
Von Jahr zu Jahr wird die Stimmung im Lande gereizter. Meinungs- und Gedankenaustausch verkommen zu Schubladen-Denken. Haltung und Bekenntnis erdrücken Aufgeschlossenheit und kritisches Bewusstsein. Was lässt das für künftige gesellschaftliche Auseinandersetzungen erwarten?
Ein Standpunkt von Rüdiger Rauls.
Wofür?
Im Jahre 1968 veröffentlichte der DDR-Lyriker Wolf Biermann sein Lied „Ermutigung“. Eine Strophe im Text lautet: „Du lass dich nicht verbittern in dieser bitt’ren Zeit. Die Herrschenden erzittern, sitzt du erst hinter Gittern, doch nicht vor deinem Leid.“ Aber wie sieht die Welt heute aus und wie steht es um jene, die die Welt verändern wollten und immer noch wollen? Haben sie die Herrschenden das Zittern gelehrt? Seit Biermann dieses Lied schrieb, ist die Welt trotz allen Aufbegehrens in einem erbärmlichen Zustand. Das hinterlässt Spuren bei jenen, die angetreten waren, eine bessere Welt zu schaffen. Ernüchterung und gar Ratlosigkeit sind eingekehrt. Ist der Kampf für eine freundlichere Zukunft deshalb aussichtslos?
Vor wenigen Tagen feierte Vietnam den 50. Jahrestag seines Sieges über die USA, und am 9. Mai jährt sich zum achtzigsten Mal der Sieg der Sowjetunion über den Faschismus. Das sind zwei Daten, die für Befreiung und Zuversicht stehen, aber sie lösen hierzulande wenig Begeisterung aus. Nur noch wenige fühlen sich diesen Ereignissen verbunden, hauptsächlich die Älteren, die zumindest den Vietnamkrieg noch mitverfolgt und sich mit dem vietnamesischen Volk solidarisiert hatten. Sie fühlten sich nicht nur dem vietnamesischen Volk verbunden sondern mit ihm stellvertretend auch mit all jenen Völkern, die bis weit in 1970er Jahre hinein für ihre Unabhängigkeit kämpften.
Mit diesem Kampf verbanden viele damals nicht nur den Kampf gegen Kolonialismus und Imperialismus sondern auch für eine neue Gesellschaft, den Sozialismus. Dieser Orientierungspunkt ist mit dem Untergang der Sowjetunion verloren gegangen. Mit ihr verschwand auch die politische Orientierung, die das materialistische Denk den Vorgängen in der Welt und in den Gesellschaften gab. In welche Richtung soll heute gesellschaftliche Veränderung gehen? Neben der politischen Klarheit hängen von dieser Frage auch nicht unwesentlich Durchhaltevermögen und Gemütszustand derer ab, die für sich Veränderung einsetzen. Denn jeder Kampf orientiert sich an seinem Ziel. Wer kein Ziel hat, kämpft auf verlorenem Posten. Dem droht das Scheitern. Was ist heute das Ziel?
Erfolgloser Kampf ermüdet, entmutigt, macht hoffnungslos. Das ist die erste Ursache des Scheiterns. Die zweite ist ein falsches Bild von der Wirklichkeit, verbunden mit der Fehleinschätzung der Kräfteverhältnisse. Der Westen verliert seinen Krieg in der Ukraine nicht, weil er falsche Taktiken einsetzte oder nicht genügend Waffen schickte. Er verliert, weil er Russland unter- und sich selbst überschätzte, weil er sein Wunschdenken mit der Wirklichkeit verwechselte. Er war fest davon überzeugt, dass die westlichen Waffen den russischen überlegen sind, dass Russland schwach ist und Putin ein Autokrat, der Angst hat vor dem eigenen Volk und der westlichen Demokratie. Man glaubte, dass die Russen Putin zu Teufel jagen, um endlich jene Freiheit zu erlangen, die der Westen ihnen bietet.
Die meisten, die sich heute politisch betätigen, machen sich wenig Gedanken über Kräfteverhältnisse. Doch daran scheitern die meisten Auseinandersetzungen. Zweifelhaft ist jeder Kampf von vorneherein, wenn die eigenen Kräfte über- und die des Gegners unterschätzt werden. Es genügt nicht, auf der moralisch richtigen Seite zu stehen. Es genügt nicht, im Recht zu sein. Man muss das Recht auch erkämpfen können, sonst nützt es wenig. Dafür ist die Beurteilung der Kräfteverhältnisse und das Erkennen der Wirklichkeit unabdingbar. Wer beide nicht beachtet, weiß seine Erfolgsaussichten nicht einzuschätzen, kann nicht erkennen, ob der Kampf gewonnen werden kann oder ob Abwarten besser ist, um neue Kräfte zu sammeln.
Warum?
Um Scheitern zu vermeiden, ist Klarheit notwendig. Klarheit bedeutet Antworten auf die Fragen: Was soll erreicht werden und wie kann es erreicht werden? „Verlangen wir das Unmögliche und zwar sofort“, war einmal Forderung und Appell der Spontis, den kämpferischen Vertretern spontaner Aktionen, also jenen Aktivisten, die damals noch nicht Aktivisten hießen. Für sie war die Aktion wichtig, das Handeln. Das Betrachten der Umstände und die Einschätzung der Erfolgsaussichten waren ihnen eher lästig. Aber haben sie das Unmögliche bekommen? Und dann auch noch sofort?
Dass es um die Spontis mit ihrem Aktionismus bald ruhig geworden war, lag weniger daran, dass ihre spontanen Aktionen ebenso wenig Veränderung gebracht hatten wie die endlosen Grundsatzdiskussionen, die sie oft zurecht kritisiert hatten. Vielmehr war unklar gewesen, was das Unmögliche sein sollte, das es umgehend zu erkämpfen galt. Ihren spontanen Aktionen fehlte dasselbe wie den Grundsatzdiskussionen: das Ziel und die Klarheit über den Weg dorthin! Das Unmögliche erreichen zu wollen und zwar sofort, hört sich verdammt entschlossen an, aber ohne klares Ziel hilft alle Entschlossenheit nichts. Richtungslose Entschlossenheit hatte eine Gemeinsamkeit mit den ziellosen Grundsatzdiskussionen: Sie waren nicht an der Wirklichkeit orientiert sondern an den eigenen Wünschen und Vorstellungen.
Die Spontis sind Vergangenheit. Aktivisten neuerer Bewegungen wie die Klimakleber oder die sogenannte letzte Generation und so mancher anderer gesellschaftlicher Themen sind im Begriff, ihnen zu folgen oder bereits bedeutungslos geworden im Auf und Ab der Konjunkturen gesellschaftlicher Aufwallungen. Sie verschwanden, ohne bleibende Spuren zu hinterlassen. Worum ging es dabei über den öffentlichen Krawall, die moralische Empörung, Selbstbeweihräucherung und Selbstdarstellung hinaus?
Man verbiss sich in Einzelerscheinungen der gesellschaftlichen Zustände. Zwar wurde auch immer wieder auf den Kapitalismus als gesellschaftliche Grundlage und Nährboden dieser Erscheinungen verwiesen, aber dabei blieb es. Den Kapitalismus selbst stellte man nicht in Frage. Man prangerte ihn an als Ursache, aber über diese Schuldzuweisung dachte man nicht hinaus, beschränkte sich auf moralische Empörung in Vorwurfshaltung. Im Vordergrund stand die Entlarvung des Kapitalismus, das Anprangern all jener, die verantwortlich gemacht wurden für die Missstände, die kritisiert wurden.
Bewegungen wie Fridays for Future oder die letzte Generation gaben sich als kompromisslose Kapitalismuskritiker. Parteien wie die Linke, das BSW und auch anfangs die Grünen, ja bis hinein in die linke SPD traten kapitalismuskritisch auf und tun es immer noch. Aber ihre Konzepte, Ideen und Vorschläge liefen hinaus auf eine Verbesserung des Kapitalismus. Für seine Überwindung konnten sie keinen Weg aufzeigen. Denn letztlich wussten und wissen sie nicht, was nach dem Kapitalismus kommen soll.
Das kann auch nicht erwartet werden, denn eine neue Gesellschaft nach dem Kapitalismus ist nichts, was sich einige wenige ausdenken können. Aber viele von jenen glauben, es dank ihrer höheren Bildung, ihrer alternativen Informationen oder ihrer wissenschaftlich abgesicherten Theorien zu können. Doch eine neue Gesellschaft ist nicht das Ergebnis des Wissens und Handelns einiger weniger. Die Gestaltung von Gesellschaften ist gemeinschaftliche Leistung eines Großteils jener Gesellschaftsmitglieder, die mit den Verhältnissen nicht mehr zufrieden sind.
Das ist aber nicht das Bewusstsein, das unter den Kritikern des Kapitalismus heute vorherrscht. Dort liegt eher ein elitäres Denken vor, das sich selbst im Mittelpunkt der Veränderung sieht, als ausschlaggebend, als richtungsweisend. Das Volk kommt in diesen Überlegungen selten vor, im Gegenteil spiegelt sich in vielen Äußerungen Verachtung wider gegenüber den sogenannten einfachen Leuten, die von vielen nur als Schlafschafe angesehen werden. Aber ohne das Volk, ohne seine aktive Teilhabe wird es keine grundlegende Veränderung geben.
Wie?
Das sind die Erkenntnisse aus den Siegen der Vietnamesen über die USA und der Sowjetunion über den Faschismus. Diese Völker wussten,wofür sie kämpften und all die Opfer auf sich nahmen. Vor allem war ihnen auch klar, dass nur die Geschlossenheit des überwiegenden Teils der Bevölkerung zum Sieg führen konnte als der Sieg der gesamten Gesellschaft, nicht einiger weniger Intellektueller und alternativ Denkender oder solcher, die sich berufen fühlten. Zum Sieg gehörte auch eine verlässliche, vereinende und kluge Führung, die über die politische Klarheit für die Notwendigkeiten in diesem Kampf verfügte und diese auch verständlich machen konnte.
Das fehlt den gesellschaftlichen Bewegungen hier und heute. Das jüngste aber nicht einzige Beispiel eines solchen Mangels ist das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW), das nicht in der Lage war und immer weniger ist, eine solche Führung anzubieten. Die Menschen waren bereit und voller Erwartungen. Sie hatten diese Partei förmlich zum Erfolg getragen. Aber das BSW war nicht in der Lage, die anstehenden Aufgaben zu erkennen. Persönliche Eitelkeiten ersetzten politische Klarheit.
Forderungen und Konzepte haben wenig zu tun mit politischer Klarheit, es sei denn, dass sie auf der gesellschaftlichen Wirklichkeit fußen. Wenn sie diese Realität nicht beschreiben und erklären und daraus Handlungsmöglichkeiten vermitteln können, sind sie nichts weiter als Hirngespinste, die man sich als Lösung der gesellschaftlichen Probleme ausdenkt. Wenn man die Lösung der gesellschaftlichen Probleme durch die Wahl einer Partei in Aussicht stellt, die alles besser machen zu können vorgibt, dann täuscht man sich selbst und die eigenen Anhänger.
Denn es genügt nicht, das Verhalten der Eliten zu entlarven und glauben zu machen, dass man es besser kann. Es genügt nicht, die Manipulation und einseitige Berichterstattung der Medien, Korruptheit und Volksferne der Politiker anzuprangern, das Gewinnstreben der Konzerne, den Imperialismus und die Kriegslüsternheit der kapitalistischen Wirtschaft. Das muss sicherlich geschehen, um die Missstände deutlich zu machen. Aber es muss auch deutlich werden, dass es allein damit nicht getan ist.
Das Anprangern und Entlarven macht ja nicht Halt bei den Mächtigen, es schlägt auch zurück auf die, die anprangern und entlarven. Wer beim Anprangern und Entlarven stehen bleibt, nicht über diesen Tellerrand hinausgeblickt, macht es zum alleinigen Inhalt des eigenen Vorgehens. Dann besteht der politische Kampf nur noch daraus, sich zwanghaft im Offenlegen der Niedertracht zu verbeißen. Dieses Verhalten macht irgendwann keinen Unterschied mehr zwischen der Niedertracht der Herrschenden und jener, die man im eigenen Lager zu sehen und offenlegen zu müssen glaubt. Berechtigte Kritik wird dann zu einer Haltung der Feindseligkeit, wie wir sie in vielen Kommentarspalten der alternativen Medien beobachten.
In seinem Gedicht „An die Nachgeborenen“ beschreibt Bertold Brecht diesen Zustand: „Auch der Hass gegen die Niedrigkeit verzerrt die Züge. Auch der Zorn über das Unrecht macht die Stimme heiser.“ Was geschieht mit dem Kapitalismus und seinen Eliten, wenn sie am Pranger stehen und entlarvt wurden? Als was sollen sie entlarvt werden, wofür angeprangert? Und wenn sie genügend entlarvt und angeprangert wurden, was kommt dann? Ist das alles, ist das genug? Oder soll danach noch etwas kommen, etwas Neues, Ausblicke in freundliche Zukunft vor dem Horizont einer neuen Gesellschaftsordnung? Für Brecht war es der Sozialismus. Was ist es für uns?
Anmerkungen
Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.
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Bildquelle: Fran_kie/ shutterstock
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