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EU muss sich ihrer eigenen Krise stellen | Von Thomas Röper

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Statt für alle Misserfolge Russland die Schuld zu geben, muss die EU sich endlich ihrer eigenen Krise stellen.

In der EU ist es Tradition geworden, für alle Misserfolge Russland die Schuld zu geben. Allerdings kann man keine Probleme lösen, wenn man sich in die Opferrolle stellt und anderen die Schuld für das eigene Versagen gibt.

Ein Kommentar von Thomas Röper.

Fjodor Lukjanow, der Chef des russischen Thinktanks Valdai-Club, hat in einem Artikel ganz nüchtern erklärt, dass das Problem in Europa ist, dass es für alle seine Misserfolge und sein Scheitern stets die Schuld bei anderen sucht – aktuell bei Russland.

Unabhängig davon, wie man zu Russland und zum Ukraine-Konflikt steht, ist eines wohl unbestritten: Wer stets anderen die Schuld für die eigenen Probleme gibt, der wird seine Probleme nie lösen können, weil er die Initiative abgegeben hat. Aus der Opferrolle heraus wurden noch nie Probleme gelöst, die Opferrolle meißelt Probleme in Stein anstatt sie zu lösen.

Lukjanow hat seinen Artikel als kurzen Rückblick oder als Fazit der letzten Konferenz des Valdai-Forums geschrieben und geht dabei auch auf die Rede ein, die der russische Präsident Putin dort gehalten hat. Bei Interesse können Sie Putins Rede hier nachlesen.

Kommen wir nun zur Übersetzung von Lukjanows Artikel.

Beginn der Übersetzung:

Westeuropa sollte aufhören, überall „Moskaus Hand“ zu sehen – und sich seiner eigenen Krise stellen

Jeden Oktober versammelt sich der Valdai Discussion Club als eine Art intellektuelles Barometer der Weltpolitik. Die diesjährige 22. Sitzung unter dem Titel „Die polyzentrische Welt: Eine Gebrauchsanweisung“ fühlte sich weniger wie eine Debatte an als wie eine Diagnose, denn die Welt hat eine Schwelle überschritten. Die Multipolarität ist keine aufkommende Idee mehr; sie ist die Realität, in der wir leben.

Von Fjodor Lukjanow | Russia in Global Affairs

Das Leitmotiv von Valdai 2025 kam von Präsident Wladimir Putin selbst, in Worten, die an Westeuropa gerichtet waren: 

„Beruhigt euch, schlaft ruhig, und kümmert euch um eure eigenen Probleme.“

Es war zugleich ein Tadel und eine Erinnerung daran, dass die Zeit, in der man Moskau für jedes eigene Versagen verantwortlich machen kann, vorbei sein sollte und dass die wirklichen Krisen des Westens im Innern liegen.

Jahrelang galt Valdai als ein Intermezzo, als eine Pause zwischen den Akten der großen geopolitischen Inszenierung. Diese Illusion ist verschwunden. Die polyzentrische Welt ist keine Hypothese mehr. Es wird keine Rückkehr zur Unipolarität, keine Wiederbelebung westlicher Vormundschaft über globale Angelegenheiten geben. Die entstehende Ordnung mag noch unruhig und unsicher sein, aber sie ist nun die Ordnung: flüssig, wettbewerbsfähig und unumkehrbar.

Putins Ansprache erfasste diese neue Stimmung. Seine Botschaft war pragmatisch, ja beinahe philosophisch: Die Probleme der Welt seien zu schwerwiegend, um Energie an erfundene Konflikte und eingebildete Bedrohungen zu verschwenden:

„Es gibt so viele objektive Probleme – natürliche, technologische, gesellschaftliche –, dass es unzulässig, verschwenderisch und schlicht töricht ist, Energie auf künstliche Widersprüche zu verwenden.“

Dies ist weniger eine Frage der Ideologie als des Überlebens. In einem Zeitalter aufeinanderfolgender Krisen – Klimaschocks, wirtschaftlicher Umbrüche, Informations- und Konflikte um die Infrastruktur – lautet der Appell: Nüchternheit. Und kaum jemand scheint sie nötiger zu haben als die Westeuropäer.

Der Westen schaut nach innen – aber zu spät

Putins Worte an die Westeuropäer waren kein bloßes Spötteln; sie waren diagnostisch. Eine Region, einst überzeugt von ihrer zivilisatorischen Mission, sieht nun überall „Moskaus Hand“ – bei Wahlen, bei Bauernprotesten oder bei jeder Form gesellschaftlicher Unruhe. Diese Paranoia verrät Unsicherheit, sie ist ein unterbewusstes Eingeständnis, dass die eigentlichen Probleme hausgemacht sind: der demografische Niedergang, die Deindustrialisierung, die Energieabhängigkeit und die politische Erschöpfung.

Russland hat sich von diesem Drama gelöst. Der Kreml sucht keine westliche Anerkennung mehr und fürchtet keine westlichen Vorwürfe. Das Gespräch hat sich nach Asien, in den Globalen Süden und zu jenen anderen Nationen verlagert, die nun ihre eigenen Gravitationszentren bilden. Die Welt dreht sich nicht mehr länger um Washington und Brüssel.

Das diesjährige Valdai-Thema „Gebrauchsanweisung“ war keine Metapher für eine Maschine, sondern ein Handbuch für das Zusammenleben im neuen Zeitalter. Die Aufgabe, so formulierte die Konferenz, besteht nicht mehr darin, Ordnung wiederherzustellen, sondern Unordnung zu navigieren – systematisch, ohne Panik und ohne Dogma.

Wie Putin anmerkte, treten wir ein in „eine lange Periode der Suche, oft durch Versuch und Irrtum“. Diese Suche müsse gelenkt sein, nicht chaotisch. 

Was Valdai von westlichen Foren wie Davos oder München unterscheidet, ist genau dieser Realismus. Hier gibt es keinen Anspruch auf moralische Überlegenheit, kein Gerede von einer „regelbasierten Ordnung“. Stattdessen akzeptiert man, dass keine einzelne Zivilisation – auch nicht die westliche, die lange dominierte – den Schlüssel zum 21. Jahrhundert besitzt. Die alte Karte passt nicht mehr zum Gelände.

Eine breitere Gesprächsrunde

Eine weitere auffällige Veränderung ist die Zusammensetzung des Forums selbst. Die Valdai-Treffen fühlten sich einst wie ein höfliches Duell zwischen Russland und dem Westen an. Heute ist diese Dynamik verschwunden. Delegierte aus Asien, Afrika und Lateinamerika füllen die Hallen, und ihre Themen – von technologischer Souveränität bis Ernährungssicherheit – werden als zentral behandelt, nicht als Randthemen. Die „globale Mehrheit“ ist nicht mehr das Publikum, sie ist der Chor.

Sogar das Wort „Inklusivität“, im Westen inzwischen von Bürokratien verhöhnt, erhält hier echte Bedeutung, nicht als Schlagwort, sondern als Struktur. In derselben Woche, in der das Pentagon den Begriff verbot, wurde er von Moskau ernsthaft praktiziert.

„Der ideologische Eifer des Westens, sein Bedürfnis, jeden Konflikt zu moralisieren, ist zu seiner Schwäche geworden. Russlands Haltung hingegen ist pragmatisch, ja stoisch: die Einsicht, dass die Welt zu komplex ist für binäres Denken, dass jede Zivilisation nun ihren eigenen Weg definieren muss.“

Damit ist das Valdai-Forum weniger ein Echo russischer Politik geworden als mehr ein Spiegel der sich wandelnden globalen Psyche. Die führenden Mächte der Welt – alte wie neue – tasten sich an ein Gleichgewicht heran, das nicht von Dominanz, sondern von Koexistenz geprägt ist.

Die neue Ära, unordentlich und multipolar, könnte am Ende freier sein – wenn die alten Imperien nur lernen würden, sich zu beruhigen.

Fjodor Lukjanow ist Forschungsdirektor der Stiftung für Entwicklung und Unterstützung des Valdai-Diskussionsclubs und arbeitete von 1990 bis 2002 als international tätiger Journalist. Er ist Chefredakteur von Russia in Global Affairs und wurde 2012 zum Vorsitzenden des Präsidiums des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik ernannt – einer der ältesten russischen Nichtregierungsorganisationen. Seit 2015 ist Lukjanow Forschungsdirektor der Stiftung für Entwicklung und Unterstützung des Valdai-Diskussionsclubs.

Ende der Übersetzung

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Thomas Röper, geboren 1971, hat als Experte für Osteuropa in Finanzdienstleistungsunternehmen in Osteuropa und Russland Vorstands- und Aufsichtsratspositionen bekleidet. Heute lebt er in seiner Wahlheimat St. Petersburg. Er lebt über 15 Jahre in Russland und spricht fließend Russisch. Die Schwerpunkte seiner medienkritischen Arbeit sind das (mediale) Russlandbild in Deutschland, Kritik an der Berichterstattung westlicher Medien im Allgemeinen und die Themen (Geo-)Politik und Wirtschaft.

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Danke an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. 

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Dieser Beitrag erschien am 21. Oktober 2025 auf dem Blog anti-spiegel.

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Bild: Die Zwölf-Sterne-Flagge der Europäischen Union zerrissen und mit Knoten im Wind am blauen Himmel

Bildquelle: Netromphotos / shutterstock


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