Lyrische Beobachtungsstelle

Ein Sheriff verweigert die Maske | Von Paul Clemente

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Corona-Western

“Die Lyrische Beobachtungsstelle” von Paul Clemente.

Es gibt Kritiker, von denen weiß man: Wenn die einen Film, ein Theaterstück verreißen, zertreten, zerfetzen, wenn deren Abwehr so richtig in Fahrt kommt - dann muss man unbedingt hingehen. Ohne Wenn und Aber. Das gilt auch für „Eddington“. Bei dem Film hielt die Rezensentin des NDR den Daumen nach unten. Ihr Urteil: „Ein filmischer Tiefpunkt für Regisseur Ari Aster.“ Also: Nichts wie hin. Zumal es sich um den ersten Corona-Western handelt! 

Zugegeben, im Horror-Genre war man etwas schneller: Der Splatterfilm „Corona Zombies“ startete bereits am 10. April 2020! Nur wenige Wochen nach dem ersten Lockdown. Aber Corona-Western? Nein, da war noch Pionierarbeit zu leisten. Und das hat „Eddington“ tatsächlich geschafft. Auch wenn er keine Cowboys oder Indianer zeigt, sondern als Neo-Western gilt. Ein Subgenre, in dem der Westen „wild“ geblieben ist. Auch im 21. Jahrhundert.

Schauplätze sind meist Käffer in New Mexico und Kalifornien. Da haben Sheriffs noch das Kommando. Auch wenn sie keine Pferde, sondern Motorräder reiten. Oder gleich im Auto sitzen. Zudem ist der Neo-Cowboy bis an die Zähne bewaffnet. Sogar der breitkrempige Hut hat den Sprung in die Gegenwart geschafft. 

In solch einem fiktiven Kaff mit dem nichtssagenden Namen „Eddington“, treten 2020 die Corona-Regeln in Kraft. Schon in den ersten Szenen erklären Panik-Fans die Seuche für tödlich! Das schreit nach Maskenpflicht. Aber Sheriff Joe Cross hält diese Maßnahme für unsinnig, verweigert den Lappen. Aus gutem Grund: sein Astma verbietet ihm jegliche Bedeckung. Außerdem verzichtet der Stadtrat bei Konferenzen ebenfalls auf Maskerade. Also, was soll’s?

Beim Streifendienst sieht Cross, wie man einem Unmaskierten den Zutritt zum Supermarkt verweigert. Sofort fährt er dazwischen und erzwingt den Einlass. Die Bürger sind unschlüssig: Einerseits besitzt der Sheriff eine Autorität, anderseits kommt die Masken-Vorschrift von der Regierung. Wem jetzt folgen?  

Zu allem Überfluss stehen Bürgermeisterwahlen vor der Tür. Der bisherige Amtsinhaber, Ted Garcia, fährt voll die Lockdown-Schiene. Als Wirtschaftsliberaler verspricht er den Wählern eine „positive“ High Tech-Zukunft. Um Garcias Wiederwahl zu verhindern, tritt Sheriff Cross gegen ihn an: Er trommelt ein Wahlkampfteam zusammen und los geht’s. In einer Szene begegnen sich Cross und Garcia auf offener Straße. Nähern sich vorsichtig. Taxieren sich. Ganz wie Duellanten im klassischen Western. Nur, diesmal ist der Beschuss verbal. Und die anderthalb Meter Mindestabstand bleiben gewahrt.

Aber ein Problem kommt selten allein: Bald muss Cross eine „Black Lives Matter“-Demo auflösen. Die durchweg weißen Teilnehmer sind irritiert, weil ausgerechnet ein schwarzer Polizist dem Sheriff assistiert. „Du solltest auf unserer Seite stehen!“ ermahnt ihn eine Demonstrantin. Wie der Polizist dann seine Miete zahlen soll, ist für die weiße Elite-Schülerin freilich keine Frage. 

Auch im trauten Heim findet der Sheriff keine Ruhe. Seine Ehefrau Louise ist ein Missbrauchsopfer, also psychisch ruiniert. Ihren Mann ignoriert sie. Anfassen oder gar Sex? Tabu. Cross Schwiegermutter, ebenfalls einquartiert, hört wilde Verschwörungs-Podcasts. Irgendwann beschließt Cross, seine kaputte Ehe für den Wahlkampf auszuschlachten. In sozialen Netzwerken startet der Sheriff einen Rufmord gegen seinen Rivalen Garcia: Der habe Louise vor vielen Jahren vergewaltigt. Beweise: Null. Aber im #Metoo-Zeitalter ist solches Anschwärzen schon die halbe Miete. Kurzum: Cross verliert jedes Maß.

Bei all den Zeitgeist-Themen verzichtet Regisseur Ari Aster auf Stellungnahme. Es gibt in „Eddington“ kein richtig oder falsch. Aster interessiert die Spaltung in der Bevölkerung. Ein Prozess, der sich beschleunigt. Darin ähnelt „Eddington“ einem französischen Film unter dem schönen Titel „Der Saustall“, einer pechschwarzen Komödie von 1981. Hauptcharakter ist Lucien Cordier, ein Polizist und gutmütiger Trottel. Der soll in einem afrikanischen Kolonialdorf für Ordnung sorgen. Alle trampeln auf ihm rum, bis er eines Tages kapiert: Staatliche Ordnung besteht aus Absurdität, Korruption und Schmiere. Diese Erkenntnis erlaubt kein Zurück: Cordier zückt seine Bleipuste und startet den großen Kehraus. Eine solche Metamorphose durchlebt auch Sheriff Cross. Wenn Sicherheitskräfte herausfinden, dass die von ihnen verteidigte Ordnung ein schlechter Witz ist - dann werden sie gefährlich. 

Zurück zu „Eddington“: Dort eskaliert der Wahlkampf zum Stadium Bürgerkrieg. Nachts von Gegnern gejagt, stürmt Sheriff Cross ein Waffengeschäft. Das trägt den schönen Namen „Pistol Palace“, übersetzt: Pistolenpalast. Cross greift sich eine MP und ballert wild in die Dunkelheit. An dieser Stelle ist „Eddington“ längst als Mikrokosmos enttarnt, der für globalen Bürgerkrieg und Apokalypse steht. Eine Dystopie, die von amerikanischen Independent-Filmern immer öfter beschworen wird. Das dürfte kaum Zufall sein. Schließlich haben politische Spaltungs-Narrative so viele Lebensbereiche infiziert, dass die Suche nach friedlichen Auswegen zunehmend erschwert.

In den letzten zwei Jahren hat vor allem Drehbuchautor und Regisseur Alex Garland mehrere Bürgerkriegs-Szenarien auf die Leinwand gebracht: In seinem „Civil War“ schlägt sich eine kleine Gruppe von Journalisten durch ein verwüstetes Amerika: In jeder Ortschaft entdecken sie neuen Wahnsinn. Auch „Eddington“ geht in diese Richtung. Bis zum apokalyptischen Weltenbrand. Da geht alles in Flammen auf. 

Bereits vor sieben Jahren, in seinem Horrorfilm „Mittsommer“ erhob Ari Aster ein schwedisches Dorf zum Mikrokosmos: Eine Sekte feiert dort die Sonnenwende. Als Höhepunkt werden die Alten feierlich in den Tod gestürzt. Die Entsorgung von ökonomisch Unproduktiven wird mit viel Metaphysik geschmückt. Mit Versprechen auf baldige Wiedergeburt beispielsweise. Nur, wenn ein Greis sich weigert, wird’s ungemütlich... 

Gegen solche Entsorgungs-Riten wirkt der anarchische Bürgerkrieg in „Eddington“ schon wieder amüsant. Und solch pechschwarze Komik sorgt manchmal für rettende Distanz.  

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bild: New York, NY - April 29, 2019: Regisseur Ari Aster bei der Film Society Of Lincoln Center 50th Anniversary Gala in Alice Tully Hall

Bildquelle: lev radin / Shutterstock 


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