Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.
Unser Leben ist dabei, sich dramatisch zu verändern - im politischen, im sozialen, im medizinischen Bereich ebenso wie im kulturellen Leben. Die Phänomene der Endzeit werden unseren Alltag sozusagen auf natürliche Weise durchdringen, auch wenn das Wort natürlich in diesem Kontext aberwitzig anmutet. Aber es ist nun einmal ein Naturgesetz, dass auch einstürzende Systeme ihre Dynamik besitzen. Der von den Menschen längst eingeleitete Ökozid geht an den Nerv allen Lebens. Wir sehen also: man muss gar nicht radikal denken und handeln, um es mit radikalen Ergebnissen zu tun zu bekommen. Für gewöhnlich reicht die pure Ignoranz einer Gefahr, um sich ihr unversehens gegenüberzusehen. Versuchen Sie also, die bittere Pille, die ich Ihnen verabreichen möchte, so gelassen wie möglich zu schlucken. Denn wenn wir nicht lernen, vorhandene Fakten anzuerkennen, haben wir überhaupt keine Chance, auf Dinge Einfluss zu nehmen, die uns gerade aus dem Ruder laufen. Dann sollten wir jedenfalls so ehrlich sein, unser globales Zerstörungswerk mit Verve zu Ende zu führen und uns nicht mit lächerlichen Reparaturarbeiten begnügen, die sich früher oder später doch nur als Selbstbetrug herausstellen werden.
Tatsache ist, dass wir Menschen dabei sind, jegliches Leben auf diesem Planeten auszulöschen – wissentlich. Das ist vorsätzliche Tötung. Es bedarf wenig Phantasie, um sich vorzustellen, dass wir es demnächst mit politischen Verhältnissen zu tun bekommen, die man getrost als diktatorisch bezeichnen darf. Auf der Strecke blieben sämtliche demokratischen Errungenschaften sowie alle humanistischen Prinzipien, derer wir uns so selbstgefällig rühmen. Diesen Preis haben nicht wir als die Schuldigen, sondern unsere Nachkommen zu bezahlen.
Eine Ökodiktatur, wie ich sie notgedrungen kommen sehe, ist nicht mit herkömmlichen moralischen Maßstäben zu messen. Sie wird uns von der röchelnden Natur aufgezwungen, deshalb ist sie per se gerecht. Moral taugt nichts angesichts des drohenden Untergangs. An dieser Stelle wird Politik zum Notwehrreflex. Die freie Gesellschaft, das ist nur logisch, hat demnächst endgültig ausgedient. Unsere Kinder drohen zu Überlebensmonstern zu mutieren, die es durch straffe Herrschaftsstrukturen unter Kontrolle zu halten gilt. Nicht mehr und nicht weniger.
Wer den Ernst der Lage noch immer nicht wahrhaben will, sollte mit mir im Geiste eine jener Computersimulationen durchspielen, die der Wissenschaft so häufig als Beweisführung dienen. Wir jagen die Zeit, in der das Industriezeitalter ökologisch voll zu Buche schlug, durch den Zeitraffer und verdichten sie auf eine Stunde. Angenommen, wir starteten 1893 vor der amerikanischen Westküste in eine Umlaufbahn um die Erde. Pusteln bildeten sich entlang der Pazifikküste, die an der Ostküste bereits zu bedenklichem Ausschlag herangewachsen wären. Nach der Atlantiküberquerung stellten wir fest, dass ganz Europa befallen ist. Es sind die Städte, die wie Metastasen ins Land greifen. Schmutzige Schlieren ergössen sich in Flüsse und Meere. Unterdessen schrumpften die gigantischen Waldflächen in sich zusammen und machten braunen Wüsten Platz. Ein immer dichter werdendes Netz von Straßen und Schienen legte sich um den Globus, ganze Kontinente verschwänden unter einem diffusen Grauschleier. Endlich an den Ausgangspunkt zurückgekehrt, stellten wir fest, dass die Erde zu einer Geschwulst verfault ist, die von Rauch- und Abgasschwaden vielerorts gnädig verdeckt wird.
In fünfzig Jahren wird die ultraviolette Strahlung derart intensiv sein, dass kaum noch Pflanzen wachsen. Das betrifft auch die Grundnahrungsmittel wie Gerste und Reis. Biologisch gesprochen sind wir dabei, aus der Zeit der Bäume in die Zeit des Gestrüpps zu wechseln. Die immer drastischer werdende Erderwärmung beginnt bereits die Windrichtungen zu ändern. Je mehr Energie in die Atmosphäre gepumpt wird, desto hochtouriger läuft die planetarische Windmaschine. Die Stürme der Zukunft haben eine bis zu siebzig Prozent größere Vernichtungskraft. Versicherungsmeteorologen halten es nur noch für eine Frage der Zeit, wann die „Größtkatastrophe“ einsetzt. Super-Zyklons mit Geschwindigkeiten von 400 km/h könnten die Innenstädte von New York oder Tokio mit einem Schlag zerschmettern. Ein derartiger Wirbelsturm würde sämtliche für Naturkatastrophen zurückgelegten Reserven der Rückversicherer – weltweit etwa 160 Milliarden Dollar - mit einem Schlag aufzehren und die internationalen Finanzmärkte erschüttern.
Auch in Europa werden Hurrikane toben, wie wir sie uns nicht auszumalen vermögen. Sie werden unsere Mülldeponien ausschwemmen und den Feinstaub aus dreihundert Millionen Jahrestonnen chemischer Abfälle als giftigen Schleier übers Land legen. Wir werden mit Überschwemmungen in Gegenden zu rechnen haben, die darauf nicht eingestellt sind. Millionen Menschen werden Seuchen und Hungersnöten zum Opfer fallen. Experten schätzen, dass die mit Abfallstoffen beladenen Fluten zehn Prozent der landwirtschaftlichen Nutzflächen auf diesem Planeten vernichten werden.
Wir wissen dies alles, doch unternehmen wir etwas dagegen? Oh nein, nicht das Geringste. Dabei leiden schon heute über die Hälfte der Menschen in den zwanzig größten Städten der Welt an Atemwegserkrankungen. Die Medizin registriert verblüfft eine Rückkehr von Seuchen, die längst beherrscht schienen. In Zukunft steigen die degenerativen Nervenkrankheiten in einem Maße an, dass wir uns in einer Welt von Zombies wähnen werden. Ich könnte Ihnen die aktuelle Schreckensbilanz bis zum Erbrechen zitieren. Der einzige Effekt, der sich bei Ihnen einstellen würde: Sie wären meiner Aufzählung schnell müde, Ihre Aufnahmefähigkeit und Ihr Empörungspotential wären schneller erschöpft, als es der Sache dienlich ist. Wir alle sind in individuellen Geschichten verstrickt, und es ist nicht einfach, sich dort herauszunehmen Selbst wenn dies gelänge, wären wir doch nur mit unserer persönlichen Ohnmacht konfrontiert.
Unser Planet wird in den nächsten Jahren zu einem globalen Dorf schrumpfen, in dem die Menschen jeder Mitverantwortung enthoben auf ein reines Konsumentendasein reduziert sein werden. Ein manipuliertes Milliardenheer wird sein Leben im Scheinpluralismus weniger Konzerne fristen. Unsere Demokratien sind schon jetzt zu Organismen verkommen, die allein durch wirtschaftliches Wachstum überleben. Bleibt dieses aus, und erste Anzeichen erleben wir gerade, macht sich sofort ein rechtes Protestpotential bemerkbar, das direkt in den verschleierten Faschismus führt.
Inzwischen glaubt die Mehrzahl der Menschen, dass die Lösung der ökologischen Probleme in erster Linie ein Fall für die Wissenschaft ist. Aber solange Wissenschaft und Ethik zwei getrennte Begriffe sind, wird sich an der Talfahrt des Lebens nichts ändern. Der Hochmut der Gentechnologie macht dies auf krasse Weise deutlich. Früher gab es in Asien über 300 verschiedene Reissorten, heute teilen sich einige Großkonzerne den Markt mit wenigen genmanipulierten Pflanzen. Die Folge ist, dass die erzwungenen Monokulturen ganze Landstriche veröden lassen. Wenn sich Wissenschaft und Ethik nicht in wechselseitiger Beziehung begreifen, werden wir keine Lösungen finden.
Es sind die ideologischen Barrieren der bis zum heutigen Tage betriebenen Formen des Umweltschutzes, die erkannt und beiseite geräumt werden müssen. Es geht darum, die Brille des alten Umweltschutzes, der eigentlich nur Menschenschutz bedeutet, abzunehmen und durch die Brille der ganzheitlichen Ökologie zu ersetzen. Sie erst lässt uns erkennen, dass die Umwelt nichts ist, was außerhalb von uns existiert, sondern dass wir Teil einer einzigen und einzigartigen Welt sind. Es ist schon ein erbärmliches Zeugnis, wenn man das den Menschen in Erinnerung bringen muss.
Wenn ich also in meiner grenzenlosen Naivität einer Ökodiktatur das Wort rede, so deshalb, weil ich den Traum nicht aufgeben will, dass wir eines Tages zurückfinden werden zu einem Verständnis, das nicht nur uns selbst, sondern auch unserer Mitwelt nützt. Sein oder Nichtsein ist zur aktuellen Alternative der Menschheit geworden. Es geht in der gesellschaftspolitische Debatte nicht mehr um links und rechts, es geht auch nicht um oben und unten, es geht um zukunftsfeindlich und zukunftsfreundlich. Die eigentliche Frage lautet daher: Kollektiver Selbstmord oder geistige Erneuerung.
Es wird wohl auf den kollektiven Selbstmord hinauslaufen. Also vergessen Sie meine Fiktion einer Ökodiktatur. Sie müssen schon von selbst darauf kommen, dass man die notwendige Operation auch wollen muss, wenn man am Leben hängt. Ich danke Ihnen.
(Aus einem Vortrag, den ich 1993 an den Universitäten in Hamburg, Bonn und Innsbruck gehalten habe. Und Hand aufs Herz: hat sich seitdem irgendetwas zum Besseren gewendet?)
+++ Dirk C. Fleck ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er wurde zweimal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Sein Roman "Go! Die Ökodiktatur" ist eine beklemmend dystoptische Zukunftsvision. +++ Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Bildquelle: Lemberg Vector studio / Shutterstock.com
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