Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.
An alle Menschen, denen bewusst wird oder schon bewusst geworden ist, dass sie früher oder später durch Materialermüdung dahin gerafft werden: das ist ein Naturgesetz, Leute. Zu unseren Schein-Zeiten haben wir darüber die Nase gerümpft, als ginge es uns nichts an. Schein-Zeiten, das waren jene Jahre, in denen wir hätten scheinen können, in denen unser inneres Licht den Weg weisen wollte. Wir durften an der Liebe schnuppern und zogen zurück, mehrmals taten wir das, bis wir aufgegeben wurden, um als Moleküle im Sauerteig der Bewusstlosigkeit Karriere zu machen, entweder als bedeutungsloser Loser oder als elitäre Arschgeige.
Die Melange aus Losern und Arschgeigen, die unserer Gesellschaft seit jeher Struktur verleiht, ist für jene Menschen, die für ihre verwundeten Seelen SOS funken, während die Gischt aus Ignoranz und Dummheit ihnen ins Gesicht peitscht, unerträglich. Im Endeffekt bleibt ihnen nur, sich auf den Atem zu konzentrieren, Zug für Zug. Und sollte sich irgendwo ein Ausgang zeigen, nichts wie durch. Ich bin sicher, dass es unter euch einige gibt, die verstehen, wovon ich rede.
In seiner letzten Stunde saß Goethe bei verdunkeltem Fenster im Lehnstuhl, trank ein Glas Wein und schrieb mit dem Zeigefinger der rechten Hand etwas in die Luft, bevor er entschlief -
„Geisteskräftig und liebevoll bis zum letzten Hauche im drei und achtzigsten Lebensjahre,“
wie es in seiner Todesanzeige hieß. Was mag der Mann in die Luft geschrieben haben? Wir werden es nie erfahren. Vielleicht vertraute er der Nachwelt noch schnell die Weltenformel an. Ein Schatz, den niemand heben darf und den er deshalb in ätherischer Geheimschrift nur Auserwählten mitzuteilen versuchte. Vielleicht war es ein entzücktes „AAH“ oder „OOH“. Er war nicht mehr bei sich, kann doch sein. Er musste sich nicht mehr mühen, es passierte von ganz allein, dass er zu einem mit allem verbundenen Wesen wurde, das sich endlich zuhause fühlte. Kann doch sein.
Das wäre dann die wahre Befreiung. All die Zeit hinter uns, als wir versunken waren im Schlamm von Ehrgeiz, Meinung, Eitelkeit, Angst und Vorurteil würde sich verflüchtigen wie eine Wolke am Himmel. Mit der Zeit geraten wir in ein Fahrwasser, das uns mal ruhig, mal reißend und manchmal überschäumend dem Ziel zuträgt. Jetzt muss alle Aufmerksamkeit dem Strom gelten. Jeder Außenkontakt stört die Navigationsfähigkeit. Die Musik, die in uns bereits zum klingen gekommen ist, kann sich nicht weiter entfalten, wenn wir immer wieder in einen Dialog gezwungen werden oder auch nur Antwort geben sollen.
Der grandiose Dichter Charles Baudelaire (Die Blumen des Bösen) gab seinem Überdruss an menschlicher Gesellschaft drastisch und unmissverständlich Ausdruck:
„Ich bin nicht in der Verfassung für all das da draußen. Ich habe kein Verlangen zu demonstrieren, zu überraschen, zu amüsieren oder jemanden zu überzeugen. Nichts zu wissen, nichts zu lehren, nichts zu wollen, nichts und niemandem eine Bedeutung zu geben, zu schlafen und noch mehr zu schlafen, nur danach steht mir der Sinn.“
Ich blättere in alten Adressbüchern und fühle einen zarten Fliederschmerz beim Andenken an diese Menschen, um die ich mich nie gekümmert habe.
„Die Seele hätte keinen Regenbogen, wenn die Augen ohne Tränen wären,“
sagen die Lakota Sioux. Und Thomas Mann fragt, ob aus dem Weltfest des Todes, dass die Menschheit seit jeher auf der Erde zelebriert, jemals die Liebe steigen wird.
Seien wir ehrlich, wir leben unter lauter Todeskandidaten und ernähren uns aus dem geistigen Nachlass Verstorbener. Von Rainer Maria Rilke zum Beispiel, der mir jedesmal Schauer über den Rücken jagt. In seinem Gedicht „Abschied“ heißt es zum Schluss:
So lass uns Abschied nehmen wie zwei Sterne
durch jenes Übermaß von Nacht getrennt,
das eine Nähe ist, die sich an Ferne
erprobt und an dem Fernsten sich erkennt.
Majestätische Lyrik, da durfte jemand auf gottgegebener Poesie surfen. Für Rilke ist Gott der Atem des Universums, der alles durchdringt und in jedem Moment unmittelbar erlebbar ist.
Kennt Gott Rilke? Weiß er um die Traurigkeit eines Poeten, kümmert er sich um diese Leute oder hat er Besseres zu tun? Wie zum Beispiel eine aus der Balance geratene Galaxie wieder einzugliedern in den kosmischen Reigen. Man weiß es nicht. Vielleicht hat Goethe es gewusst, als ihm zum Schluss ein „AAH“ oder ein „O0H“ aus dem ausgestreckten Finger glitt.
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: Cris Foto / shutterstock
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