Verfolgt man die wenigen alternativen Medien, die über die Massenproteste in Serbien berichten, findet dort gerade eine typische Farbrevolution statt. Die soll - von außen gesteuert - dazu dienen, den Russland-freundlichen Präsidenten aus dem Amt zu putschen, ein Narrativ, das auch seitens der serbischen Regierung verbreitet wird.
Ein Meinungsbeitrag von Andrea Drescher.
Aber ist das wirklich wahr? Zumindest wird das von den Studenten, die seit vier Monaten in Serbien die verschiedenen Hochschulen blockieren, wohl mehrheitlich anderes gesehen. Am 24. März 2025 - 26 Jahre nach Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskrieges gegen die Bundesrepublik Jugoslawien- habe ich die Gelegenheit, mit einem Hochschul-Mitarbeiter der Universität Niš über die Vorgänge aus Sicht eines der an den Unruhen aktiv Beteiligten zu sprechen
Der Kontakt kam durch eine in Serbien lebende, systemkritische Deutsche zustande, die ich seit einigen Jahren aus der Friedensbewegung und Donbass-Hilfe kenne. Ich habe sie wiederholt kontaktiert, um von Menschen vor Ort zu erfahren, wie sie die Lage einschätzen.
Auch wenn es sich bei diesem Gespräch "nur" um die subjektive Wahrnehmung eines einzelnen Aktivisten handelt, bot es mir interessante Details. Es ist eine der vielen "Wahrheiten", die es gibt, eine Perspektive einer Wirklichkeit, über die wir uns von außen oft nur schwer ein eigenen Bild machen können.
Das Gespräch wurde per Zoom auf Deutsch geführt, mein Gesprächspartner möchte aber anonym bleiben, um sich für zukünftige Reisen in Europa keine Probleme mit Verfassungsschutzvertretern an Landesgrenzen einzuhandeln.
Kurz zusammengefasst:
Im Gespräch wurden mir die gleichen Ursachen für die Proteste genannt, die im TKP-Artikel "Wer will Serbien destabilisieren und warum?" von Philippe Scheller aufgeführt wurden. Der Ablauf der Proteste, den Uwe Froschauer, in seinem Artikel "Der sanfte Putsch-Versuch in Serbien" zusammenfasste, wurde von meinem Gesprächspartner ebenfalls bestätigt.
Aber Aussagen wie "Teils bezahlte Demonstranten wurden scharenweise mit Bussen nach Kiew gekarrt – wie es auch aktuell in Belgrad der Fall ist. In Belgrad nisteten sich bezahlte Demonstranten in Zeltlagern ein" widersprach mein Gesprächspartner deutlich, zumindest, was die Quelle der Zahlungen angeht, die er in Regierungskreisen verortet sieht.
Auch wenn ein Zeltlager - das Camp - dort in seinen Augen ebenfalls dazu dienen sollte, die Proteste zu radikalisieren: Die "schwarzen Männer", die dort anwesend waren, vertraten in seiner Wahrnehmung die Interessen der bestehenden Regierung.
Das Interview:
A. Drescher: Auch wenn Sie anonym bleiben wollen, können Sie sich bitte kurz neutral vorstellen?
Augenzeuge: Ich bin Anfang 30 und arbeite als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Niš. Bis zu Beginn der Studentenproteste war ich eher unpolitisch, aber seit vier Monaten bin ich fast jeden Tag auf der Straße, unterstütze die Studenten in ihren Anliegen und war bei allen großen Protesten bis zum 15. März in Belgrad und auch am 20.3. in Niš mit dabei.
A. Drescher: Wie kam es aus Ihrer Sicht zu den Protesten?
Augenzeuge: Der Auslöser war sicher der Einsturz des Bahnhofsvordachs in Novi Sad am 1. November 2024, bei dem 15 Menschen starben. In der Zwischenzeit sind es 16, da noch ein Junge leider den Verletzungen erlag. Das waren Anfangs nur kleine Proteste, aber dann hat sich die akademische Gemeinschaft eingemischt und sie wurden größer. Denn es war für uns offensichtlich, dass die Regierung die Schlamperei und Korruption vertuschen wollte, die diese Katastrophe des chinesischen Bauprojektes verursacht haben.
Es ging zunächst in der Kunstakademie von Belgrad los, aber nachdem die Regierung hart gegen die Studenten durchgriff, schlossen sich immer mehr Fakultäten und Universitäten an.
Es gibt fünf Universitätszentren in Serbien: Belgrad, Niš, Novi Sad, Novi Pazar und Kragujewatz. Bei uns in Niš, das im Süden Serbiens liegt, war sehr schnell der Wunsch da, dass die Verantwortlichen für die Katastrophe angeklagt werden. Wir waren aber auch solidarisch mit den Studenten in Belgrad, die dort Opfer von Regierungsgewalt wurden.
Wieso haben sich dann derart breite Proteste entwickelt?
Am Anfang hat die Regierung, also der Präsident, der ja letztlich alle Entscheidungen trifft, das nicht ernst genommen. Es werde sich schon verlaufen wie nach den Schießereien in Schulen in Belgrad (3. Mai 2023) und Mladenovac (4. Mai 2023) und dem Widerstand gegen das Vorhaben des Megakonzerns Rio Tinto, im Jadar‐Tal eine Lithiummine zu bohren. Da haben die Proteste wieder nachgelassen. Aber diesmal ist es anders.
Warum?
Damals wurden die Proteste von der Opposition organisiert. Da waren die Hauptfiguren bekannt und man konnte auf sie losgehen. Die staatsnahen Medien, die unter Regierungskontrolle stehen, haben die Verantwortlichen damals diskreditiert. Der Widerstand gegen die Lithium-Mine und die ganze Korruption in Regierung und Behörden sind die Vorgeschichte der Studentenunruhen - die akkumulierte Protest-Energie, die im Winter 2024 eskaliert ist. Mit Ausnahme der privaten Fakultäten und Fakultäten in Kosovo, die Vučić unterstützen, sind alle staatlich finanzierten Unis blockiert, kein Unterricht, keine Prüfungen. Nichts. In Novi Sad dürfen die Professoren die Hochschulen nicht einmal betreten, in Niš gibt es die Möglichkeit für Online-Unterricht, aber die meisten Professoren unterstützen den Protest.
Es gibt aber keine Köpfe, keine offizielle Leitung der Proteste - niemand, auf den sich die staatlichen Stellen und Medien wieder so einfach einschießen können. In den Medien sieht man immer andere Sprecher. Und niemand weiß, was sie planen, niemand kann sie kontrollieren oder steuern. Die Proteste haben sich von den Universitäten ausgehend entwickelt und dank der Fussmärsche Zulauf bei der Bevölkerung bekommen.
Wie das denn?
Wie gesagt, es gibt die fünf Universitätszentren, aber die Studenten stammen aus allen kleinen Städten und Dörfern Serbiens. Die haben sich gesammelt, um Sternmärsche zu machen. Das war wichtig, weil sie so den Menschen außerhalb der Universitätszentrum auf die wirkliche Situation aufmerksam gemacht haben. Im nationalen Fernsehen wurde ja kaum bzw. nicht korrekt berichtet, die halbwegs objektiven Kanäle Nova S und N1 haben keine Reichweite. D.h. die Menschen waren weitgehend uninformiert über die Proteste.
Es gab mehrere Fußmärsche?
Ja. Die Studenten sind zu Fuß von einer Stadt bis zur anderen gegangen. Es gab den Marsch von Belgrad nach Novi Sad, einen großen Protest in Kragujevac, das in Zentralserbien liegt und zu dem es von allen Seiten einen Sternmarsch gab, und den Protest am 1.3. in Niš, zu dem auch viele zu Fuß hin kamen.
All das hat dazu geführt, trotz der Lügen im Staatsfernsehen, ein Bewusstsein in der Bevölkerung zu schaffen, das dann in dem bisher größten Protest am 15.3. in Belgrad resultierte.
Von was für Lügen sprechen Sie?
In den Nachrichten wurde und wird immer wieder behauptet, dass die Proteste von außen finanziert und gesteuert werden. Das ist völlig falsch. Es mag Leute in Kroatien oder den USA geben, die auf unserer Seite sind, aber das ändern nichts an der Tatsache, dass es die Studenten waren und sind, die die großen Märsche organisiert und finanziert haben. Das konnten die Studenten auch überzeugend belegen, auch darum wurden die Proteste wieder größer.
Welches sind denn die zentralen Forderungen der Studenten?
Es gibt vier Forderungen:
1. Alle Informationen in Bezug auf das Unglück am Bahnhof müssen öffentlich verfügbar gemacht werden, inklusive aller Unterlagen zur Finanzierung
2. Alle Studenten, die bei den Protesten verhaftet wurden, müssen freigelassen werden.
3. Alle Personen, die gegenüber den Studenten gewalttätig wurden - die z.B. mit Auto in den Protest gefahren sind- müssen von ihren öffentlichen Ämtern enthoben und zur Verantwortung gezogen werden.
4. Das Hochschulbudget soll um 20% erhöht werden - eine Forderung, der sie meines Wissens bereits nachgekommen sind.
Wie viele waren denn am 15.3. auf der Straße?
Es ist schwer zu schätzen. Die Demo zog sich über den ganzen Tag, quer durch die Stadt und es waren nicht immer alle zeitgleich da. Es waren aber sicher mehr als bei der Demonstration gegen Milosevic, die dazu führte, dass er zurücktrat. Damals wurde das Rathaus eingenommen. Diesmal sind die Proteste völlig friedlich. Wir gehen von mindestens 300.000 Menschen aus, es kann aber auch eine halbe Million gewesen sein, die die Straßen blockiert haben. Wir wollen keinen Kampf, nur Blockade - auch wenn die Regierung bisher erfolglos alles versucht hat, um das Ganze eskalieren zu lassen.
Was unternimmt sie denn?
In der Nähe von der Hauptbühne wurde ein Zeltplatz, ein Camp organisiert, in dem angebliche Studenten waren, die "wieder studieren wollen", die "wieder an die Universität wollen". Aber nur einer aus der Gruppe war wirklich ein Student. Die Leute waren 30, 40 und sogar 50 Jahre alt und wurden nach und nach - mithilfe des Internets - als Mitglieder der Regierungspartei, Funktionäre aus Behörden und Gemeinden identifiziert.
Am 15.3. haben die dann das Camp verlassen und es blieben einige schwarz gekleidete Typen vor Ort, die unserer Meinung nach für Unruhen sorgen sollten. Dort sollte Gewalt iniitiert werden, unter dem Motto: "die Studenten haben die Lernwilligen angegriffen". Das haben unsere Ordner - und davon gab es sehr viele - aber verhindert, als die Situation während des Schallwaffen-Angriffs kritisch wurde.
Wie haben Sie den 15.3. erlebt?
Ich war den ganzen Tag in Belgrad. Es war aber keine gute Stimmung wie noch in Niš am 1.3. Wir hatten Angst angegriffen zu werden, wussten, dass es Provokateure gibt, wussten aber nicht, was sie planen. Die Regierung ist wütend, weil sie nicht wissen, wie sie uns stoppen können. Der Einsatz der Schallwaffe war ein schlimmer Höhepunkt, aber wir nehmen an, den Grund zu kennen.
Was für ein Grund ist das denn?
Alles hat in Niš begonnen, als eine Reporterin das nationalen Fernsehen in einem Bericht in etwa sagte: "Die Stille (der Schweigeminuten) war so laut, sie hallte wider". Daraufhin soll der Präsident zornig geworden sein und hat sie als "schwachsinnig" bezeichnet, eine Aussage, für die er sich nach Medienprotest dann entschuldigt hat. Es sollen aber auch die Worte: "man würde ja sehen, wie die Stille widerhallt" gefallen sein.
Am 15.3 war die "Schweigeminute" von 19. bis 19.15 geplant: ein Minute für jedes Opfer vom Einsturz in Novi Sad. Gegen 19.11 kam es dann zum Angriff mit der Schallkanone, was innerhalb der Straße zu einer gewissen Panik führte, die sich aber nicht ausgeweitet hat. Viele haben zur Ruhe aufgerufen, so dass es trotz der vielen teilweise heftigen Verletzten unter den ca. 3000 Betroffenen nicht eskaliert ist, als "die Stille widerhallte". Auch wenn damit keiner gerechnet hat, haben viele von uns sich an die Worte von Vučić erinnert.
Der Präsident sagte dann, dass man keine derartigen Waffen im Einsatz habe, was der Innenminister aber ad absurdum führte, indem er die Geräte und ihre Funktionsweise präsentierte. Vom Gesundheitsminister wurde verlautbart, dass alle, die medizinische Hilfe benötigt hätten, lügen würden. Ich war zwar selbst nicht in dieser Straße, aber Studenten aus meinem persönlichen Umfeld waren dort und haben den Wahnsinn bestätigt. Die Videos sind ja auch mehr als eindeutig. Seitens der Polizei wurden die Ordner der Studenten verantwortlich für die Aufteilung auf der Strasse gemacht. Dabei haben wir den Ordnern sehr viel zu verdanken. Sie haben das Schlimmste verhindert.
Was war denn los?
Als das passiert ist, haben die Ordner ihrer Westen ausgezogen, den Studentenprotest sofort beendet und alle gebeten nach Hause zu gehen. Wer es von den Studenten aber nicht direkt mitbekam, hat intuitiv genauso reagiert. Und das war die beste Entscheidung, denn der nächste Schritt war sicher, dass die Provokateure aus dem Camp agressiv geworden wären und Unruhen angezettelt hätten. Aber bevor die Männer in den schwarzen Jacken, ausgestattet mit Masken und Pyrotechnik ins Handeln kamen, war der Aufruf zum Demoende gelaufen.
Kennt man diese Typen?
Wir haben gehört,, dass sie gut bezahlt worden waren, um Unruhen zu verursachen - damit man später sagen kann, die Demonstranten sind gewalttätig. Wir haben das aber proaktiv verhindert. Den ganzen Tag über war der Park mit einer großen Anzahl von Ordnern, darunter Veteranen und Biker, besonders gesichert.
Ich glaube, dass diese "schwarzen Männer" von der Regierung finanziert und geschützt wurden. Einige von ihnen wurden identifziert. Es gab im Internet veröffentlichte Chats, die darauf hinweisen. Man will die friedlichen Demonstranten abhalten zu den Protesten zu gehen, das haben wir 2023 bereits erlebt, als nach einer Eskalation durch Hooligans, der Protest einbrach.
Sie haben den Verdacht, das Demo-Camp und die "schwarzen Männer" sind von der Regierung finanziert. Andere sagen wiederum, die Studentenproteste werden von außen finanziert. Wer finanziert die Studenten denn?
Es gibt meines Wissens keine anderen Geldquellen außer den Menschen von hier. Alle, die ich kenne, haben gespendet. Natürlich gibt es auch Serben, die im Ausland leben, die spenden. Aber Großspender gibt es keine. Am 1.3. haben die Studenten in Niš 400 Euro investiert und haben Sticker produziert, die während des Protests dann verkauft wurden und 500 Euro Gewinn brachten. Kleine Unternehmen wie Bäckereien spenden, Omas kochen und jeder trägt bei, was er kann.
Der Spin, die Proteste seien eine Farbenrevolution ist einfach falsch. Ich sehe doch, wie hier alles läuft, da ich ja selbst an der Universität tätig bin. Man möchte damit nur von der großen Unzufriedenheit in der Bevölkerung ablenken. Die Botschaft ist: "Wir sind eine gewählte Regierung, die mit Gewalt gestürzt werden soll" ist völlig falsch. Zum einen üben die Studenten keine Gewalt aus, zum anderen sind die Wahlen sind seit Jahren manipuliert.
Wie können Sie behaupten, dass die Wahlen manipuliert sind?
Ich habe es selbst erlebt, ich war im Jahr 2023 als Wahlbeobachter tätig. Eine Frau kam und fragte, ob jemand aus der Opposition vertreten sein. Ich sagte "Ja", obwohl ich kein Parteimitglied bin, sondern nur durch die Oppositionspartei als unabhängiger Beobachter angetreten war. Sie erzählte, dass sie eine Wahlkarte für ihre seit 10 Jahren verstorbene Mutter erhalten habe. Und sowas ist mehrfach vorgekommen. Anhänger des Präsidenten der Republica Srbska in Bosnien haben ihren Wohnort in Serbien angemeldet und durften wählen. Und man hört immer wieder, dass Menschen für ihre Stimme bezahlt werden. Die Wahlen in Serbien sind also sinnlos, weil es so viele Mechanismen für Wahlmanipulation gibt. Außerdem gibt es keine reale Opposition. Sie tun nur verfeindet.
Wie in Deutschland SPD und CDU?
Ja. Sie streiten öffentlich, arbeiten aber dann doch irgendwie zusammen. Sie sind alle korrupt, korrumpiert, alle halten zusammen.
Also fordern Sie, dass der Präsident zurücktritt?
Nein. Das ist keine der vier Forderungen. Auch wenn es dazu führen müsste, wenn unsere 1. Forderung erfüllt würde.
Warum denn das?
Alle Mitglieder der Regierung sind irgendwie in diese Bauprojekte mit China involviert. Würden sie alles veröffentlichen, käme das raus und sie müssten sich selbst verhaften. Die Baustelle am Bahnhof hat vier mal mehr gekostet als geplant. Das wurde auch mit Geldern der EU finanziert, von chinesischen Firmen durchgeführt. Die Chefin der Europäischen Staatsanwaltschaft, Laura Kövesi, so etwas wie die oberste Korruptionsjägerin Europas, ermittelt jetzt auch, wie das Geld verwendet wurde. Das wird interessant.
China hat sehr viel Einfluss in Serbien, gräbt nach Gold, ruiniert die Natur und sorgt für sehr hohe Zahlen an Krebserkrankungen im Umfeld ihrer Projekte.
Welche Organisationen beteiligen sich an den Blockaden? Sind es nur Studenten und Universitätsmitarbeiter?
Teilweise waren auch Schüler und Lehrer von Grund- und Mittelschulen mit dabei. Die haben aber inzwischen größtenteils aufgehört zu streiken, weil seitens der Schulleitungen, die oft von Parteimitgliedern gestellt werden, Druck ausgeübt und keine Gehälter gezahlt wurden. Auch Anwälte waren 40 Tage im Streik. Aber sonst hat sich von den staatlich finanzierten Unternehmen bis jetzt keine angeschlossen.
Die eintägigen Generalstreiks am 24.1. und 9.3. waren unterschiedlich erfolgreich. Der erste war sehr erfolgreich, der 2. nicht mehr, weil er zu kurzfristig aufgerufen wurde. Der Druck eines wirklichen Generalstreiks fehlt bis jetzt. Trotzdem werden die Proteste seitens der Studenten bis jetzt nicht schwächer. Auch wenn sie mit allen Mechanismen versuchen, die Studenten zu brechen. Den Professoren werden die Gehälter auf 15% gekürzt, damit diese Druck auf die Studenten ausüben aufzugeben. Wer hält es schon lange durch, ohne Geld zu leben? Die wenigsten schaffen 1-2 Monate, manche vielleicht drei oder vier. Aber dann ist Schluss. Trotzdem gibt es immer wieder Aktionen.
Welche Aktionen denn?
Vor 4 Tagen - also am 20.3. - gab es in Niš eine Parteiveranstaltung mitten in der Stadt. Das ganze Stadtzentrum war voll mit Polizei. Viele Menschen haben die teilnehmenden Funktionäre mit Eiern beworfen. Es gab so viele Eier - ich weiß gar nicht, wo die alle hergekommen sind. Drei Studenten wurden verhaften, da sie öffentlichen Aufruhr in der Stadt verursacht hätten. Dabei haben auch ganz viele normale Menschen die Eier geworfen. Die Botschaft war aber klar: Die Studenten sind unser Ziel. Da Eierwerfen aber keine schweres Verbrechen darstellt, sind alle bereits wieder freigelassen.
Wie soll es denn weitergehen?
Wir brauchen auf jeden Fall funktionsfähige Institutionen und Menschen in Strafverfolgungsbehörden inkl. Staatsanwälte, die nicht von der Regierung abhängig sind.
Serbien hat ja aktuell keine Regierung. Aber es ist problematisch, wir haben keine richtige Oppostion, keine Partei der Studenten/Professoren, keine Macht im Land, die das übernehmen kann. Die Studenten haben sich von den offiziellen Oppositonsparteien abgegrenzt - wir sind keine politische Strömung. Es gibt keine klare Richtung unter Studenten, ein Teil ist rechts, einige ist links.
Es gibt die Idee für eine Übergangsregierung aus Mitgliedern dieser Regierung und einigen Politiker der Opposition. Aber damit gewinnt man nichts.
Ich persönlich hoffe auf eine Experten-Regierung, bei der auch einige der Professoren einbezogen werden können. Unter dieser Regierung könnten das nationale Fernsehen frei von Regierungseinfluss gestellt werden, faire Wahlen organisiert, erste Schritte gegen Korruption unternommen und die Menschen umfassend informiert werden.
Aber das will der Präsident ja nicht. Er will weitermachen und hofft, dass die Proteste irgendwann enden.
Was werden die Studenten machen?
Das weiß ich nicht. Es ist schwer zu sagen, wohin alles führt. Einige Veränderungen sind schon eingetreten. Viele Menschen haben keine Angst mehr und gehen auf die Straße, viele sind aus der Partei ausgetreten, aber es ist unklar, wie sich die Situation entwickeln kann
Meine Fakultät und auch ich wollen weitermachen, auch wenn ich - wie alle - nach vier Monaten auf der Strasse müde sind. Und die Professoren werden - wie gesagt - monetär unter Druck gesetzt. Brechen sie die Professoren, besteht die Gefahr, dass die Proteste vorbei sind. Es gab eine Initiative der IT-Experten aus Serbien, die Geld gesammelt haben. Aber das war bei weitem nicht genug, um die Blockaden auf Dauer aufrecht zu halten. Viele sind ja auch von Klagen bedroht.
Ich will nicht negativ sein, nicht negativ denken - wir werden in ein paar Wochen sehen, wie es weitergegangen ist.
Im Apolut-Artikel von Uwe Froschauer kann man lesen, wie sich Vučić zu den Protesten stellt:
In einem Interview mit Donald Trump Junior, dem Sohn des US-Präsidenten, am 12. März 2025 in Belgrad, erklärte Vučić, dass NGOs die Proteste in Serbien organisieren würden, und aus den USA finanziert worden wären, insbesondere durch USAID und die National Endowment for Democracy. Zu Donald Trump Junior sagte er:
„Stellen Sie sich vor, all diese NGOs, die an der Organisation dieser Ereignisse beteiligt waren, wurden aus den Vereinigten Staaten bezahlt – von USAID, der National Endowment for Democracy und weiteren Organisationen. Und ich behaupte nicht, dass sie dieses Geld nur dafür genutzt haben. Sie haben es für alles genutzt – aber auch dafür.“ (...) „Diese Organisationen unterstützen stets eine anarcho-liberale, vermeintlich grüne Agenda und richten sich gegen souveräne Führer. Sie mischen sich aktiv in Wahlen ein und finanzieren regierungskritische Medien.“
Überdies betonte Vučić:
„Wir verfolgen eine unabhängige Außenpolitik und lassen uns nicht fremdbestimmen. Doch manche erwarten, dass wir uns der EU zu 100 Prozent anpassen. Meine Frage bleibt: Wozu brauchen wir dann eine eigene Regierung?“
Er bezeichnete die aktuellen Proteste als Versuch einer „importierten Farbrevolution“ und verwies auf Parallelen zu ähnlichen Entwicklungen weltweit. „Es ist nicht einfach, aber wir sind auf dem richtigen Weg, uns dagegen zu behaupten“, so Vučić.
Was sagen Sie dazu?
Ich sehe keine Mächte im Ausland, die sich seinen Sturz wünschen. Das sind nur wir, die Menschen, die nicht mehr in einem völlig korrupten Land leben wollen. Er bedient ja die Interessen aller - der EU, der Chinesen, der USA und der Russen.
Der Lithiumabbau, für den mehrere 1000 Menschen ihre Häuser verlieren werden, ist enorm wichtig für die deutsche Autoindustrie. Das wird in der EU als Projekt 1. Priorität geführt und wurde von Vučić bestätigt, obwohl es das Wasser und die Landwirtschaft in der Region Jadar, der fruchtbarsten Region Serbiens, massivst bedroht.
Den Chinesen gehört bereits ein Teil von Ostserbien und dort ist die Naturzerstörung schon weit vorangeschritten.
Die USA unterstützen ihn auch, nachdem er deren Wünsche erfüllt und u.a. dafür gesorgt hat, dass es im Kosovo keinen Dinar mehr gibt, viele Serben sind inzwischen von dort weggegangen.
Richtig ist natürlich: Er kooperiert sehr gut mit Präsident Putin. Aber die prorussische Haltung ist sehr stark in unserem Land, wir sind mit den Russen befreundet - manche Serben mögen Russland mehr als Serbien. Das ist der einzige Aspekt, wo er sich klar gegen die EU und USA positioniert hat.
Wer soll ihn also stürzen wollen?
Wie wir uns - zumindest hier in Niš - finanzieren, habe ich ja bereits gesagt. NGOs, Farbenrevolution, Außensteuerung - alles das gibt es aus meiner Erfahrung hier nicht. Ich kann natürlich nicht für alle Protestierenden sprechen, ich kann nur sagen, wie die Studenten in Niš agieren. Das waren direktdemokratische Arbeitstreffen im Plenum, bei denen Punkte diskutiert und abgestimmt wurden. Ich war dabei.
Dass es Politiker im Ausland gibt, die den Sturz von Vučić möchten, mag sein. Dass sich unter den mehreren 100.000den Demonstranten auch vom Ausland bezahlte Provokateure befinden, kann ich nicht ausschließen.
Aber noch einmal: Wir sind eine authentische Studentenbewegung, die sich auf die Füsse gestellt hat, weil in unserem Land nichts funktioniert.
Ich hoffe auch sehr, dass die Bewegung nicht von irgendwelchen Interessenten von außen gekapert wird, das wäre wirklich tragisch. Dafür stehen wir nicht seit Dezember auf der Straße.
Ich wünschen Ihnen auf jeden Fall viel Glück und viel Erfolg!
Perspektiven der Wirklichkeit
Ich habe das Interview meiner Friedensfreundin in Serbien geschickt und sie um ihre Einschätzung gebeten. Ihr Feedback war eindeutig.
Zu den Fussmärschen schrieb sie: "Es gab sehr bewegende sogar: Sportler, die mit viel Freude empfangen wurden. Und diese Proteste in anderen Städten haben wir auch schon miterlebt... ruhig, friedlich, junge und ältere Menschen gemischt, mit Trillerpfeifen. Ich erlebte, wie ein Mann etwa 60, beim Chinesen eine Trillerpfeife kaufte, die er dann fröhlich ausprobierte und direkt einen Freund anrief, um ihm den Erwerb seines Schatzes mitzuteilen. Das sieht man auch in dem Video der BBC, das ich geteilt habe."
"Was die Chinesen betrifft, die haben in jeder Gemeinde ihre Plastikläden... Ramsch aus billigem Plastik...es wurde auch mal gemunkelt, dass die Land aufkaufen. Habe es aber nie bestätigt bekommen. Bauen aber tatsächlich hier sehr moderne Autobahnen zusammen mit STRABAG, wo ich dann staune. In Bor, Ostbosnien, ist wirklich ein gigantischer chinesischer Tagebau.
Für sie klingt das alles nicht nach Farbrevolution. "Der Hinweis, dass die Studenten aus den Dörfern kommen, wodurch es tatsächlich schwierig ist, auf diese Gruppen Einfluss zu nehmen, halte ich für einen entscheidenden Fakt, um ein Farbrevolution ausschließen zu können... Das würden die Studenten in den Familien ansprechen, weil sie sich über Finanzspritzen freuen würden und dann würde das die Runde machen. Auch schwingt sehr viel Stolz und Freude bei den Teilnehmern mit."
Ihre Resümee: "Ne, für mich schließe ich jetzt äußere Einflüsse aus."
Mein Resümee: Ich hoffe, dass die Kräfte, die typischerweise hinter Farbenrevolutionen stehen, den Menschen die Chance lassen, ihr Land selbst zu gestalten.
+++
Andrea Drescher ist Informatikerin und Journalistin und war lange Zeit als Beraterin für zahlreiche Firmen aktiv. Sie ist Friedensaktivistin und organisierte in der Vergangenheit mehrere Hilfskonvois, sowohl in die Ukraine als auch nach Gaza.
+++
Wir danken der Autorin für das Recht zur Veröffentlichung dieses Artikels.
+++
Bildquelle: Shutterstock.com / Mirko Kuzmanovic
+++
Ihnen gefällt unser Programm? Machen wir uns gemeinsam im Rahmen einer "digitalen finanziellen Selbstverteidigung" unabhängig vom Bankensystem und unterstützen Sie uns bitte mit Bitcoin: https://apolut.net/unterstuetzen#bitcoinzahlung
Informationen zu weiteren Unterstützungsmöglichkeiten finden Sie hier: https://apolut.net/unterstuetzen/
+++
Bitte empfehlen Sie uns weiter und teilen Sie gerne unsere Inhalte in den Sozialen Medien. Sie haben hiermit unser Einverständnis, unsere Beiträge in Ihren eigenen Kanälen auf Social-Media- und Video-Plattformen zu teilen bzw. hochzuladen und zu veröffentlichen.
+++
Abonnieren Sie jetzt den apolut-Newsletter: https://apolut.net/newsletter/
+++
Unterstützung für apolut kann auch als Kleidung getragen werden! Hier der Link zu unserem Fan-Shop: https://harlekinshop.com/pages/apolut