Ein Meinungsbeitrag von Lisa Marie Binder.
Inmitten aller Corona Auf- und Abrechnungen ist ein Buch erschienen, das den Faschismus unserer Tage so gnadenlos analysiert, dass es jedes andere Zeitdokument überflüssig macht. RAFFEN STERBEN TRANCE von Teer Sandmann ist ein Ritt auf dem Gleitstrahl des implantierten Wahnsinns, das den sezierten Schrecken in ein faszinierendes Gewand aus Traurigkeit und Schmerz zu kleiden vermag. Ein Meisterwerk der Gegenwartsliteratur, dem sich Lisa Marie Binder mit Respekt und Bewunderung genähert hat.
Dirk C. Fleck
„Es ist ein unheimlich schönes Buch“, hörte ich mich sagen, drei Mal, unter Freunden; und drei Mal durchzuckte es mich, damit ich anheben konnte zu korrigieren: „Es geht um Faschismus, ja. Dennoch ist es von ergreifender Schönheit.“ Wie mag es gelingen, sich an einem Buch über die Abgründe des Menschseins zu erfreuen? Nebst Kerzenlicht und schwerem Wein? War da nicht auch die bleierne Müdigkeit des Autors, sein Verlangen, in einen Waldsee einzugehen, ob all der Pein? Wo ist Raum für den Genuss zwischen den Wellen der Schwermut, die anzusteigen und hinwegzureißen drohen?
Es gelingt! Denn dieses Buch soll Teil eines Widerstands bilden, es will „nicht lähmen, will nicht lasten“. Vielmehr soll „aus dem Denken eine Lust hochschießen.“ Eine „Lust zum Angriff auf den Angriff aufs Gehirn“. Diese löst die Depression in ihre Bestandteile, Atom für Atom, Teilchen um Teilchen. Den Ausweg erkannt, macht Teer Sandmann es sich zur Aufgabe, ihn freizulegen. Nach der Zäsur des März 2020, die uns das endgültige Absterben der vergangenen Epoche leidenschaftslos vor Augen führte, betrachtet der Autor das Monströse, welches im Menschen selbst angelegt ist und sich jüngst unverhohlen Bahn gebrochen hat; bedenkt es von verschiedenen Richtungen her. Erkennt all die „Haltungen“ im „Jagdverhalten“, motiviert aus bloßer Empörung, als die letzte analoge Regung hinüber zum „synthetischen Kitsch“. Am Ende steht die Tilgung des Subjekts. Diese Subjekttilgung erfolgte in verdichtetem Maße im jüngst erlebten Faschismus – wer nun den Finger hebt, möge noch einmal von vorne denken – weil Digitalisierung und KI die im Faschismus angelegte Totalität exzesshaft ad infinitum fortführten. KI, als „Bund, aus dem es kein Entrinnen gibt“; Digitalismus, als „irreversibler Faschismus“, als seine „Endfigur“.
„Faschismus kann man nicht besiegen, man kann ihn weiterführen und anders anstreichen“.
Der Autor öffnet eine Tür: „Man kann ihn stören. Stören bis in alle Ewigkeit.“ Ein zweckdienliches Mittel ist Lachen. Gottesdienst ebenso sowie grundsätzlich alles „Erfolglose“, das alleine imstande sei, Zivilisation und ihre „Tödlichkeit“ zu überwinden. „Denn alles, was Erfolg hat, ist befallen von den Mustern, die töten.“
Die Glücksimitation
Sandmann lässt Zauber entstehen. Im Traum spricht er zu seinem Freund Clemens. Teilt seine unerhörten Wünsche mit ihm, die dem Monströsen ein brachiales Ende setzten. Erzählt ihm, der vor Jahren diesem Dasein entschlafen, von Menschen, die noch glaubten, in einer Demokratie zu leben.
„Sie haben die Abstumpfung mithilfe ihrer smarten Geräte so weit vorangetrieben, dass jede Meldung über ein Unglück niemals ihr Ziel findet. Da ist auch kein Glück, das der Meldung den Eingang versperrte“.
Stattdessen: eine „Glücksimitation“. Feinsinnig erkannt: das begleitende Auftreten der Aggression, mit der diese Imitation verteidigt wird. So wird der eigene Hass, sich speisend aus der Ahnung, nicht den Punkt getroffen zu haben, über diejenigen ausgeschüttet, die diesem Spiel mit Substituten nicht beiwohnen möchten.
Zukunftsrezepte: Keine Gegenentwürfe
Was also tun mit unserer Zukunft? Ins Blaue hinein und frohen Mutes darauf warten, ob die Mehrheit sich einer höheren Form menschlicher Ausdrucksmöglichkeiten entsinnt? Ob sie totalitäres Jagen einstellt, zugunsten von Dialog und Nächstenliebe in Praxis? Entgegen der verbreiteten Auffassung, Kritik dürfe nur üben, wer Alternativprogramme in der Tasche hat, plädiert Sandmann für die geistige Freizügigkeit auch in dieser Frage. „Keine Gegenentwürfe, keine Menschheitsfamilie, eben keine Haltung“, so sein Ansatz.
„Nicht: wir sind für Frieden und Freiheit. Stattdessen aber: Wir sind für nichts. Wir stören die Haltung und schaffen Nischen.“
Die Haltung stören. Allein die „Maske“ als Pflichtübung der Neuen Normalität ließ bis zum Grunde blicken. Die Gehorsamsexerzitien - „Kindesmissbrauch der monströsesten Sorte“, man denke nur an die tadellos vollstreckte Denunzianten-Auslese unter Kindern.
Schönheit als Ausweg
Sandmann stellt den jeweiligen Kapiteln seines Werks eine Erinnerung an einzelne Menschen voran. Der Autor forscht nach den Individuen, die dem Monströsen in der Welt ihre „betörend filigrane“ Musik entgegenstellten. „Weshalb vermochte dieses betörend filigrane Musikstück die Dinge nicht in die andere Richtung drehen,“ fragt Sandmann, „wie konnte es überhaupt entstehen in einem menschlichen Kopf, wo doch diesem Menschenkopf der Hang zum und zur Haltung eingeschrieben ist?“ Wenn aber dem Menschen das Monströse eingeschrieben ist, in dem Sandmann das faschistische Element erkennt, wie kann ein solcher Mensch also ein solches Kunstwerk erschaffen? Vielleicht könnte der Einzelne doch gut sein!
„Gut und Böse, in der Bibel sind die beiden Bedingungen des Daseins keine moralischen Kategorien“,
so Eugen Drewermann in RAFFEN STERBEN TRANCE und lässt begreifen: der Einzelne ist auch gut!
Der geistige Gewinn aus diesem Buch
Besäße Sandmanns These Gültigkeit, Haltung sei dem Menschen eingeschrieben und dabei das Ur-Übel allen Faschismus, so dürfen seine tief durchdachten und mit Virtuosität gesetzten Zeilen, wenn nicht als Warnung, so doch als eindringliche Erinnerung an uns alle verstanden werden, sich in Zurückhaltung zu üben. „Jagdverhalten hüben wie drüben“! Man denke an die bisweilen lustvolle Empörung über Abartiges, wenn es mit sexuellen Inhalten aufgeladen ist, immerhin einer der „deutlichsten Repräsentationsformen des Analogen“. Sandmann formuliert mit seinem Buch auch einen Appell zu „Toleranz“ auf jeder Seite, ohne den Begriff auch nur in Anspruch zu nehmen. Schubladisierung ist keine einseitige Übung. Wer sich dazu hinreißen lässt, einzusortieren, statt gründlich zu betrachten, in Frage zu stellen und sich selbst zu prüfen, speist damit bereits „das Kernelement jeder Jagd, jedes Faschismus“.
Wenn Sandmann wiederkehrend die Renaissance bemüht, um uns einzelne Blüten vorzustellen, geschieht dies nicht als Selbstzweck. Er bringt mit dieser Figur das vielleicht letzte Mittel für eine mögliche Umkehr auf den Plan. Nicht das noch größere Kapital gegen das größte Kapital wird der Macht am Ende gefährlich. Zersetzung erfährt die Macht, schließlich nur durch das Eine: „Bewusstsein, Sprache, Schönheit.“
Zuletzt geht es in der „offenen Blaupause“ hin zum Verlassen dieser Welt und gleichzeitig zurück zum Beginn: „Verzeihung ist der Eingang zur Trance“. Einerseits. Denn Verzeihen ist kein geradliniger Prozess. Er verlangt danach, „Getanes“ stillzulegen, „die Irren und Mörder zu Termiten zu erklären“. Die Verzeihung selbst bedeute „in Wahrheit“: das Bewusstsein übertölpeln. Die Freigabe der Mörder hat unbeschränkt zu erfolgen, sie kennt keine Alternative.
„Ich muss – mich entsetzt durchaus dies zu sagen – sie tatsächlich lieben. Wie Jesus das womöglich versucht und vielleicht gar gekonnt hat. Nein, es reicht nicht, sie von aller Bedeutung abzuziehen, ich muss sie lieben. Daran werde ich scheitern.“
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Wir danken der Autorin für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: sulit.photos / shutterstock
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