Das Massaker von Srebrenica im Juli 1995 „kennt“ jeder, der sich nur ein wenig mit internationaler Politik beschäftigt. Die andere Seite der bosnischen Geschichte wird selten erzählt. Unabhängig vom Wahrheitsgehalt des im Mainstream bekannten Narrativs: Von Massakern an Serben, die dem vorausgegangen sind, ist in der Regel wenig bis nichts bekannt, darum kommt heute ein Opfer dieser anderen Seite zu Wort.
Ein Interview von Helga Fuchs mit Dušanka Lalović.
Bis zum Kriegsausbruch in Jugoslawien gab es für die meisten Deutschen keine Unterschiede zwischen Kroaten, Slowenen, Serben und Muslimen – alle waren nur Jugoslawen aus Jugoslawien. Doch die Spaltung von Volksgruppen, die im Sinne einflussreicher Interessengruppen immer wieder aufs Neue stattfindet, kann, wie das Beispiel in Bosnien zeigt, schreckliche Folgen haben.
Das Massaker von Jošanica ist ein Beispiel dafür, dass in Medien und Politik wesentliche und eindeutige Fakten ausgelassen werden. Und Jošanica ist nur ein Beispiel für grausame Massenverbrechen an der serbischen Bevölkerung. Bereits im Mai 1992 hatten weitflächig Überfälle auf serbisch bewohnte Gebiete stattgefunden.
Am 19. Dezember überfiel eine etwa 700-Mann starke Einheit der bosnisch-muslimischen Armee das serbisch bewohnte Gebiet in Jošanica und verübte ein schreckliches Massaker, bei dem 17 Menschen aus Dušankas Familie und Verwandschaft getötet wurden. Insgesamt wurden 56 Serben ermordet, darunter Kleinkinder, Kinder, Jugendliche, Frauen, Männer und sehr alte Menschen.
Dušanka Lalović ist eine der Überlebenden und trägt seit Jahrzehnten dazu bei, dass dieses Massaker nicht verschwiegen wird. Helga Fuchs führte das Gespräch mit ihr per E-Mail. Ihrer beider Ziel ist es, die Menschen darüber aufzuklären, dass es mehr gibt als die Mainstream-Erzählungen.
Nur wenn die verschiedenen Perspektiven erkennbar sind, werden die meisten Menschen bereit sein, gemeinsam nach friedlichen Lösungen zu suchen.
Dušanka, als die Aggression begann, warst Du gerade 16 Jahre jung. Bitte beschreibe mir, wie Dein Leben davor ausgesehen hat.
Mein Leben vor dem Krieg in Bosnien und Herzegowina war unbeschwert. Ich verbrachte meine Tage in der Schule mit meinen Freunden und meiner Familie und wartete sehnsüchtig auf das Ende der Schulzeit. Ja, ich träumte davon, Jura zu studieren, aber leider ging dieser Wunsch nie in Erfüllung. Er wurde mir an einem verfluchten Nikolaustag genommen. Ich ahnte nicht, dass dieser Tag mein ganzes Leben verändern und mich in den Kampf für Gerechtigkeit führen würde, dass ich die Wahrheit über das, was ich am Nikolaustag erlebt hatte, beweisen werde!
Wie war das Leben damals zwischen Serben und Muslimen in den Dörfern und in Deiner Heimatstadt Foča? Gab es vor Kriegsausbruch Spannungen zwischen Serben und Muslimen?
Meine Schule war multiethnisch, wir besuchten die Schule gemeinsam mit Schülern aller Nationalitäten, mit normalem Umgang miteinander. Zumindest habe ich es so erlebt, und so wurde ich in meiner Familie erzogen. Respekt vor allen Religionen und Nationen. So lebten die Menschen in den Dörfern meiner Jošanica: bescheiden und respektvoll gegenüber ihren muslimischen Nachbarn. Ich persönlich kann mich an keine Spannungen zwischen den Menschen in meiner Stadt erinnern.
Hast Du Dich vor dem Krieg für Politik interessiert?
Vor dem Krieg hat mich Politik nie interessiert!
Ab Anfang der Neunziger verwandelte sich Dein Leben und das vieler Menschen auf dem Balkan in einen Alptraum. Beschreibe mir, wann der Krieg ausgebrochen ist und wie Du bemerkt hast, dass ihr in Gefahr seid.
Meine Erinnerungen an den Beginn des Krieges in meiner Stadt sind schwach. Ich hatte es nicht erwartet, ich konnte es mir nicht vorstellen, dass eine Zeit der Angst und Panik kommen würde, dass manche Menschen weggehen und ein hartes Leben führen würden … dass das Leben tatsächlich zum Stillstand kommt!
Zu Deinen Erlebnissen vom 19. Dezember 1992: Ich weiß, dass eine muslimische Mörsergranate den Beginn des Überfalls auf die Menschen signalisierte, die die Festlichkeiten für das nur von Serben gefeierte höchste Familienfest vorbereiteten: den Familienschutzpatron St. Nikolaus. Kannst Du mir deine damaligen Wahrnehmungen aus der Sicht einer Siebzehnjährigen erzählen?
Meine Erinnerungen an den Nikolaustag: Am 18.12.1992 folgte ich der Bitte meines Verwandten Trivko Višnjić, aus ungeduldiger Erwartung schon mit ihm in einem Militärlastwagen nach Jošanica auf das Fest zu fahren. Wir warteten lange auf den Lastwagen. Wir nahmen mit einen Eimer mit zwei Kohlköpfen, 200 Gramm Kaffee und Zigaretten als Totengabe für meinen Onkel. Mit mir im Lastwagen saßen auch Olga Višnjić (30 Jahre) und ihre Kinder Dragana (10 Jahre) und ihr Sohn Dražen (7 Jahre), die alle am 19. Dezember 1992 verstarben, sowie andere, die zum Fest wollten.
Am Nachmittag kam ich in mein Heimatdorf Medanovići, es besteht aus zwei Häusern, bewohnt von zwei Brüdern – Vasilije und Rado. Dort traf ich meinen Großvater Vasilije, Großmutter Joka, meine Tante Goja und Tante Draga. Die Feier wurde vorbereitet. Kuchen, Sarma… es gab keinen Strom. Der einzige Gast, der kam, war Großmutter Radojka aus dem Dorf Konjevići. Im anderen Haus meines Großvaters Rado waren er selbst, seine Frau Ljuba und ihr Sohn Trivko. Am Abend kamen Novak Mićević und Obren Mićević zu ihnen als Gäste. Radovs Sohn Trivko ging am Abend nach draußen und sagte bei seiner Rückkehr, dass er über dem Haus jemanden hüsteln hörte. Sie sahen nach, aber es war niemand da. Nichts deutete auf den blutigen Tag hin, der bevorstand. Gegen 22 Uhr kam der Strom zurück, ich ging schlafen. Es war kalt, aber es lag kein Schnee.
Kurz vor sechs Uhr morgens wurde ich am 19.12. von einer schrecklichen Schießerei geweckt. Ich stehe auf, finde ein offenes Feuer, Schnaps, der zum Guten Morgen gekocht wurde und bin in großer Angst über das, was passiert. Ich gerate in Panik. Es heißt, alle Dörfer in Jošanica seien angegriffen worden. In der Ferne ist Rauch zu sehen, der darauf hindeutet, dass Dörfer brennen. Wir wissen nicht, wohin wir gehen sollen, denn unser Dorf wurde noch nicht angegriffen. Unter dem Haus treffe ich meine Großmutter Joka, die in einer Handtasche eine Handgranate trägt. Ich nehme ihr die Handgranate ab und stecke sie in meine Tasche.
Ich habe auch Zigarren in der Tasche, die ich für meinen Onkel mitgebracht habe. Verwundete aus dem Dorf Gapići treffen ein: Rade Blagojević und Risto Crnogorac. Ich zerreiße ein großes weißes Laken und verbinde die Verwundeten. Das Verbinden wird durch den Kugelhagel auf dem Dach des Hauses unterbrochen. Der Angriff auf mein kleines Dorf beginnt. Ich renne aus dem Haus und den Weg zur Scheune hinunter. Kugeln pfeifen um mich herum. Ich renne in die Scheune, das Vieh meiner Großmutter ist angebunden, verängstigt und schreiend. Ich versuche, die Kuh loszubinden. Es gelingt mir nicht, meine Hände zittern. Der Kugelhagel prasselt weiter durch den Stall. Ich lasse die Kuh stehen und renne los. Etwas Riesiges fällt vor mir herunter, die Erde bedeckt mich, und ich kehre zum Stall zurück.
Ich versuche wieder, die Kuh loszubinden, aber wieder scheitere ich. Ich nehme meine Kräfte zusammen, zittere, springe aber über den Zaun und erreiche den nahegelegenen Hain von Oma Ljuba, Tante Goja und Tante Draga. Wir rennen Richtung Jošanska Rijeka und denken, dass wir so nach Foča gelangen. Da hören wir Stimmen über uns. Wir sehen eine Kolonne Soldaten den Fluss überqueren und in das muslimische Dorf Huseinovići ziehen. Einer von ihnen muss uns gesehen haben und kommt zurück. Ein paar Minuten später hören wir wieder Lärm, Rufe … Sie suchen uns, schießen, schreien … Wir rennen, brechen trockene, gefrorene Äste auf, machen den Weg frei, sie schießen auf uns. Hinter mir ist meine Tante, während wir meine Großmutter und meine andere Tante irgendwo im Wald verloren haben … Ich renne auf die Straße und sehe eine große Gruppe Soldaten, die auf mich zulaufen und schießen. Der erste, den ich sehe und an den ich mich mein Leben lang erinnere, trägt eine blaue Winterjacke, helle Jeans, kniehohe Gummistiefel und eine schwarze Mütze. Er rennt auf mich zu und schießt. Ich kann die Entfernung zwischen uns nicht einschätzen, aber es ist ganz nah. Ich höre die Stimme meiner Tante klagen: „Lauf weg, Duki“ … Auch sie rennt hinter mir her. Aber die blaue Jacke trifft sie wahrscheinlich von hinten, denn sie fällt.
Sie rettete mir damit das Leben, denn als sie von hinten verwundet wurde, liefen die Täter zu ihr. Ich schaffe es dadurch, über die Straße zu rennen und falle in ein hohes Gebüsch. Ich versuche herauszukommen, aber ich kann nicht. Ich nehme eine Handgranate mit Aufschlagszünder, ziehe die Drähte heraus, halte sie mir unter den Hals und denke: Ich werde ihnen nicht lebend in die Hände fallen, ich werde mich umbringen. Es tut mir leid, es tut mir leid um mein Leben. Vielleicht gibt es noch Hoffnung, mich zu retten, und ich glaube immer noch, dass mich hier niemand tot finden wird ….. es ist eine Frage von Sekunden. Unten höre ich Lärm, Schüsse, Schreie, Wehklagen … Sie schießen von unten. Ich stecke die Bombe zurück in meine Tasche und versuche herauszukommen, die Dornen kratzen mich, meine Hände sind blutig. Ich habe keine Kraft mehr in den Beinen, zittere und sage mir, Du schaffst das, nur noch ein bisschen … Ich renne den Wald hinauf, kaum voran, aber ich renne, ohne Stimme, mein Mund ist trocken (wenn ich nur einen Tropfen Wasser hätte). Ich erreiche Oma Ljuba und meine Tante auf einem Hügel, ich sage ihnen leise, dass die andere Tante dort unten geblieben ist.
Wir können, lasst uns rennen … Meine Worte bewegen sie, wir gehen, wir rennen wieder hinauf, irgendwohin, ich schätze, in Richtung unseres Dorfes. Tatsächlich kommen wir zu einem anderen Wald namens Gaj und verstecken uns dort. Vielleicht waren wir zwei Stunden dort … Wir sind still, wir sprechen nicht … Wir hören Stimmen aus unserem Dorf, wir machen uns auf den Weg ins Dorf, schweigend ohne ein einziges Wort zu sagen, gehen wir. Der Weg dauert ungefähr 25 Minuten. Ich erkenne die Stimme meiner Großmutter Joka und meines Großvaters Vasilija, wie sie im Dorf weinen, sie haben Großvater Rad tot im Dorf gefunden. Ich gehe näher und schaue. Zum ersten Mal sehe ich einen Toten, einen Mann, der mir so lieb war und der mir Dutzende von Pralinen gekauft hat. Meine Füße sind nass vom Laufen durch die Bäche, ich denke, ich sollte mich umziehen, doch die Häuser brennen nieder. Baba Joka fragt, wo ihre Goja ist. Eine Tochter. Ihr Onkel erzählt , wo er sie gesehen hat. Er macht sich auf die Suche nach ihr. Hinter meinem brennenden Haus sehe ich Rad Blagojević und Rist Crnogorec liegen, schwarz verkohlt.
Großmutter Ljuba sucht ihren Sohn Trivko und nach etwa einer halben Stunde taucht er lebend auf. Gott sei Dank! Von irgendwoher taucht Oma Radojka auf, sie zieht für mich ihre Socken aus und lässt sie mich anziehen, gibt mir auch einen Apfel. Und ich suche meinen Vater, er sollte heute Morgen zur Feier kommen. Ich habe immer noch Zigaretten für ihn in der Tasche, doch da ist jetzt auch eine Handgranate. Ich frage sie nach meinem Vater, und sie antwortet, dass er lebt und nach Foča gegangen sei. Doch sie lügt mich an, sie hatte ihn nicht einmal gesehen. Wir alle durchqueren den Wald von Lisnik, die Verwundeten, die Überlebenden … wir verstecken uns in einem Wäldchen. Aus dem gegenüberliegenden Wald hören wir flehentliches Jammern: „Tötet mich, nehmt mich nicht“ … Es sind Olga (30 Jahre), Stojka (68 Jahre) und die kleine Danka (2 Jahre) – getötetet am 19.12.1992. Wir schweigen …
Ich bete ständig zu Gott!
Wir sind zu viele an einem Ort und teilen uns in zwei Gruppen auf. Es wird langsam dunkel. Wir unterscheiden zwischen unseren Schüssen und denen der Muslime, ihre pfeifen irgendwie. Es wird langsam dunkel. Wieder hören wir Stimmen und wieder diesen muslimischen Schuss.
Wir laufen, rennen, etwa eine halbe Stunde lang. Wir kommen in Stubla an, von wo aus ich Autoscheinwerferlicht sehe, wir rennen weiter in Richtung Škobalja. Wir finden unsere Leute und einen Lastwagen. Sie reden darüber, wen sie alles tot aufgefunden haben, und ich suche immer noch nach meinem Vater. Sie sagen, er ist hier, er ist dort …
Wir wärmen uns an den brennenden Häusern, denn es ist schrecklich kalt. Sie sammelten die Toten auf und luden sie auf Lastwagen. Ich steige in einen Lastwagen, der Fahrer war ein gewisser Đorđević. Ich gebe ihm die Handgranate und sage: Pass auf, ich habe die Drähte gezogen. Der Mann schaut mich wortlos an. Ich steige in einen Lastwagen der Militärpolizei um und wir fahren in Richtung Foča.
Ich war überzeugt, dass der Lastwagen von der Straße abkommen wird, weil ich mir nicht vorstellen konnte, lebend nach Hause zu kommen. Wir erreichen das Krankenhaus, steigen aus und ich gehe zur Aufnahme, um ihnen zu sagen, dass zwei weitere Lastwagen mit Toten kommen. Ich suche nach einem Patientenbuch, um zu sehen, ob ich noch einen Vater habe. Die Schwestern schauen mich schweigend an, geben mir ein Buch, gießen Apfelkompott in ein Glas. Er ist nicht da! Ich rufe zu Hause an, um zu sagen, dass ich lebe, aber niemand geht ran. Ich rufe die Nachbarin Mara Mićević an und sage: Ich bin's, alle leben. Ich höre Freudenschreie. Ich lüge bewusst, weil ich nicht die Kraft habe, ihnen die Wahrheit zu sagen.
Ich gehe langsam auf das Haus zu, begleitet von zwei Militärpolizisten. Meine Schritte sind schwer. Ich treffe jemanden aus der Familie, aus der Nachbarschaft. Alle umarmen mich, freuen sich über mich, und immer noch belüge ich sie, dass alle am Leben wären. Ich komme im Haus von Mare Mićević an, meine Mutter und mein Bruder sind auch da, ich bitte nur darum, meine Füße in warmem Wasser zu baden und erzähle ihnen nur wenig. Ich sehe in ihre Gesichter, ihre besorgten Blicke, die Freude, als ich ihnen sage, dass die anderen leben. Ich zögerte damit, denn ich weiß ja nicht einmal, was die schlimmste Nachricht ist. Soll es jemand anderes sagen, ich kann nicht mehr.
Plötzlich versammelt sich eine große Zahl an Leuten, die das sagen, was ich nicht aussprechen konnte, sie geben mir irgendeine Tablette, irgendwie gehe ich nach Hause und schlafe die ganze Nacht. Morgens kann ich nicht aufstehen.
Wo wurde Dein Vater gefunden und wann hast Du von seinem Tod erfahren?
Mein Vater verbrachte die Woche zuvor an der Front. An diesem Morgen sollte er zur Feier kommen, doch unglücklicherweise kam er an diesem eigentlich friedlichen Feiertag in das Dorf und wurde dort oberhalb des Familienhauses getötet. Ich erfuhr von seinem Tod durch Großvater Vasilij, der ihn in der Leichenhalle suchte und fand. Wir erfuhren am Abend von seinem Tod, nachdem wir nach Foča zurückgekehrt waren.
Wie waren die Tage danach für Dich?
Leider kann ich mich kaum an die Tage nach Nikolaus erinnern. Wahrscheinlich durch den Schock. Beerdigung, viele Menschen und Angehörige kamen, um ihr Beileid auszusprechen, … Angst, Trauer, es waren harte Tage. Fassungslosigkeit darüber, dass uns ein unvergessliches Verbrechen widerfahren ist.
Gab es damals Beobachter der Vereinten Nationen oder Journalisten, die von Jošanica erfahren haben oder den Ort besichtigt haben?
Ich kann mich nicht erinnern, dass irgendwelche Beobachter oder UN-Mitarbeiter erschienen wären. Von Zeit zu Zeit erwähnten mich einige Medien, vor allem aus der Republika Srpska, die an den Gedenkfeiern teilnahmen und von mir Aussagen aufgenommen und gesendet haben…
Du engagierst Dich seitdem?
Mein Engagement, ich kann mich nicht erinnern, wann es begann, geschweige denn, wie lange es dauerte. Ich habe immer über Jošanica gesprochen, ich wollte nicht, dass dies in Vergessenheit gerät, geleitet von meinem Herzen, dass Gott mir geholfen hat, diesen Tag zu überleben und dass ich für die Opfer von Jošanica sprechen muss, für die Kinder, die sich nichts zuschulden kommen ließen, … und so geht es drei Jahrzehnte lang weiter.
Und welche Erfahrungen hast Du gemacht?
Ich könnte ewig die Schwierigkeiten aufzählen, denen wir begegnet sind, aber ich möchte darauf hinweisen, dass die Welt diesem Verbrechen gegenüber taub und blind geblieben ist und daher auch die Institutionen, die sich mit Kriegsverbrechen befassen sollten. [Anmerkung: Beweise, die auch nach Den Haag zum „Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien“ gelangten, wurden dort abgewiesen, mit der Bemerkung, dass dafür Sarajevo zuständig sei.]
Vor zwei Jahren ist es Euch endlich gelungen, namentlich bekannte Kommandeure vor Gericht zu bringen. Letztes Jahr haben Du und andere überlebende Zeugen ihre Aussagen vor Gericht gemacht. Doch jetzt ruht das Verfahren wiederholt, weißt Du warum?
Es gab eine Pause von etwa zwei oder drei Monaten, aber es wurde wieder aufgenommen. Es bedurfte großer Anstrengungen, zahlreicher Aufrufe in den Medien und Appelle an die Staatsanwaltschaft und das Gericht von Bosnien und Herzegowina, um das Verfahren gegen dieses unvergessliche Verbrechen einzuleiten.
Wie fühlt es sich für Dich an, jahrzehntelang Demütigungen durch gefühllose Ignoranz und Blockaden seitens der Justiz und der Politik aus dem In- und Ausland zu ertragen?
Drei Jahrzehnte sind eine Ewigkeit. Heute kann ich frei sagen, dass unsere in Jošanica erbaute Kirche eine Gedenkkirche ist, ein Symbol der Einheit, Stärke und Auferstehung, mit deren Bau wir gezeigt haben, dass wir unzerstörbar sind, womit wir die Justizbehörden zu einer Anklage gezwungen haben. Die Glocken von Jošanica werden sie für immer und ewig daran erinnern, dass am Nikolaustag Verbrecher in ein Dorf kamen und unschuldige Menschen massakrierten, die ihre Slava, ihren heiligen Schutzpatron feierten.
Kannst Du Dich überall in Bosnien frei bewegen oder fühlst Du Dich bedroht, wenn Du Foča verlässt?
Ich habe keine Angst und bewege mich in Bosnien. Warum sollte ich Angst haben. Ich bin ein Opfer, kein Verbrecher – lass Sie Angst haben.
Letztes Jahr haben Du und weitere noch lebende Zeugen endlich vor Gericht ausgesagt. Wie war das für Dich?
Ich stand am 20. Februar 2024 als erste Zeugin vor Gericht in Bosnien und Herzegowina. Drei Stunden lang sprach ich über den blutigen Nikolaustag, im Glauben, dass meine Stimme und mein Wort erneut zur Wahrheit beitragen werden. Ich nutzte die Gelegenheit, um meinen Freunden zu danken, die mich an diesem Tag unterstützt haben. Ich erwähne sie oft und bete für ihre Gesundheit. Das Betreten des Gerichtssaals, die Begegnung mit den Personen, die von der Staatsanwaltschaft verdächtigt werden, in Jošanica ein Verbrechen begangen zu haben, die Angst, etwas zu vergessen, eine schmerzhafte Erinnerung an den Nikolaustag, Bilder, die wieder lebendig wurden … Ich bin dankbar für ihre Unterstützung. Es war nicht leicht für sie zuzuhören.
Man sagt, dass Gott nur den Starken große Prüfungen auferlegt. Deshalb habe ich immer von Jošanica gesprochen. Deshalb habe ich nie aufgegeben, denn Gott spricht durch mich, alle Opfer von Jošanica sprechen durch mich. Aufgeben gibt es nicht. Gerechtigkeit ist langsam, aber erreichbar.
Das serbischen Familienfest des heiligen Schutzpatrons hat eine enorme Bedeutung. Was machst Du an diesem Tag, der so grausame Erinnerungen hinterlassen hat?
Der Nikolaustag wird jedes Jahr gefeiert. Denn wir sind Serben, ein Volk, das Not und Elend, Angst, Mord, Plünderung und Vernichtung ertragen hat und nach allem wiedergeboren, getauft und geheiratet hat, das immer seinen Heiligen Schutzpatron feiert, Weihnachten feiert und auferstehen wird.
Zum Schluss: Was möchtest Du den Völkern in Bosnien und der Welt sagen?
Eine Botschaft an alle: Niemals Krieg, keine (Spezial)Ausbildungen und keine Armeen, nichts, was die einfachen Menschen zerstören könnte. Was hätte Patriarch Pavle gesag: Lasst uns Menschen sein!
Liebe Dusanka, ich bedanke mich ganz herzlich für Dein Engagement!
Bereits im Mai 2018 führte Helga Fuchs ein Video-Interview mit Slavko Đorđević. Der Serbe war medizinischer Assistent im Universitätsklinikum von Foča und erlebte mit, wie seine grausam verstümmelten Verwandten aus Jošanica eingeliefert wurden. Seine Fotos, die er im Video vorstellt, bezeugen die verschwiegene Grausamkeit.
Hier geht es zum Video: https://youtu.be/jlXkq-R6p4k
+++
Bei diesem Artikel handelt es sich um eine gekürzte Fassung des Interviews. Der Originalbeitrag steht auf Deutsch und Serbisch im Blog Josanica zur Verfügung. Dieser gekürzte Beitrag erschien darüber hinaus am 17. Juli 2025 auf tkp.at.
+++
Wir danken der Autorin für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
+++
Bild: zerstörte Häuser nach Artilleriebeschuss in Bosnien und Herzegowina
Bildquelle: Ajdin Kamber / shutterstock
+++
Ihnen gefällt unser Programm? Machen wir uns gemeinsam im Rahmen einer "digitalen finanziellen Selbstverteidigung" unabhängig vom Bankensystem und unterstützen Sie uns bitte mit Bitcoin: https://apolut.net/unterstuetzen#bitcoinzahlung
Informationen zu weiteren Unterstützungsmöglichkeiten finden Sie hier: https://apolut.net/unterstuetzen/
+++
Bitte empfehlen Sie uns weiter und teilen Sie gerne unsere Inhalte in den Sozialen Medien. Sie haben hiermit unser Einverständnis, unsere Beiträge in Ihren eigenen Kanälen auf Social-Media- und Video-Plattformen zu teilen bzw. hochzuladen und zu veröffentlichen.
+++
Abonnieren Sie jetzt den apolut-Newsletter: https://apolut.net/newsletter/
+++
Unterstützung für apolut kann auch als Kleidung getragen werden! Hier der Link zu unserem Fan-Shop: https://harlekinshop.com/pages/apolut