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Halbkoloniale Konzepte | Von Stephan Ossenkopp

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Ein Standpunkt von Stephan Ossenkopp.

Deutschland will mehr in den Globalen Süden investieren. Das klingt zunächst nach einem richtigen Ansatz, denn der Globale Süden ist im Aufstieg und gewinnt rasch an politischer und wirtschaftlicher Bedeutung. Doch aus einem guten Kerngedanken kann man auch die falschen oder zumindest unzureichenden Schlüsse ziehen. Ein aktuelles Beispiel ist die Kommission der ehemaligen Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer „Welt im Umbruch - Deutschland und der Globale Süden“. Diese Kommission hat sich zur Aufgabe gemacht, die kommende Bundesregierung zu beraten. Ihr Abschlussbericht wird im Mai erwartet, ein Vorab-Papier mit den wesentlichen Aussagen kursiert bereits. Ziel war es, so jedenfalls der Titel, „Impulse für die Neuausrichtung von Deutschlands Beziehungen zu den Ländern des Globalen Südens“ zu geben. Doch so neu, wie hier angepriesen, ist es dann doch nicht geworden. Eher verschleiert in alter halbkolonialer Manier.

An der schlichten Feststellung, dass sich die Welt in einem dramatischen Umbruchprozess befindet, in dessen Verlauf der Einfluss der bislang dominierenden transatlantischen Mächte immer mehr schwindet und der asiatisch-pazifische Raum immer mehr zum Zentrum von Entwicklung und Weltwirtschaft wird, vermag auch der deutsche Mainstream nicht mehr vorbeizureden. Die BRICS-Staaten sind spätestens seit ihrem Gipfel im südafrikanischen Johannesburg 2023 auf der internationalen Agenda, als mit einem Schlag eine riesige Welle von Beitrittswünschen an das Bündnis herangetragen wurde. Und im Oktober 2024, als sich der erweiterte BRICS-Kreis im russischen Kazan traf und beschloss, 13 Partnerländer aufzunehmen, da dämmerte es vielen plötzlich: Russland ist nicht isoliert, und viele Fragen der Weltgemeinschaft, einschließlich der Sicherheit, der Wirtschaft und des Finanzsystems, werden nun unüberhörbar aus einer neuen Perspektive betrachtet. Der Globale Süden, vor allem die ehemaligen Kolonien Europas, hat sich mit den BRICS ein neues Forum geschaffen, um seine Interessen selbstbewusst und eigenständig zu artikulieren und zu institutionalisieren.

In der westlichen Politik und in den deutschen Medien gibt es keinen oder noch keinen brauchbaren Diskurs über die Folgen dieses historischen Wandels. Vielleicht ist die Kommission von Kramp-Karrenbauer ein Symptom dafür, dass man das schließlich ändern will, denn hinter ihr steht viel Macht. Federführend ist die Agentur Global Perspectives in Berlin, die von einem massiven Netzwerk aus Stiftungen, Politik und Medien getragen wird, darunter die Stiftung Mercator, die Stiftung Wissenschaft und Politik, aber auch das Auswärtige Amt, der BDI und die Bertelsmann Stiftung. Die einleitenden Grundannahmen der Studie klingen zunächst durchaus plausibel.

„Die Welt ist im Umbruch. Die bisherige Weltordnung steht in Frage. Eine multipolare Welt ist bereits Realität und zugleich mehr denn je unter Druck. Der Westen als globales Werte- und Ordnungsmodell ist in der Defensive.“

Seit Mitte 2024 habe die Kommission daher mit Expertinnen und Experten aus dem Globalen Süden Empfehlungen erarbeitet, „wie Deutschland in Zeiten geopolitischer Verschiebungen seine Beziehungen zum Globalen Süden in zentralen Politikfeldern neu ausgestalten sollte“. An die Stelle traditioneller „Geber-Nehmer-Muster“ sollten Beziehungen treten, in denen „die Interessen beider Seiten realistisch formuliert und offen ausgehandelt werden“. Das weckt die Erwartung, dass Deutschland nun in echte Wirtschaftsverhandlungen mit Ländern in Afrika oder Asien eintritt, dass Forderungen nach einer gerechteren Finanz- und Wirtschaftsordnung breit diskutiert werden, dass gemeinsame Projekte zur Ernährungssicherung, Energiesicherheit, Infrastruktur und industriellen Entwicklung benachteiligter Länder entwickelt werden. Doch diese Erwartungen werden (weitgehend) enttäuscht.

Die Empfehlungen schwächen die geopolitische Dimension gerade nicht ab, sondern stärken sie: „Europa in einer multipolaren Welt“ heißt hier, die Verteidigungs- und außenpolitische Kapazität zu stärken. Man will sich militärisch besser aufstellen und eine „umfassende europäische Verteidigungsindustrie“ aufbauen. Dazu soll auch das Einstimmigkeitsprinzip in der EU aufgelöst werden. Neue Bündnisse und „Koalitionen der Willigen“ sollen an die Stelle multilateraler Organisationen treten. Das klingt wieder nach den unipolaren und elitären Clubs, die über die Köpfe der Andersdenkenden hinweg die Richtlinien diktieren wollen. Der militärpolitische Teil ähnelt sehr der interventionistischen Politik der NATO in Afghanistan, im Irak, in Libyen und anderswo, die mehr Chaos als Ordnung gebracht hat. Auch die wirtschafts- und handelspolitischen Empfehlungen wirken zunächst legitim:

„Soll die deutsche Wirtschaft erfolgreich bleiben, bedarf es der Deckung eines steigenden Energiebedarfs zu wettbewerbsfähigen Kosten, des Zugangs zu Rohstoffen, der Erschließung neuer Märkte, das Absichern von Lieferketten sowie der Anwerbung von Arbeits- und Fachkräften.“

Es ist jedoch nicht klar, unter welchen Bedingungen und mit welchen Gegenleistungen dieses berechtigte Interesse verfolgt werden soll.

Die Kommission empfiehlt in diesem Zusammenhang den Aufbau von Wertschöpfungsketten, die Überwindung von Risikoängsten bei Investitionen in Afrika und den verstärkten Einsatz von Wagniskapital. Dazu sei „mehr Präsenz in mineralreichen Staaten“ notwendig, und die „noch geringe interkulturelle Kompetenz, vor allem gegenüber dem afrikanischen Kontinent und Asien“ müsse von Führungskräften überwunden werden. Damit wird zumindest eingestanden, dass wir uns bisher zu wenig um Investitionen und die Beziehungen in die Länder des Globalen Südens gekümmert haben und dass die Hürden, auch die mentalen, für Investitionen nach Afrika hierzulande zu hoch sind. Deutlich ambivalenter klingen die Forderungen zur Arbeitsmigration. Deutschland mit seiner alternden Bevölkerung und seinem schrumpfenden Erwerbspersonenpotenzial wird als etwas dargestellt, das nur durch den Zuzug von Arbeits- und Fachkräften wieder eine ausreichende Produktivität erreichen könne.

Die „rund 12 Millionen Erwerbsfähigen“, die jährlich auf den afrikanischen Arbeitsmarkt drängen würden, seien sozusagen eine Chance, den Dienstleistungssektor in Deutschland mit Arbeitskraft zu versorgen. Das ist aber ein Braindrain von Kräften, die auch vor Ort wichtig wären. Es kommt den Autoren nicht in den Sinn, dass durch den Aufbau von Infrastruktur, Industrie und Mechanisierung der Landwirtschaft in den afrikanischen Ländern die jungen Arbeitskräfte im eigenen Land produktiv arbeiten könnten, statt in Deutschland im meist unterbezahlten Dienstleistungssektor zu arbeiten. Durch die Steigerung der Exporte von Maschinen und Spezialgütern könnte gleichzeitig der Industriesektor in Deutschland wieder ausgeweitet und eine weitere Deindustrialisierung verhindert werden.

Die Kommissionsvorsitzende Kramp-Karrenbauer hat sich für ihre Studie vor allem geopolitisch denkende Köpfe ins Boot geholt. Zum Beispiel den Chefökonomen des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, Ottmar Edenhofer, oder den ehemaligen Außenminister Joschka Fischer. Die Weltbank, die Münchner Sicherheitskonferenz, Agora Energiewende, die Universität der Bundeswehr und viele andere fungieren als beratende Experten. Dies zeigt sich insbesondere im zentralen Teil über die internationalen Finanzen. Es wird eingeräumt, dass die nach dem Zweiten Weltkrieg geschaffenen Institutionen, das sogenannte Bretton-Woods-System, sich in einer strukturellen Krise befinden. Der Globale Süden werde „zu wenig berücksichtigt“ und “dadurch in seiner Entwicklung benachteiligt“. Man wolle, dass Weltbank und Internationaler Währungsfonds „inklusiver werden und sich stärker den großen Menschheitsrisiken unserer Zeit widmen", wozu aber nicht Armut und auch vom Westen geschürte Konflikte gezählt werden, sondern nur „Klimawandel“ und „Verlust der Biodiversität“.

Dagegen sollen „fehlgeleitete Subventionen“ für fossile Energieträger und “ineffiziente Landwirtschaftspraktiken“ abgebaut werden. Auch der Export von Rohstoffen wie Öl und Gas wird kritisiert und eine Bepreisung über den EU-Emissionshandel gefordert, "denn sie senken zum einen die Nachfrage nach Öl, Kohle und Gas". Dies mache "den Verkauf fossiler Brennstoffe auf den Weltmärkten weniger rentabel und erhöht den Transformationsdruck der Exportländer". Man kann sich nur in Albträumen ausmalen, was es bedeuten würde, wenn Entwicklungs- und Schwellenländer den gleichen Bedingungen von Green Deal und Energiewende unterworfen würden, wie sie heute schon für Europa und insbesondere Deutschland gelten. Eine kleine wohlhabende Mittel- und Oberschicht könnte diese Verteuerung des Lebensstandards mehr oder weniger vorübergehend abfedern. Die Mehrheit der Menschen würde jedoch einen radikalen Rückgang ihres Lebensstandards und ihrer Lebenserwartung in apokalyptischem Ausmaß erfahren. Und die Kontrolleure der Finanzmärkte kassierten ab.

Besonders auffällig ist, dass in der Studie nirgendwo erwähnt wird, dass praktisch der gesamte Globale Süden, einschließlich des afrikanischen Kontinents, inzwischen Beziehungen zu China, der Russischen Föderation und dem Nahen Osten unterhält. Die Belt and Road Initiative (BRI), hierzulande besser bekannt als Initiative Neue Seidenstraße, zählt mittlerweile 150 Länder zu ihren Partnern. 120 Staaten haben China als größten Handelspartner. So entstehen Tiefseehäfen in Nigeria, Wasserkraftwerke in der Republik Kongo, Eisenbahnen in Kenia, Schnellzüge in Indonesien, Güterverkehrstraßen in Laos, Atomkraftwerke in Pakistan und vieles mehr. Wenn man neue Beziehungen mit dem Globalen Süden aufbauen will, kann man das nicht selektiv mit den sogenannten rohstoffreichen Ländern tun, sondern mit dem Kontinent als Ganzem. Afrika hat eine eigene Entwicklungsagenda, nämlich die Agenda 2063, die von der Afrikanischen Union verfolgt wird und die die vollständige infrastrukturelle Erschließung und Industrialisierung Afrikas zum Ziel hat. Die Neue Seidenstraße knüpft explizit an die afrikanische Entwicklungsvision an. Gleiches gilt für die Allianz Süd- und Südostasiatischer Staaten (ASEAN) und die Staaten Lateinamerikas.

Eine Strategiekommission Globaler Süden darf nicht davon ausgehen, dass sie im luftleeren Raum agiert, sondern muss sich vor Ort mit den bereits handelnden Akteuren abstimmen und win-win-Ergebnisse aushandeln. Besser wäre ein großes Gipfeltreffen zwischen Deutschland und den Ländern des Globalen Südens in Berlin, bei dem Staatschefs und Unternehmer von Brasilien über Äthiopien bis Indonesien ihre Vorstellungen von einer Partnerschaft Deutschlands mit dem Globalen Süden äußern können. Die Empfehlungen der Kommission „Welt im Umbruch“ sind jedenfalls zu geopolitisch motiviert und haben einen eurozentrischen Tunnelblick, da sie die Interessen der Europäer in den Bereichen Verteidigung, Rohstoffe und Fachkräfte in den Vordergrund stellen, auf Kosten einer wirklich fairen Partnerschaft. Der Globale Süden, selbstbewusst wie er geworden ist, wird sich nicht auf halbkoloniale Konzepte einlassen.

Die erwähnte Studie gibt es hier: Thesenpapier_Kommission

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bildquelle: Rakchai Duangdee / shutterstock


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