem Jahr zu einer verheerenden Missernte.

Diese radikalen Umbrüche belasten das sowieso schon arg gebeutelte Ostdeutschland schwer. Die Experten im Politbüro der SED rechnen und rechnen sich die Finger wund. Moskau hat nämlich verordnet, dass die DDR etwa 1,5 Milliarden Mark für den raschen Ausbau der Kasernierten Volkspolizei aufbringen soll. Und dann noch einmal 1,5 Milliarden Mark für die Kollektivierung der Landwirtschaft. Die SED-Experten senden eine dringende Botschaft nach Moskau: wir können das Geld beim besten Willen nicht aufbringen. Könnt Ihr uns da mit einem bisschen Geld unter die Arme greifen? Aus Moskau kommt eine vollkommen unerwartete Antwort, die die Berliner Genossen völlig verdattert. Moskau kann kein Geld zuschießen. Stattdessen sollen die Ostdeutschen dann lieber den Fuß vom Gaspedal nehmen und mal langsam machen. Das hat man ja noch nie gehört. Was ist da los in Moskau?

Auf jeden Fall muss man was tun. Geld ist nicht da. Löhne kann man auch nicht senken. Das ist mit Sozialismus nun gar nicht in Einklang zu bringen. Man entschließt sich zu der rigiden Politik des enger geschnallten Gürtels, die in der westlichen Politik „Austerity“ genannt wird. Das Zentralkomitee der SED versammelt sich vom 13. bis zum 14. Mai 1953 zu ihrer dreizehnten Tagung. Das Zentralorgan der SED, das Neue Deutschland, bringt am darauf folgenden Samstag einen Leitartikel mit der Schlagzeile: „Über die Erhöhung der Arbeitsproduktivität und die Durchführung strengster Sparsamkeit.“ Es wird eine Erhöhung der Normen um zehn Prozent verordnet. Anstatt den Lohn um zehn Prozent zu senken, sollen die Arbeiter nun also in derselben Zeit zehn Prozent mehr arbeiten, um denselben Lohn zu erhalten. Nach all dem Kuddelmuddel der letzten zwei Jahre sind die Arbeiter nun wirklich angefressen. Als wenn wir nicht sowieso schon freiwillig unser Bestes geben würden! Frechheit! Doch noch sind die Arbeiter guten Willens, mit der Führung der DDR konstruktive Gespräche zu führen. Da sind zum Beispiel tausende von Bauarbeitern im Zentrum Ostberlins mit dem Bau von Mietshäusern im stalinistischen Zuckerbäcker-Stil beschäftigt. Ein Prestige-Projekt in der Stalinallee, der heutigen Karl-Marx-Allee. Bauarbeiter aus der ganzen sozialistischen Republik sind hier zusammengezogen. Hier sollen demnächst Arbeiter wohnen wie Könige, um zu zeigen, dass die Arbeiterklasse das Land regiert. Die Maurer, Einschaler, Elektriker und Installateure erklären sich bei eigens einberufenen Belegschaftsversammlungen zunächst durchaus bereit, die zehn Prozent Normerhöhung umzusetzen. Aber nur unter der Bedingung, dass sich die Arbeitsbedingungen sofort spürbar verbessern. Und die Bauarbeiter haben auch einen ganzen Katalog konstruktiver Vorschläge. Die Funktionäre hören sich das an – und verabschieden sich. Als dann nichts weiter passiert, werden die Kollegen langsam sauer. Sie treffen sich zu spontanen Versammlungen und schicken dem Politbüro ganz direkt, aber in sehr höflicher Form noch einmal ihre Forderungen. Als sie dann mal selber im  Büro der SED vorbeischauen, was aus ihrem Brief geworden ist, werden sie nur ganz kurz angebunden bei unteren Beamten abgefertigt.

Jetzt reicht es. Jetzt drohen die Bauarbeiter der Stalinallee offen mit einem Streik, und zwar für den 16. Juni. Diese Ankündigung geht schon herum wie ein Lauffeuer, von Mund zu Mund. Nur die Führung der SED hat den Schuss noch nicht gehört. Die Arbeiter machen ihre Drohung wahr und treten am 16. Juni tatsächlich in den Ausstand. Ein ungeheuerlicher und noch nie da gewesener Vorgang im Arbeiter- und Bauernstaat. Abordnungen der Streikenden fahren zum Studio des Amerikaner-Senders RIAS und bitten um eine Veröffentlichung der Streikforderungen. RIAS strahlte sein Programm auch über die Mittelwellen-Frequenzen aus. So wusste mit einem Schlag die gesamte Republik von Görlitz bis Salzwedel vom Streik der Berliner Bauarbeiter. Der Zorn über drei Jahre Chaos-Politik der SED entlud sich. Wir haben das oben schon beschrieben.

Die Regierung der DDR schlug den Widerstand mit äußerster Brutalität nieder. Da wurden Leute von zu Hause abgeholt und in einen ehemaligen Schlachthof gefahren. Dort gezwungen auf Stroh nieder zu hocken. Dann wurden sie von brutalen Stasi-Schlägern arg zugerichtet. Wobei Knochen brachen und Zähne ausfielen. Dann in eine Kuhle gestoßen. Nach der Verurteilung mussten sich fünf Häftlinge eine Zelle von 15 Quadratmetern teilen, mit einem Klo in der Zelle. Einmal am Tag ein Liter Wasser zum Waschen für fünf Leute. Einmal im Monat ein neues Handtuch. Andere Häftlinge wurden in eine ein Quadratmeter umfassende Zelle gesperrt. Dann wurde Wasser eingelassen bis zum Hals. Das Wasser wurde immer kühler. Die bedauernswerten Menschen wurden bis zu 48 Stunden in so einer Zelle gehalten. Sie sollten Untaten gestehen und Kollegen mit Falschaussagen belasten. „Das Gelbe Elend“ – das Zuchthaus in Bautzen. Das Gefängnis in Cottbus. Walter Kempowski hat die Zustände in den Lagern und Gefängnissen ausführlich beschrieben <3>.

Nun hätte man eigentlich davon ausgehen können, dass der Genosse Generalsekretär Walter Ulbricht sofort von seinen Ämtern hätte zurücktreten müssen. Sie erinnern sich? Als das Politbüro der SED nach Moskau funkte, dass sie die insgesamt drei Milliarden Mark für Militarisierung und Zwangskollektivierung beim besten Willen nicht mehr aufbringen könnte, antwortete Moskau: ja gut, dann macht doch mal langsam! Da hätte die DDR-Regierung die Normerhöhung eigentlich vertagen können. Doch es war Ulbricht, der ganz entgegen seines bisher üblichen bedingungslosen Kadavergehorsams gegenüber Moskau in diesem Falle die Zeichen ignorierte und auf eigene Faust den harten Kurs weiter gnadenlos durchgezogen hat.

Spätestens nach dem Desaster vom 17. Juni hätten die Sowjets den Spitzbart mit Brille eigentlich aus dem Verkehr ziehen müssen. Schon aus ureigenstem Überlebensinteresse. Das passierte aber nicht. Warum das? Um das zu verstehen, müssen wir noch einmal in die Rückblende gehen. Stalin war im Jahre 1952 schon ziemlich abgeschlafft. Seine potentiellen Nachfolger scharrten bereits mit den Hufen. Die letzte spektakuläre Aktion des Generalissimus Stalin bestand 1952 darin, der Weltgemeinschaft die Preisgabe der DDR anzubieten. Die DDR könnte nach Stalins Vorstellungen in einem wiedervereinigten Gesamtdeutschland aufgehen. Dieses Gesamtdeutschland müsste nicht einmal dauerhaft auf ein eigenes Militär verzichten. Einzige Bedingung: Deutschland sollte politisch neutral sein und keinem Block angehören. Doch der Westen ignorierte das Angebot. Damit war diese eigentlich ganz sympathische Option sang- und klanglos von der Bildfläche verschwunden. Am 5. März 1953 war Väterchen Stalin dann an den Folgen eines Schlaganfalls verstorben. Es wurde gemunkelt, sein Geheimdienstchef Laurenti Beria habe hier mit Gift ein bisschen nachgeholfen, um selber schneller an Stalins Stelle treten zu können.

Der Tod von Stalin hinterließ für mindestens drei Jahre ein gefährliches Machtvakuum in der Sowjetunion. Genau in diesem Machtvakuum ereigneten sich die Aufstände in der DDR. Um die Nachfolge von Stalin bewarben sich fünf Herrschaften. Einer davon war Laurenti Beria. Ausgerechnet der frühere Geheimdienst- und Folterchef der Sowjetunion, Beria, kam nun mit dem Vorschlag, die Sowjetunion zu demokratisieren, die Beziehungen zum Westen zu entkrampfen, und die DDR entweder in der Bundesrepublik aufgehen zu lassen oder zumindest in eine bürgerliche Fassadendemokratie zurückzuverwandeln. Das konnten seine Rivalen im Politbüro der Kommunistischen Partei nun gar nicht nachvollziehen. Die Herren Bulganin, Molotow, Malenkow und Chruschtschow lauerten auf den richtigen Augenblick, um den verhassten Beria loszuwerden.

Ganz anders war die Stimmung im Politbüro der SED. Die Mehrheit der Politbüro-Mitglieder sympathisierte mit Beria, und hoffte, mit Berias Hilfe aus der von Ulbricht angerichteten  Zwickmühle herauszukommen. Nach dem Debakel vom 17. Juni wurden die Messer gewetzt. In der Nacht vom 7. auf den 8. Juli 1953 war es dann so weit: Politbüro-Mitglied Wilhelm Zaisser fackelte nicht lange und forderte die Ablösung Walter Ulbrichts. An Ulbrichts Stelle sollte ein Führungskollektiv treten. Der bisherige Chefredakteur des Neuen Deutschlands, Rudolf Herrnstadt, sollte zukünftig Erster Sekretär der SED sein. Für Zaissers Vorschlag stimmten im Politbüro Friedrich Ebert (der Sohn des früheren Reichspräsidenten gleichen Namens), Heinrich Rau und Elli Schmidt. Für Ulbricht stimmten lediglich Hermann Matern und ein gewisser Erich Honecker.

Nun begab es sich aber zu jener Zeit, dass der Hoffnungsträger Beria mittlerweile bei einer Sitzung des Zentralkomitees am 26. Juni auf offener Bühne verhaftet worden war und von da an im Gefängnis saß. Irgendwann wurde er auch hingerichtet. Das verbliebene Qartett Molotow, Malenkow, Bulganin und Chruschtschow zitierte für den 9. Juli ausgewählte Politbüro-Mitglieder der SED nach Moskau. Zu den Auserwählten zählte auch Walter Ulbricht. Und jetzt kommt’s: die Sowjets diktierten ihren Vasallen, dass zwar die harte politische Repression bleiben müsse. Aber in der Wirtschaftspolitik müsse eine radikale Rolle rückwärts vollzogen werden. Das Ganze nannte sich „Neue Politik“. Die Normerhöhung um zehn Prozent wurde bereits am 17. Juni zurückgenommen. Jetzt sollte auch noch der Ausbau der Schwerindustrie zurückgefahren werden zugunsten einer Verbesserung der Lebensqualität in der DDR. Die Sowjets beauftragten ausdrücklich den Mann damit, diese Politik umzusetzen, der sich bisher mit Händen und Füßen dagegen gewehrt hatte: Walter Ulbricht nämlich. Und jetzt ist Ulbricht auch wieder der gehorsame Vollstrecker der Politik Moskaus. Ulbricht kehrt nach Berlin zurück, gibt sich als autorisierter Vertreter jener Politik aus, die er eben noch bekämpft hatte – und entmachtet sofort jenes Politbüro-Mitglied, das die ganze Zeit genau diese Neue Politik gefordert hatte: nämlich Wilhelm Zaisser. Die Motive der Moskauer Führung, mit Ulbricht ausgerechnet jenen Mann zum Krisenmanager zu machen, der diese Krise überhaupt nur auf die Spitze getrieben hat, bleiben ungeklärt. Für Ulbricht hat sich die langjährige Erfahrung im Zentrum der Macht in Moskau gelohnt. Ulbricht hatte die  grausigen Schauprozesse erlebt und jede noch so abartige Wendung in Stalins Politik geschmeidig mit vollzogen. Er kannte und überlebte den Moskauer Intrigantenstadl. Er war dabei zum gefühllosen Bio-Roboter mutiert, der menschliche Bindungen nicht mehr einging. Und so hatte Ulbricht wohl auch geahnt, dass Beria scheitern würde. Und hatte Berias Vorgaben großräumig ignoriert. Und Ulbricht wusste schon vor Zaisser und Herrnstadt, von wo der neue Wind wehte. Am 2. Juni 1953 unterzeichnet nämlich Ulbricht zusammen mit dem Ministerpräsidenten der DDR, Otto Grotewohl, die Geheime Verschluss-Sache 210/53. Hier wird bereits vor dem 17. Juni der Beschluss zur Umwandlung der DDR in einen sozialistischen Musterstaat nicht nur zurückgenommen. Sozialismus wird geradezu verboten! Denn in der Verschluss-Sache heißt es:

„Die Herausgabe aller Bücher und Broschüren über die II. Partei-Konferenz und die Verwendung von Zitaten aus dem Referat, der Diskussion und dem Beschluss der II. Parteikonferenz in der Presse, in Zeitschriften, öffentlichen Versammlungen und Lektionen, Broschüren etc. ist ab sofort einzustellen.“

Das ist George Orwells Roman 1984 in Reinkultur. Eben noch hat man den Leuten eingehämmert, dass jetzt alles auf die Einrichtung des Sozialismus auszurichten sei. Und jetzt sagt man: alles Quatsch. Sozialismus ist verboten. Husch zurück zur Fassadendemokratie. Nun, im Endeffekt war jetzt die Suppe durch die vielen Köche total verdorben. Eine halbgare Fassadendemokratie existierte fortan mehr oder minder friedlich neben Ansätzen eines halbgaren Sozialismus. Zusammengehalten wurde dieses eingefrorene Machtpatt durch die harte Hand des Genossen Generalsekretärs Walter Ulbricht <4>. Das Ergebnis: ein Volk in Duldungsstarre und im Zustand innerer Kündigung. Eine permanente Verhinderung des Kollapses durch immer weitere Anlehnung an den kapitalistischen Westen. Und das bei gleichzeitig permanentem Abfluss qualifizierter DDR-Bürger in die Bundesrepublik. Bis auf die permanente Blutarmut dann im Jahre 1989 der Exitus folgte. Das dauerhafte Sterben der DDR begann bereits am 17. Juni 1953 <5>.

Zum Abschluss erzähle ich noch einen DDR-Witz, den mir Tante Lotte aus Quedlinburg im Jahre 1966 erzählt hat, und der den Geist jener Jahre ganz gut wiedergibt. Also: das Zentralkomitee der SED legt Ulbricht dringend nahe, sein Saubermann-Image zu verbessern, indem er sich von seinen Gespielinnen trennt und nur noch treu zu seiner Ehefrau Lotte Ulbricht hält. Ulbricht geht zu seiner ersten Geliebten und fragt sie, was sie sich als Abschiedsgeschenk von ihm wünscht. Die erste Geliebte wünscht sich als Abschiedsgeschenk ein eigenes Haus. Gut, sagt Ulbricht, das Haus sollst Du bekommen. Ulbricht geht zu seiner zweiten Geliebten. Die wünscht sich ein Auto der Marke Wartburg. Gut, auch das soll sie kriegen. Schließlich fragt Ulbricht seine dritte Geliebte. Die wünscht sich zum Abschied nur ein Porträt-Foto von ihrem Walter. Ulbricht ist gerührt und erfüllt ihr diesen bescheidenen Wunsch. Nach einem Jahr begegnet er seiner ersten Geliebten. Er fragt, wie es ihr ergangen ist. Die sieht ganz ausgemergelt und verzweifelt aus: „Ach, Walter! Das Dach ist zusammengekracht und der Regen ist reingekommen. Das Haus musste wieder abgerissen werden! Ich weiß jetzt gar nicht wo ich bleiben soll!“ Ulbricht trifft die zweite Geliebte. Die sieht auch ganz schön abgegessen aus: „Ach Walter, was soll ich sagen. Der Motor hat versagt, und jetzt steht das Auto auf der Landstraße! Ich habe nichts davon.“ Schließlich trifft Ulbricht noch seine dritte Geliebte. Die ist frisch frisiert, elegant gekleidet und sichtlich zufrieden. „Und, wie geht es Dir?“, fragt Ulbricht. Die dritte Geliebte sagt: „Ja, Walter, mir geht es ganz ausgezeichnet. Ich habe mich mit Deinem Bild am Bahnhof aufgestellt und gut Geld verdient. Ich habe immer gerufen: Einmal anspucken zwanzig Pfennige! Einmal anspucken zwanzig Pfennige!“

Wir lernen aus der Geschichte, wie wir die Zukunft besser machen.

Quellen und Anmerkungen

<1> Eine inhaltlich sehr gute Dokumentation wurde 1990 im Auftrag der DDR-Filmgesellschaft DEFA erstellt: https://www.youtube.com/watch?v=NSiQsLaeP7A

<2> https://epublications.marquette.edu/cgi/viewcontent.cgi?article=1711&context=dissertations_mu

<3> Walter Kempowski: Im Block. Ein Haftbericht. München 2004.

<4> „Thus we see how the uprising solidified the power structure in the GDR for decades to come.“

https://marcuse.faculty.history.ucsb.edu/classes/133p/133p99/jim1953.993.htm

<5> Torsten Diedrich/Ilko-Sascha Kowalczuk (Hg.): Staatsgründung auf Raten? Zu den Auswirkungen des Volksaufstandes 1953 und des Mauerbaus 1961 auf Staat, Militär und Gesellschaft in der DDR. Berlin 2005.

Bildquellen: https://commons.wikimedia.org

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Kommentare (9)

9 Kommentare zu: “HIStory: Der 17. Juni 1953

  1. Ginganz sagt:

    Nun deutlich ist die Ignoranz des Westens bzw der US-GB Macht ihre einmal gewonnene Einfluss-Zone zugunsten letzterer aufzugeben! Aber diese Perspektive könnte doch wohl in ihrer Kontinuität noch weiter geschärft werden!?
    Insbesondere im Hinblick auf eine wichtige Zeitforderung als Fortsetzung der Gewaltenteilung auch eine systematische und permanente Entflechtung von Wirtschaft, Staat und Kultur zu betrachten und zu fordern!
    Auch scheint mir die wirtschaftswissenschaftliche und praktische Leistung eines Ludwig Erhard für einen sozialen Fortschritt nicht angemessen gewürdigt zu werden!?
    Siehe auch: fragen-der-freiheit.de
    G

    • _Box sagt:

      Im Oktober 1948 kam es in Stuttgart zur Protestkundgebung der Gewerkschaften gegen die Politik des Frankfurter Wirtschaftsrates unter Ludwig Erhard, mit Zehntausenden. Sie forderten unter anderem, ‚Wirtschaftsdiktator‘ Erhard abzusetzen, der für unsoziale Bestimmungen in der Währungsreform und Verringerung des Realeinkommens verantwortlich gemacht wurde. Die Antwort der Besatzungsmacht USA bestand aus Tränengas, berittener Polizei und Panzern. Dahn dazu: „Am Abend hatte das Zentrum ein ‚kriegsähnliches Aussehen‘, wie die Zeitungen schrieben, Rädelsführer wurden verhaftet und im Raum Stuttgart der Ausnahmezustand verhängt.“

      Aus:
      17. Juni 1953: Propaganda statt Wahrheit auch nach 70 Jahren
      17. Juni 2023 um 8:45 Ein Artikel von Tilo Gräser
      https://www.nachdenkseiten.de/?p=99335

      Oder hier:

      Ludwig Erhards „Formierte Gesellschaft“
      Albrecht Müller
      07. Januar 2023 um 14:00 Ein Artikel von: Albrecht Müller

      Der frühere Bundeskanzler, bekannter als Bundeswirtschaftsminister im Kabinett Adenauer, hat in seiner Zeit als Bundeskanzler eine eigenartige Idee in die öffentliche Debatte eingeführt. Die Formierte Gesellschaft. Siehe hier in der Darstellung der Konrad-Adenauer-Stiftung.

      https://www.nachdenkseiten.de/?p=92210

  2. nplus1 sagt:

    Hervorragend, Herr Ploppa! Ich habe vieles dazugelernt. Ich bin Schweizer – bei uns ist das nicht so deutlich herübergekommen. Mein Geburtstag: 1. Juni 1953.

  3. _Box sagt:

    Eine erweiterte Sicht auf die westliche Besatzungszone, oder wie Demokratisierung, zum wievielten Mal eigentlich, verhindert wurde:

    Der Arbeiteraufstand am 17. Juni 1953 in der DDR war von Anfang an auch ein Kampfplatz der Geschichtsschreibung in Ost und West. Das dürfte zum 70. Jahrestag des Ereignisses nicht viel anders sein. Was auf beiden Seiten gern unterschlagen wurde, war der Kontext der Nachkriegsgeschichte, in der es durchaus noch offen war, zu welcher Ordnung sich ein geteiltes oder gar vereintes Deutschland entwickeln würde. In der DDR wurde die offensichtlich gewordene Unzufriedenheit, ja, Wut ganzer Belegschaften, neben zögerlichem Eingeständnis von Fehlern, auf vom Westen eingedrungene antisozialistische, wenn nicht faschistische Kräfte reduziert. Eine differenzierte Bewertung in der Öffentlichkeit war nicht möglich.

    Wolfgang Leonhard hat im Mai 1945 auf einer internen Sitzung sehr glaubhaft Walter Ulbricht sagen hören: »Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben.« Die Nachkriegspolitik der westlichen Besatzungsmächte hat allerdings gezeigt, dass in deren internen Sitzungen derselbe Satz gefallen sein muss.

    Beispiel Hessen. Hier hatte die US-Militärbehörde sehr schnell darauf gedrängt, dass die Ordnung durch eine neue Verfassung wiederhergestellt wird. Sie sollte mit einem Volksentscheid angenommen werden. So weit, so gut. Die damals handelnden Politiker waren zumeist aus Widerstand und Verfolgung gekommen, sie hielten sich an den amerikanischen Fahrplan, wichen aber in einem zentralen Punkt ab – bei der Wirtschaftsordnung. In Artikel 41 wurde gefordert, dass sofort nach Inkrafttreten der Verfassung die Großindustrie in Gemeineigentum überführt wird: Bergbau, Kohle, Kali und Erze, dazu die Stahlwerke, die Energiebetriebe und das Verkehrswesen. Großbanken und die Versicherungen sollten unter staatliche Verwaltung genommen werden. Die US-Besatzungsmacht war entsetzt. Aber der angekündigte Volksentscheid konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden. So ordneten sie als Ausweg an, neben der Abstimmung über die Verfassung, über Artikel 41 gesondert abzustimmen. In der irrigen Annahme, so viel Sozialismus werde schon keine Mehrheit finden.

    Am 1. Dezember 1946 stimmten 72 Prozent der Hessen für die Enteignung der Großindustrie. Die hessischen Bürger hatten sich für eine wahrhafte Volksverfassung entschieden. Damit entsprachen sie dem übergroßen Willen aller Deutschen. Wo immer es im gleichen Jahr Volksentscheide zur selben Frage gab, ob in Berlin, Nordrhein-Westfalen oder Sachsen, stimmten zwischen 70 und fast 80 Prozent für Gemeineigentum der Großindustrie. Oft war noch die Enteignung von Kriegsverbrechern und Großgrundbesitzern vorgesehen. Die an der Spitze der gesellschaftlichen Pyramide hatten ihr Eigentum im Ganzen erhalten, und manche hatten es gemehrt, alle anderen waren zu Millionen um ihr Eigentum gebracht. Die Leute waren sicher nicht übers Jahr zu Antifaschisten oder gar Sozialisten geworden, aber sie fühlten sich wohl betrogen und wollten die Schuldigen und deren Eigentumsbasis nicht davonkommen lassen.

    Das Entsetzen der Westalliierten steigerte sich. Es soll zu hektischen Beratungen in Washington gekommen sein. Im Ergebnis wurde der Volkswille unterlaufen und die Sozialisierung mit allen Mitteln verhindert. Wenn nicht durch direktes Verbot, so durch den Erlass von Ausführungsgesetzen, die alles blockierten. Gelang die Enteignung in Einzelfällen doch, soll es Abfindungen in Millionenhöhe gegeben haben, mit denen man sich schnell wieder auf dem Markt einkaufen konnte. Was offenbar völlig aus der Erinnerung getilgt wurde, ist die historische Tatsache, dass die Westdeutschen diesen Demokratiebetrug keineswegs widerstandslos hinnahmen.

    Im Oktober 1948 rief die Stuttgarter Gewerkschaftsleitung zu einer Protestkundgebung gegen die Politik des Frankfurter Wirtschaftsrates unter Ludwig Erhard auf, an der Zehntausende aus den Großbetrieben von Bosch und Daimler teilnahmen. Die Absetzung des »Wirtschaftsdiktators« Erhard wurde gefordert, der für unsoziale Bestimmungen in der Währungsreform und Verringerung des Realeinkommens verantwortlich gemacht wurde. In der Innenstadt kam es zu einem Aufruhr, der von der US-Besatzungsmacht mit Tränengas, berittener Polizei und einer Panzerformation niedergeschlagen wurde. Am Abend hatte das Zentrum ein »kriegsähnliches Aussehen«, wie die Zeitungen schrieben, Rädelsführer wurden verhaftet und im Raum Stuttgart der Ausnahmezustand verhängt. Der Militärgouverneur Charles LaFolette machte eingedrungene »sächsische Kommunisten« für den Aufruhr verantwortlich. Warum weiß davon heute selbst in Stuttgart niemand mehr?

    Der bizonale Gewerkschaftsrat nutzte die allgemeine Empörung und rief für den 12. November zum 24-stündigen Generalstreik gegen die Politik des Wirtschaftsrates und der Besatzungsmächte auf. Er hatte dafür nach internen Absprachen sogar die inoffizielle Genehmigung der Militärbehörden, die sich eine Ventilwirkung versprachen. Doch die Wut war so groß, dass es der größte Massenstreik seit der Weltwirtschaftskrise wurde – mehr als neun Millionen Arbeiter beteiligten sich. (Anteilmäßig sehr viel mehr als beim angeblichen Volksaufstand des 17. Juni in der DDR.) Zu den Forderungen des ersten und letzten Generalstreiks im Nachkriegsdeutschland gehörten nicht die Erhöhung der Löhne, wohl aber die Überführung der Grundstoffindustrie in Gemeineigentum sowie die Demokratisierung und Planung der Wirtschaft. Die Wirtschaftsordnung war damals ernsthaft umstritten. Doch genau dieser Streit wurde unterbunden, er durfte nicht mit demokratischen Mitteln ausgetragen werden. Das politische Streikrecht wurde nicht ins Grundgesetz aufgenommen.

    Aus:
    12/2023Daniela Dahn
    Politikum 17. Juni
    https://www.ossietzky.net/artikel/politikum-17-juni/

  4. Schramm sagt:

    ►Eine Steigerung der Arbeitsleistung um 10 Prozent ohne Lohnausgleich, das war allenfalls ein Vorwand für die Arbeitsniederlegung, aber kein ausschlaggebender Grund für Teile der Arbeiterklasse, acht Jahre nach der äußeren militärischen Niederlage des deutschen Faschismus.

    Blicken wir doch nur auf die bundesdeutsche allgemeine ALG II./Hartz-IV-Regelleistung und Disziplinierungs- und Sanktionsmaßnahmen, ab dem 1. Januar 2005.

    Hier gab es für Arbeitslose den Zwang, auch für weniger als 50 Prozent des vormaligen Tariflohns eine Erwerbsarbeit anzunehmen oder bei Ablehnung drohte die Kürzung der Leistung.

    Nach meiner persönlichen Erfahrung im Jahr 2006, zu Beginn meiner Erwerbslosigkeit, nach dem Ende meines zeitlich befristeten Arbeitsvertrags als Tischlermeister im Martin-Gropius-Bau Berlin:

    Vom zuständigen Arbeitsamt in der Wolframstraße in Berlin-Tempelhof bekam ich als Meister und Projektleiter ein (vorgebliches) Arbeitsplatzangebot für Brutto 1200 Euro Monatslohn (ca. 7 Euro-Brutto-Stunde), bei einer 40-Stunden-Woche. Demnach, einen mtl. Netto-Lohn von 850 Euro; bzw. 5 Euro-Std.-Lohn.

    Der seit Jahren angestellte Tischlergeselle hatte nur einen Monatslohn in Vollzeit von 1700-Euro-Brutto. Infolge der Hartz-IV-Regelung, mit Zustimmung der DGB-Gewerkschaften, hätte ich als Meister und Projektleiter, mtl. 500-Euro weniger an Lohn erhalten.

    Mein monatlicher Lohnverlust hätte bei deutlich mehr als 60 Prozent gelegen!

    PS: Millionen von erwerbstätigen Frauen und Männer hatten infolge der sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Lohnpolitik erhebliche Einkommensverluste (psychologisch geradezu gewaltsam) hinzunehmen. Trotz alledem gab es keinen Widerstand gegen das monströse Sozialverbrechen infolge der ALG II-Neuregelungen für Erwerbslose, mit Wirkung seit 2005.

    ►Meines Erachtens erklärt sich der 16./17. Juni 1953 vor allem aus der ungebrochenen und fortbestehenden Bewusstseinslage – vor wie nach 1945 – der deutschen Arbeiterklasse.

    01.08.2023, R.S.

  5. Ralf 04 sagt:

    Diese Verklärung eines der ersten US geführten Farbenputschs ist , genüber anderen hochwertigen Beiträgen von Herrn Ploppa, ein sehr derber Ausrutscher.

    • Renaldo sagt:

      Ich stimme Ihnen zu. Herr Ploppa brachte in der Vergangenheit gute Beiträge. Dieser Beitrag zeigt, dass er in der Lage ist eklektisch Daten zu sammeln. Also hat er akkumulierte KENNTNISSE. Aber er ist völlig AHNUNGslos.

  6. KaraHasan sagt:

    Hatten die Alliierten nicht am 17. Juni 1953 vorgeschlagen, Österreich an Deutschland anzuschließen, um somit dem Westen von Deutschland eine höhere politische Bedeutung zu verleihen?

  7. paul1 sagt:

    Lässt vieles offen. Was war mit den westlichen Geheimdiensten? Der Schrifttext sagt nichts dazu.

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