
Leider reichte meine Zeit nicht aus, um in den letzten Wochen angemessen den Krieg in Gaza und die interessanten politischen Entwicklungen zu beleuchten. Das will ich hier zumindest teilweise nachholen.
Ein Kommentar von Thomas Röper.
Die Entwicklungen rund um den israelischen Vernichtungskrieg in Gaza der letzten Wochen sind hochinteressant. Es gibt Berichte über eine Entfremdung zwischen US-Präsident Trump und dem israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu, und sogar die EU beginnt, wenn auch gegen den Widerstand Deutschlands, ihre Politik gegenüber Israel zumindest zu hinterfragen. Da ich bisher nicht dazu gekommen bin, selbst darüber zu schreiben, übersetze ich hier einen Artikel des Israel-Korrespondenten der russischen Nachrichtenagentur TASS über die aktuellen Entwicklungen.
BEGINN DER ÜBERSETZUNG:
„Gideons Streitwagen“: Ein anderer Krieg in Gaza?
Andrej Schirokow, Leiter des TASS-Büros in Israel, zur Frage, wohin Israel den Konflikt im Nahen Osten führt
Am 18. Mai gab Israel den Beginn intensiver Kampfhandlungen im Gazastreifen im Rahmen der neuen groß angelegten Bodenoperation „Gideons Streitwagen“ bekannt, an der sich gleich fünf Divisionen der israelischen Armee beteiligen, wie es nur in den ersten Monaten des Krieges in der palästinensischen Enklave Ende 2023 der Fall war.
Das ist nicht nur um eine Fortsetzung der vor 19 Monaten begonnenen Militäroperation, sondern ein neuer, intensiverer Krieg, der unter veränderten Bedingungen und vor allem unter zunehmendem internationalen Druck geführt wird.
Ausweitung der Militäroperation
Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu erklärte, das Ziel der erweiterten Operation sei die endgültige Niederlage der palästinensischen Hamas-Bewegung und die Herstellung der Kontrolle über das gesamte Gebiet des Gazastreifens. Der Beschluss zur Intensivierung der Kampfhandlungen (...) wurde am 5. Mai vom militärischen und politischen Kabinett Israels gefasst.
Der israelische Armeesprecher Efi Defrin sagte bei einer Pressekonferenz, dass die Operation „Gideons Streitwagen“ darauf ausgerichtet sei, alle Ziele des Krieges in Gaza zu erreichen, einschließlich der Rückkehr der Geiseln und der Beseitigung der Hamas-Herrschaft in der Enklave. Er sagte, dass die israelische Armee im Rahmen der Bodenmanöver „die operative Kontrolle im Gazastreifen verstärken und sein Gebiet in Teile aufteilen“ und die Bevölkerung aus allen Gebieten, in denen gekämpft wird, zurückziehen wird. Konkret bedeutet „operative Kontrolle“ die „Räumung von Gebieten, in denen sich der Feind aufhält“, fuhr er fort und wies darauf hin, dass Israel „angesichts der Erfordernisse der Operation eine groß angelegte Einberufung von Reservisten vorgenommen“ habe.
Zwei Monate zuvor, am 18. März, hatte die israelische Armee die Kämpfe im Gazastreifen wieder aufgenommen und damit den im Januar geschlossenen Waffenstillstand gebrochen. Das Büro von Netanjahu begründete das damit, dass die Hamas die Vorschläge der Vermittler und des Sondergesandten des US-Präsidenten, Steven Witkoff, in den Gesprächen abgelehnt habe und erklärte, das Ziel der Gaza-Operation sei die Freilassung aller Geiseln.
Druck für Verhandlungen
Der israelische Verteidigungsminister Israel Katz stellte am 17. Mai fest, dass die Hamas-Delegation in Doha, als die Vorbereitungen für die Operation „Gideons Streitwagen“ im Gazastreifen begannen, eine Rückkehr zu Verhandlungen über ein Abkommen zur Geiselbefreiung bekannt gab, „im Gegensatz zu der unnachgiebigen Position, die sie bis dahin eingenommen hatte“. Doch am 20. Mai teilte das Büro von Netanjahu mit, dass Israel selbst beschlossen habe, seine Delegation aus Doha zurückzuziehen, wo die Verhandlungen seit einer Woche liefen, und begründete das mit dem mangelnden Engagement der Hamas-Vertreter. Dem Bericht zufolge wird „das Hauptverhandlungsteam zu Konsultationen nach Israel zurückkehren“, und „Verhandlungsführer auf technischer Ebene werden in dieser Phase in Doha bleiben“. Das Büro des Ministerpräsidenten bekräftigte, dass „Israel dem amerikanischen Vorschlag für die Rückkehr der Geiseln“ auf der Grundlage des Witkoff-Plans zustimmt, aber die Hamas „in ihrer Ablehnung stur bleibt“. Übrigens hatte Netanjahu nach den Gesprächen mit Witkoff am 12. Mai eine israelische Delegation nach Katar beordert. Sein Büro stellte damals klar, dass „die Verhandlungen ohne einen Waffenstillstand“ auf israelischer Seite geführt werden.
Unter diesem Gesichtspunkt ist die Erklärung des Generalstabschefs der israelischen Armee Eyal Zamir interessant, der am 20. Mai bei einem Besuch von Einheiten im Gazastreifen erklärte, dass Israel nach wie vor bereit sei, „seine Aktionen anzupassen“, wenn mit der Hamas eine Einigung über die Freilassung der Geiseln erzielt werde.
Humanitäre Hilfe und drohende Hungersnot
Ende April wies das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) auf die Notlage im Gazastreifen hin, die durch das seit Anfang März geltende israelische Verbot humanitärer Hilfe für die Enklave verursacht wird. Am 2. März erklärte Netanjahu die Einstellung der humanitären Hilfslieferungen in den Gazastreifen und die Schließung aller Grenzübergänge, da die Hamas sich weigerte, den Witkoff-Plan zur Verlängerung des Waffenstillstands zu akzeptieren. Am Abend des 18. Mai, nach dem Ausbruch heftiger Kämpfe im Gazastreifen, gab Israel bekannt, dass es eine „Grundmenge“ an Nahrungsmitteln in den Gazastreifen zulassen werde, um eine drohende Hungersnot zu verhindern. Das Büro von Netanjahu erklärte, das geschehe „auf Empfehlung der israelischen Streitkräfte und aufgrund der operativen Notwendigkeit, die intensiven Kämpfe auszuweiten, um die Hamas zu besiegen“.
Innerhalb Israels stieß die Entscheidung auf scharfe Kritik, vor allem von den rechtsgerichteten Parteien der Regierungskoalition. Bereits am 19. Mai bezeichnete der Ministerpräsident selbst die Zustimmung zur Wiederaufnahme der humanitären Hilfe im Gazastreifen als eine „schwierige Entscheidung“. Ihm zufolge geschah das vor allem aufgrund des starken Drucks der internationalen Partner Israels, die keine Szenen massenhaft Verhungerter in der Enklave sehen wollten.
Der Ministerpräsident erinnerte auch daran, dass Israel zuvor zugestimmt hatte, „während des Krieges minimale humanitäre Hilfe zu leisten“, aber später stellte sich laut der israelischen Seite heraus, dass sich die Anhänger der Hamas diese Hilfe angeeignet hätten, was deren Kontrolle über die Bewohner der Enklave stärkte. Aus diesem Grund, so Netanjahu, seien die Hilfslieferungen eingestellt worden, und Israel habe mit den USA an einem neuen Plan gearbeitet, bei dem ein Netz von Verteilungsstellen für humanitäre Hilfe im Gazastreifen eingerichtet werden soll, die von der israelischen Armee bewacht werden.
Internationaler Druck
Wie die Jerusalem Post feststellt, hat Israel in Gaza nun begonnen, „Krieg zu führen, als gäbe es kein Abkommen, und zu verhandeln, als gäbe es keinen Krieg“. Der Zeitung zufolge machen die jüngsten Schritte deutlich: Israel glaubt, dass „die Zeit auf seiner Seite ist“ und „wenn die Verhandlungen scheitern“, wird es einfach weiter Druck auf die Hamas und den Gazastreifen ausüben, „bis sie zustimmen“. „Aber nach 19 Monaten Krieg ist die Zeit für Israel in Wirklichkeit zum Feind geworden“, schreibt die Jerusalem Post. „Je länger der Krieg andauert und je mehr Opfer unter der Zivilbevölkerung es gibt, desto mehr wird er Israels internationales Ansehen untergraben und desto schwieriger wird es für die Verteidiger Israels in der ganzen Welt, Israels Legitimität in seinem gerechten Kampf gegen die Hamas zu verteidigen“, schließt die Zeitung.
Die regierende israelische Koalition aus rechtsgerichteten und religiösen Parteien zeigt jedoch einen völligen Konsens, den Krieg fortzusetzen, obwohl die Eskalation zu einem starken Anstieg der Kritik seitens der internationalen Gemeinschaft geführt hat, die immer schwerer zu ignorieren wird. So erklärte der spanische Ministerpräsident Pedro Sanchez bei der Eröffnung des 34. Gipfeltreffens der Arabischen Liga am 17. Mai in Bagdad, dass Madrid beabsichtige, den Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen aufzufordern, sich zur Einhaltung der internationalen Verpflichtungen Israels in Bezug auf den humanitären Zugang zum Gazastreifen zu äußern. Spanien hat außerdem eine Überprüfung des Assoziierungsabkommens der EU mit Israel beantragt. Dieser Forderung Madrids haben sich auch Irland, Luxemburg und Slowenien angeschlossen. Am 19. Mai veröffentlichte die Pressestelle des Elysee-Palastes eine gemeinsame Erklärung der Staats- und Regierungschefs Frankreichs, Großbritanniens und Kanadas, in der sie sich entschieden gegen die erneuten Kampfhandlungen Israels im Gazastreifen aussprachen und die israelische Regierung für ihre „odiösen Äußerungen“ über die palästinensische Enklave kritisierten. Außerdem drohten sie Israel mit „konkreten Maßnahmen“ als Reaktion auf sein Vorgehen.
Am 20. Mai gab Großbritannien bekannt, dass es die Verhandlungen mit Israel über ein Freihandelsabkommen eingestellt hat. Am selben Tag erklärte EU-Chefdiplomatin Kaja Kallas, die EU habe beschlossen, das Assoziierungsabkommen zwischen der Union und Israel zu überprüfen. Sie sagte, dass die EU „den Prozess“ der Überprüfung „einleitet“, äußerte aber die Hoffnung, dass die Lieferung humanitärer Hilfe in den Gazastreifen „entsperrt wird und sich die Situation verbessert“.
Was in den EU-Ländern geschieht, könnte als nicht den globalen Trends entsprechend angesehen werden, wenn sich die Beziehungen zwischen den USA und Israel nicht gerade wegen der Situation im Gazastreifen abkühlen würden. Wie Ynet feststellt, haben die Handlungen und Äußerungen von US-Präsident Donald Trump während seines jüngsten Besuchs im Nahen Osten, einschließlich „seiner Entscheidung, Israel nicht zu besuchen“, die „Besorgnis“ der israelischen Regierung über die Wahrscheinlichkeit verstärkt, dass der Präsident
„eine Reihe von drastischen Maßnahmen in der Region ergreifen wird, ohne die Interessen Israels zu berücksichtigen. (...) Diese Besorgnis hat sich angesichts von Schritten wie direkten US-Verhandlungen mit der Hamas über die Freilassung von Edan Alexander, Signalen, dass Amerika bereit ist, in Verhandlungen mit dem Iran Kompromisse einzugehen, und der Mitteilung, dass Washington nicht mehr verlangt, dass Riad eine Normalisierung [mit Israel] als Bedingung für die Entwicklung eines zivilen Atomprogramms fordert, verstärkt“,
schrieb das Portal. Vor diesem Hintergrund gibt es „Berichte über eine wachsende Frustration“ bei Trump über Netanjahu, obwohl „beide Politiker in öffentlichen Erklärungen betont haben, dass ihre Beziehung genauso eng ist wie zuvor“, schreibt Ynet.
Wie Axios am 19. Mai unter Berufung auf amerikanische Quellen berichtete, sagte US-Vizepräsident J.D. Vance seinen für diese Woche geplanten Besuch in Israel ab. Er habe diese Entscheidung in Anbetracht der Tatsache getroffen, dass sein Besuch wie eine Unterstützung der israelischen Aktionen im Gazastreifen aussehen könnte, während die USA auf einem Waffenstillstand bestehen. Dabei wurde der israelischen Seite offiziell mitgeteilt, dass die Absage des Besuchs auf „logistische“ Gründe zurückzuführen sei.
Der Standpunkt Moskaus
Maria Sacharowa, die Sprecherin des russischen Außenministeriums, bezeichnete die Entscheidung der israelischen Regierung, groß angelegte Operationen im Gazastreifen durchzuführen, als enttäuschend und mit neuen Opfern und Zerstörungen unter der Zivilbevölkerung verbunden. Sie fügte hinzu, dass Russland wiederholt „die Verlagerung der Konfliktlösung auf die politische und diplomatische Schiene (...) als (...) den einzigen Weg“ zur Normalisierung der Lage im Gazastreifen bezeichnet habe. Die Sprecherin des Außenministeriums betonte die Notwendigkeit, „einen vollständigen Waffenstillstand und die Wiederherstellung der humanitären Hilfe für die Bevölkerung des Gazastreifens sicherzustellen, was dazu beitragen wird, die Bedingungen für die Wiederaufnahme des politischen Prozesses für eine gerechte und dauerhafte Lösung des palästinensischen Problems auf einer bekannten internationalen Rechtsgrundlage zu schaffen“.
Netanjahus Entscheidung
Trotz alledem hat Netanjahu offenbar seine Wahl getroffen. Die Operation „Gideons Streitwagen“ wird nur ausgeweitet und darüber herrscht innerhalb der israelischen Regierungskoalition absoluter Konsens. Die Situation ist so, dass Israel offen seine Bereitschaft zu demonstrieren scheint, den europäischen Druck und die Einstellung seines wichtigsten strategischen Verbündeten Washington zu ignorieren. Netanjahu ist entschlossen, die Hamas zu zerschlagen.
Ob es Israel gelingen wird, den Gazastreifen in eine Art Westjordanland zu verwandeln, indem es die Hamas entmilitarisiert und vertreibt, dort Armeestützpunkte einrichtet und Gebiete für die verbleibende palästinensische Bevölkerung schafft, hängt weitgehend von dem Druck ab, der auf Israel in der internationalen Arena ausgeübt wird und der sich in letzter Zeit rapide verändert.
ENDE DER ÜBERSETZUNG
+++
Dieser Beitrag erschien zuerst am 23. Mai 2025 auf anti-spiegel.ru.
+++
Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
+++
Bild: Ein Plakat in Washington, DC fordert die Verhaftung des israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu wegen Kriegsverbrechen in Gaza.
Bildquelle: Phil Pasquini / shutterstock
+++
Ihnen gefällt unser Programm? Machen wir uns gemeinsam im Rahmen einer "digitalen finanziellen Selbstverteidigung" unabhängig vom Bankensystem und unterstützen Sie uns bitte mit Bitcoin: https://apolut.net/unterstuetzen#bitcoinzahlung
Informationen zu weiteren Unterstützungsmöglichkeiten finden Sie hier: https://apolut.net/unterstuetzen/
+++
Bitte empfehlen Sie uns weiter und teilen Sie gerne unsere Inhalte in den Sozialen Medien. Sie haben hiermit unser Einverständnis, unsere Beiträge in Ihren eigenen Kanälen auf Social-Media- und Video-Plattformen zu teilen bzw. hochzuladen und zu veröffentlichen.
+++
Abonnieren Sie jetzt den apolut-Newsletter: https://apolut.net/newsletter/
+++
Unterstützung für apolut kann auch als Kleidung getragen werden! Hier der Link zu unserem Fan-Shop: https://harlekinshop.com/pages/apolut