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Es richte sich jeder darauf ein, auf gut Glück durchzukommen

Es richte sich jeder darauf ein, auf gut Glück durchzukommen


Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck

„Muss man denn alles noch einmal sagen?“,

fragte sich der Dramatiker Botho Strauß (80), bevor er sich öffentlich den Mund verbat und in die beschauliche Uckermark zog. Der Mann hat fast 30 Theaterstücke und ebenso viele Romane sowie zahlreiche Essays geschrieben, er gilt neben Peter Handke als Aushängeschild der deutschen Gegenwartsliteratur. Ebenso wie dieser hat auch Strauß erfahren müssen, „welchen gesichtslöschenden Kräften wir ausgesetzt sind". Er vergleicht unser gesellschaftliches Klima mit einer von giftigen Gasen gesättigten Luft, die an der Sprache frisst wie Schwefelsäure an den Marmorstatuen der Antike. Die Pest der vielen Fotos, der Fernsehbilder, der sozialen Medien und der aufgeblasenen Reklamewände trüben den Glanz unseres Blickes. „Den Glanz nur?“, fragt Strauß.

„Alles Wesen, das im offenen Auge lag, hat sich von dort zurückgezogen: Suche und Wissen, Vertrauen und Berechnung, Güte und Gier. Wir sehen nicht und sehen auch nicht aus.“

Botho Strauß würde gerne „noch einmal die einfachen Eingänge benutzen, die zum Menschen hineinführen durch Stimme, Gang und Gesicht“. Das möchte ich auch. Am 26 Juli 2023 hätte ich es nötig gehabt. Ich befand mich im Bremer Hauptbahnhof, nachmittags um halb drei. Wie viel unförmige Kreaturen kann das Auge nehmen, bevor es hilfesuchend in den Himmel starrt? Monsterärsche über X-Beinen, Hängebäuche, die sich im Vorübergehen mit weiteren Pommes mästen, tätowierte Waden und herab baumelnde Wurmfortsätze, Hälse, dicker als die darauf sitzenden Köpfe - und das alles in breiter Phalanx auf dich zukommend, feiste Kinder hinter sich herziehend, dich rempelnd verschlingend … Dabei wollte ich nur meinen Zug auf Gleis 9 erreichen („Heute ca. 45 Minuten später“). Sie sprechen. Sie sprechen unentwegt. Sie sprechen laut. Sie benutzen meine Worte, mindestens zwölf davon. Es hätte einer überirdischen Anstrengung bedurft, diesen verbrannten Seelen an diesem Tag mein Mitgefühl zu geben. Es war der Tag, an dem Sinhead O’Connor starb.

„Es richte sich jeder darauf ein, auf gut Glück durchzukommen, ohne dabei seinen Verstand und seine Selbstachtung zu verlieren“,

schreibt Strauß. Das gilt vor allem für jene Geistesarbeiter, die an der Stumpfheit ihrer Mitmenschen zu verzweifeln drohen. Sie wissen die Wirkung ihrer aufklärerischen Arbeit sehr wohl einzuschätzen. „Wer sind wir denn gegenüber der Medienmasse und der Gewalt der Belanglosigkeit?“, fragt Strauß und stellt ernüchternd fest, dass wir Nichts sind und nie etwas sein werden. Einen gesellschaftspolitischen Auftrag empfindet der Schriftsteller schon lange nicht mehr. „Man schreibt einzig im Auftrage der Literatur", sagt er.

„Man schreibt unter Aufsicht alles bisher Geschriebenen. Man schreibt aber doch auch, um sich nach und nach eine geistige Heimat zu schaffen, wo man eine natürliche nicht mehr besitzt. Es schafft ein tiefes Zuhause und ein tiefes Exil, da in der Sprache zu sein.“

Erstaunlich finde ich, dass Botho Strauß in „Paare Passanten“ den mexikanischen Schriftsteller Octavio Paz (1914 - 1998) mit dem Satz zitiert:

„Literatur beginnt, wenn einer sich fragt: wer spricht in mir, wenn ich spreche?“

Strauß hat sich diese Frage auch gestellt. Sie hat ihm Angst gemacht. Denn bisher war es SEINE Sprache, die ihn die elende Einsamkeit hat ertragen lassen. Jetzt fragt er sich, was geschieht, wenn diese Sprache „bis auf den kleinsten Huscher“ fast gänzlich wegfällt. „Du weißt ja nicht, was wirkliche Einsamkeit ist, bevor du nicht dies äußerst geringfügige Rascheln nur noch, irgendwo am Rande deines Geistes, vernommen haben wirst. Du hast ja keine Ahnung, wie du dann wohl sitzen und kauern musst, wenn erst die Worte unter sich sind, du aber ausgeschlossen und erkenntnislos bist.“

Botho Strauß ist ein Spurensucher der Liebe. Manchmal denke ich, dass man erst sprachlos werden muss, um sie zu finden. Ich schaue aus dem Fenster. Die glitzernden Blätter der Bäume wiegen sich in einer kräftig-warmen Brise. Es ist bereits der sechste blaue Tag hintereinander, den wir genießen dürfen. Im Haus gegenüber gießt jemand seine Zimmerpalme. Ein Stockwerk darunter toben Kinder um ein Klavier. Warum mache ich mich plötzlich zum Anwalt des kleinen Alltags? Ganz einfach: weil es ihn noch gibt, den kleinen Alltag. Er ist meine Heimat, mein Leben. Zwar ist bereits die Lunte an ihn gelegt und nichts von ihm wird übrig bleiben, aber er atmet noch. Noch sind in ihm alle Missverständnisse geborgen, noch wird in ihm gelogen und betrogen, gehasst und manchmal sogar geliebt. An Tagen wie diesen reicht das aus, um mit ihm Frieden zu schließen. Um die Wunden zu kühlen, die ich mir im Umgang mit ihm zugezogen habe. An Tagen wie diesen liebe ich unser aller Entsetzen in meiner kleinen Straße, in der sich jeden Abend zur Tagesschau der Widerschein aus den Fernsehapparaten in den Zweigen der kranken Kastanien bricht. An einem Tag wie diesem kann ich halt lieben nur, und sonst gar nichts …

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Dirk C. Fleck ist ein deutscher Journalist und Buchautor. Er wurde zweimal mit dem Deutschen Science-Fiction-Preis ausgezeichnet. Sein Roman “Go! Die Ökodiktatur” ist eine beklemmend dystoptische Zukunftsvision. 2023 erschien sein aktuelles Buch „HEROES. Mut, Rückgrat, Visionen“.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Triff / Shutterstock.com


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