In vielen Ländern der südlichen Halbkugel kommt es zu Aufständen der jungen Generation. Was sind die Ursachen?
Ein Standpunkt von Hermann Ploppa.
So unterschiedliche Länder wie Peru, Indonesien, Marokko, Madagaskar, Nepal oder Kenia erscheinen peripher in unserer Wahrnehmung. Denn dort brennt und kracht es. Minister werden nackt durch die Straßen gejagt <1>. Aus Hubschraubern der Sicherheitskräfte hagelt es scharfe Munition auf protestierende Jugendliche. Regierungsgebäude gehen in Flammen auf.
Der gemeinsame Nenner: es sind junge Leute, Männer wie Frauen, die sehr zornig und kompromisslos auftreten. Sie nehmen den von Werbeindustrie erschaffenen Sammelbegriff „Generation Z“ als verbindende Selbstbezeichnung <2>. Sie haben genug. Sie wollen sich nicht länger mit haltlosen Versprechungen abspeisen lassen. Ihr Protest ist oft spontan und wenig durchdacht. Es gibt keine charismatischen Führergestalten. Hier agiert die Schwarmintelligenz von Millionen von Handy-Nutzern.
Es ist nämlich so: die Leute haben kaum was zu essen. Kaum was anzuziehen. Selten eine vernünftige Wohnung. Aber ein Handy haben fast alle in der Dritten Welt. Chinesen haben über Huawei preiswerte 5G-Netze in den armen Ländern hochgezogen. Und das hat auch tatsächlich einen Gebrauchswert in Ländern mit schlechten Straßen. Wenn man 15 Kilometer zum nächsten Markt marschiert ist, kann man Oma noch mal eben fragen, ob man für zu Hause auch noch ein Stück Fleisch mitbringen soll. Auch zum Absenden von Notrufen ist das Handy gut geeignet. Die Handys ermöglichen es zudem den jungen Leuten, sich über weite Strecken für Widerstandsaktionen gegen die Regierung zu verständigen. In Marokko schossen neue soziale Portale wie Pilze aus dem Boden als die Aufstände begannen.
Bei uns kommen natürlich nur die Videos mit den brennenden Autos und Häusern an. Wirklich kompetente Deutungen des Geschehens sind eher selten und auf Expertenkreise beschränkt. Da gibt es die Theorie des „Jugendüberschusses“ in jenen wilden Ländern. Auf Englisch heißt dieser Begriff „Youth Bulge“, was man mit „Jugendbeule“ übersetzen könnte. Das bedeutet, dass in all diesen Ländern mit sozialen Unruhen der Anteil der sehr jungen Leute überdurchschnittlich hoch ist im weltweiten Vergleich. In der demographischen Darstellung ergibt sich ganz unten eine Ausbuchtung bei den Menschen im Alter von Null bis 35 Lebensjahren. Entsprechend dieser Wortwahl könnte man bei Deutschland, Italien, China und Japan von einer „Seniorenbeule“ sprechen. Perfide ist die Theorie, dass der überproportionale Bevölkerungsanteil der Youngster fast automatisch zu Revolten, Kriegen und Morden führen müsse. Der mittlerweile verstorbene Bremer Soziologe Gunnar Heinsohn hat gesagt, dass ein Überschuss an arbeitslosen jungen Männern zwangsläufig zu Gewalt führen müsse <3>. Der ehemalige wissenschaftliche Berater der NATO und Stichwortgeber für Thilo Sarrazins Bestseller liefert den Imperien der westlichen Wertegemeinschaft mit seiner Jugendbeulen-Theorie die ideale Ausrede, um sich aus der eigenen Verantwortung am Massenelend in der Dritten Welt freizuschwatzen.
Doch auch die fast schon reflexartig auftretende Vermutung, es handele sich hier wieder einmal um ein Regime Change-Theater, geht an der Sache vorbei. Nehmen wir nur mal das Fallbeispiel Marokko. Marokkos König Mohammed der Sechste regiert mit harter Hand eine Scheindemokratie. Der König hat durchgesetzt, dass Marokko ein Vorposten der westlichen Vorherrschaft bleibt. Marokko ist eng an die NATO angebunden und zudem Vertragspartner des umstrittenen Abraham-Abkommens, in dem arabische Staaten ein Bündnis mit Israel und den USA eingegangen sind. Marokko ist ein Staat, der den eher antiimperialistisch eingestellten Nachbarstaat Algerien in Schach halten soll. Im Jahr 2022 besuchte die damalige deutsche Außenministerin Annalena Baerbock den Wüstenstaat. Sie festigte die Anbindung Marokkos an die westliche „Sicherheits“architektur und machte einen Deal mit Mohammed über die Lieferung von Wasserstoff <4>.
Dass Marokko ein Polizeistaat ist, konnten meine Frau und ich gerade in diesem Frühjahr mit eigenen Augen erkennen. Überall, im letzten entlegenen Örtchen ist die Polizei präsent. Diese Polizei macht sich einen Spaß daraus, an Kreuzungen tragbare Dreieckschilder für absolutes Halteverbot aufzustellen und dann zu lauern, ob die Autofahrer dann auch wirklich exakt an diesem Spielzeugschild komplett zum Stehen kommen. Wenn nicht, sind 30 Euro Buße fällig, die wahrscheinlich gleich in der eigenen Tasche des Beamten verschwinden. Allerdings gibt es keinerlei Katastrophen-Management. Als wir durch Marokko fuhren, gab es gerade nach sieben Jahren Dürre sintflutartige Regenfälle. Straßen und Wohnviertel ersoffen in den Fluten. Nichts passierte. Keine Feuerwehr rückte aus. Stattdessen stellten die Polizisten wieder ebenso entspannt wie sinnentleert ihre albernen Dreieckschildchen an den Kreuzungen auf.
Was wir wohlhabenden Nordmenschen nur ganz abgemildert erfahren haben, ist für die jungen Marokkaner bitterer Alltag. Es existiert zwar eine rudimentäre Schulbildung. Aber was kommt dann? Es gibt kaum qualifizierte Stellenangebote für junge Leute. Wer Glück hat, kommt in der Tourismusbranche mit Niedriglohn und überlangen Arbeitszeiten unter. Wer kein Glück hat, muss sein Glück als „Bissnessmen“ versuchen. Soll heißen: er oder sie kaufen irgendetwas billig ein. Dann setzen sie sich den lieben langen Tag an die Straße, und sie versuchen, diese Waren irgendwann mit Gewinn zu verkaufen. Immer wieder hören wir von den jungen Leuten: wir wollen nach Amerika oder Europa! Wir wollen etwas Sinnvolles machen!
Das ist das Problem in diesen Ländern. Die Säuglingssterblichkeit ist gottlob sehr verringert. Die absehbaren Folgen hat aber keiner bedacht. Dass nämlich aus den Säuglingen irgendwann erwerbsfähige junge Menschen werden. Vorausschauende, sozial denkende Politiker wie Muammar al Gaddafi oder Ibrahim Traoré werden vom Westen ausgebremst oder liquidiert. Der Westen installiert stattdessen immer wieder ignorante Satrapen, die nicht einmal wissen, dass es so etwas wie vorausschauende Planung gibt.
König Mohammed von Marokko hat sich nicht gerade dadurch beliebt gemacht, dass er eine der wertvollsten Sammlungen von Luxus-Uhren sein Eigen nennt. Eine einzige Patek Philippe-Armbanduhr mit unzähligen Diamanten kostet alleine schon eine Million Euro. Prestige-Projekte wie die Ausrichtung der Afrika-Meisterschaften im Fußball oder gar die Fußball-Weltmeisterschaft finden in der Bevölkerung nicht ungeteilten Beifall. Die Fußball-Events brachten das Fass zum Überlaufen. Nachdem dann auch noch kurz hintereinander acht Frauen in einer Klinik während Kaiserschnitt-Operationen verstarben, platzte den Menschen der Kragen. Jugendliche stürmten eine Polizeiwache in der Provinz. Dabei wurden einige junge Männer von der Polizei erschossen. Was die Gewaltspirale weiter aufschaukelte. Der König ist eigentlich reif für die Ablösung. Doch die westliche Wertegemeinschaft wird alles tun, um ihre Marionette zu halten.
Madagaskar, Indonesien, Peru
In Marokko ist die Frontlage noch gemäßigt. Zumindest im Vergleich mit Madagaskar. Der Inselstaat im Südosten Afrikas zählt zu den ärmsten Ländern der Erde <5>. Zugleich ist die Korruption dort extrem <6>. Auch in Madagaskar wird der Volkszorn angeheizt durch das angeberische Verhalten der Familie des Präsidenten Andry Rajoelina. Rajoelina war selber einige Jahre zuvor durch eine Volkserhebung an die Macht gekommen. Rajoelina verdient viel Geld mit einem Medien-Imperium und ist angebunden an das französische Kontrollsystem für Afrika. Auch Rajoelina verlor schnell den Bodenkontakt und setzte auf glanzvolle Prestige-Objekte. So soll ein Straßenbahnnetz die Hauptstadt Antananarivo durchziehen <7>. Das Projekt soll 152 Millionen Dollar kosten. Eine solch hohe Summe auszugeben für gerade einmal dreizehn Kilometer Schienen plus Fuhrpark. Das geht gar nicht. Das Geld muss für weitaus lebenswichtigere Dinge eingesetzt werden. Die selbe militärische Elite-Einheit, die Rajoelina nach Massenprotesten in den Sattel gehoben hatte, hat sich jetzt mit den protestierenden Jugendlichen solidarisiert und den Präsidenten verjagt. Wie es jetzt weitergeht, ist noch völlig unklar.
In Peru wird mit noch härteren Bandagen gekämpft. Eine funktionierende Regierung gibt es dort schon lange nicht mehr. In nur zehn Jahren sind acht Präsidenten verschlissen worden <8>. In Peru wird ein harter Krieg gegen die indigenen Völker geführt. Die Proteste schwelen schon lange. Dabei sind Protestierende mit scharfer Munition vom Militär erschossen worden. Der jetzige Übergangspräsident hat gerade wieder einen Ausnahmezustand für dreißig Tage ausgerufen. Damit soll davon abgelenkt werden, dass es in Peru schlichtweg keine funktionierende Regierung mehr gibt. Die einzige Infrastruktur, die funktioniert, wird vom Organisierten Verbrechen gestellt.
In Kenia ist der noch amtierende Präsident William Ruto selber durch eine Revolte an die Macht gekommen. Er hatte sich profiliert als Anwalt der Armen. Nur, um jetzt ebenfalls in Saus und Braus zu leben <9>. Auch hier ist die Jagdstrecke der ermordeten protestierenden Jugendlichen unter Ruto beträchtlich. In Indonesien richtet sich der Protest gegen eine kaum verhüllte Landnahme. Die Menschen sollen durch eine Erhöhung der Grund- und Immobiliensteuer um sage und schreibe 250 Prozent um ihr Eigentum gebracht werden <10>. Zudem gibt es brutale Umsiedlungsprogramme (Transmigration). Dabei spielt wieder der Krieg gegen die indigenen Völker eine große Rolle. Auch hier verballert der Präsident das knappe Steuergeld für Prestige-Objekte wie zum Beispiel die neue Hauptstadt Nusantara, die aus dem Boden des Dschungels von Borneo gestampft wird. Die Protestbewegung gegen die Zentralregierung in Jakarta erstreckt sich über die ganze große Inselgruppe, die den Staat Indonesien ausmacht.
Es gibt also triftige Gründe für die Jugendproteste. Oftmals handelt es sich eher um einen Abwehrkampf gegen die Globalkonzerne. Es bedarf einer globalen Lösung, um die Herausforderungen zu handhaben. Einfach so weitermachen wie bisher geht jedenfalls nicht mehr.
Quellen und Anmerkungen
<1> https://apolut.net/der-nackte-finanzminister-von-nepal-von-hermann-ploppa/
<2> https://apolut.net/die-betrogene-generation-von-hermann-ploppa/
<3> https://www.pseudology.org/Gallup/Heinsohn.pdf
<5> https://data.worldbank.org/indicator/NY.GDP.PCAP.CD?most_recent_value_desc=false
<6> https://www.transparency.org/en/cpi/2024
<8> https://www.newsweek.com/peru-in-state-of-emergency-over-gen-z-led-protests-10918106
<9> https://www.journalofdemocracy.org/online-exclusive/why-kenyas-gen-z-has-taken-to-the-streets/
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bild: Massenproteste vor dem Polizeihauptquartier in Jakarta (Indonesien) Ende August 2025
Bildquelle: Wulandari Wulandari / shutterstock
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