Standpunkte

Die Steigerung von tot | Von Dirk C. Fleck

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Grund für das Aussterben der Spezies Mensch werden nicht so sehr die anstehenden Herausforderungen sein als unsere Unfähigkeit, ihnen entschlossen zu begegnen.

In unserem Krieg gegen die Natur sind wir scheinbar auf der Siegerstraße. Denn unsere überaus erfolgreiche Spezies hat — zusammen mit einem Millionenheer von Nutztieren — der Erdoberfläche ihren Stempel aufgedrückt. Aber was für ein Sieg ist das? Wird er von Dauer sein, und um welchen Preis erringen wir ihn? Zweifellos wird das durch uns verursachte Artensterben über kurz oder lang auch unsere eigene Spezies einholen. Viele sehen das — zu wenige tun etwas dagegen. Eine Art Willenslähmung scheint die meisten erfasst zu haben. So als wäre für uns zwar die kollektive Auslöschung eine Option, nicht aber ein Aufstand gegen ein paar Wahnsinnige an der Wall Street und in den Chefetagen großer Konzerne. Der Autor, ein verdienter Aktivist und Verfasser ökologischer Bücher, hat nach frustrierenden Erfahrungen beinahe aufgeben. Vielleicht kann er aber den Funken des Überlebenswillens an uns weitergeben. Ein Standpunkt von Dirk C. Fleck.Anhalten!!! Haltet die Welt an! Stopp! Danke — jetzt ist endlich Ruhe im Karton. Herrlich. Höchste Zeit, sich bei unseren Kindern und Kindeskindern für das schreckliche Erbe zu entschuldigen, in dem sie sich einzurichten haben. Warum haben wir es zugelassen, dass ihnen nichts als soziales Chaos und verbrannte Erde übrig bleibt? Fakt ist, dass die Menschen seit Generationen dabei sind, die Schöpfung zu schreddern. Allmählich sollten wir uns folgende Frage stellen: Was war, was ist und was wird bleiben? Wer kennt die Steigerung von tot? Niemand? Ich sage es euch: Ausgestorben! Ausgestorben im Anthropozän. Im vom Menschen gemachten Zeitalter, für das es in den letzten Millionen Jahren keine Entsprechung gibt. In dem das Artensterben zum Alltag gehört. In dem sogar das Licht verschmutzt ist. In dem die Verdrängung der Natur unser oberstes Ziel zu sein scheint. Also, was haben wir noch zur Verfügung? Setzten wir einen Preis für die Dienstleistungen der Natur am Menschen an, so wäre er heute trotz aller bisher gezeigten Zerstörungswut nach wie vor beträchtlich. Noch immer liefert die Natur uns jährlich einen Nutzen von 33 Billionen Dollar. In Form von Früchten, in Form von Wasser und in Form einer „CO2“-Wäsche, die von den Pflanzen vorgenommen wird. Nach Schätzungen der Wissenschaftler Paul Hawken und Frederic Vester betrug der natürliche Kapitalstock einst 400 bis 500 Billionen Dollar. Inzwischen ist die Hälfte davon aufgebraucht. Aber noch immer stehen jedem Menschen auf der Welt pro Jahr 50.000 Dollar vom natürlichen Kapital zur Verfügung. Wenn wir nicht wollen, dass die Meere und Wälder ihre globalen Dienstleistungen, die bis jetzt uns allen zugute kamen, demnächst für immer einstellen, müssen wir endlich lernen, dass es allemal besser ist, mit der Natur als gegen sie zu leben. Ich will an dieser Stelle Abraham Lincoln zitieren, den 16. Präsidenten der Vereinigten Staaten. Er regierte von 1861 bis 1865, bis er am Karfreitag desselben Jahres im Ford`s Theatre in Washington, D.C. einem Attentat zum Opfer fiel.

„Die Macht des Geldes,“ so Lincoln, „ist despotischer als eine Monarchie, unverschämter als eine Autokratie und egoistischer als eine Bürokratie. Sie verleumdet all jene als Volksfeinde, die ihre Methode infrage stellen und Licht auf ihre Verbrechen werfen. Eine Zeit der Korruption an höchsten Stellen wird folgen, und die Geldmacht des Landes wird danach streben, ihre Herrschaft zu verlängern, bis der Reichtum in den Händen von wenigen angehäuft und die Republik vernichtet ist.“

Ein weiser Mann. Lincoln wusste sehr früh, dass die Wall Street die Main Street übernehmen würde. Aber nicht nur Republiken werden vernichtet, der ganze Planet steht zur Disposition.

„Die Natur ist ein unendlich geteilter Gott,“

hat Friedrich Schiller gesagt. Wer diese Worte verinnerlicht und infolgedessen Respekt und Ehrfurcht vor dem Mysterium der Schöpfung entwickelt, kann angesichts unserer Barbarei die Wut und Verzweiflung, die in ihm brennt, nur schwer zügeln. Ich jedenfalls kann es nicht mehr. Dabei war ich vor nicht allzu langer Zeit noch voller Hoffnung, ja geradezu euphorisch, was die Lösungsmöglichkeiten betraf, die uns aus der Krise hätte führen können, Inzwischen muss ich darauf achten, dass ich den Leuten nicht jegliche Hoffnung nehme. Aber welche Hoffnung ist gemeint? Die Hoffnung, dass es immer so weitergehen möge wie bisher? Keine Angst, das wird es wohl. Seit hundertfünfzig Jahren, seit Beginn der Industrialisierung, stellen sich couragierte Männer und Frauen dem Wahnsinn entgegen. Ich nenne diese Menschen Mahnwesen. Sie wussten und wissen, dass der von den Menschen eingeleitete Ökozid irgendwann an den Nerv allen Lebens geht. Ihnen blieb und bleibt keine andere Wahl, als radikal Position zu beziehen, was in der manipulierten und narkotisierten Gesellschaft, die wir heute vorfinden, mit hohen Risiken für Leib und Leben verbunden ist. Aber wer einmal die ungeheuerliche Tatsache erkannt hat, dass unser von Gier gesteuertes Wirtschaftssystem die Schraube bis zum Anschlag drehen wird, für den gibt es kein Zurück. Wie ist es möglich, dass alle zerstörerischen Handlungen, die wir erleben müssen, von den Machteliten und deren Medien als kreative Taten gefeiert werden? Die Bombardierung anderer Länder, der Bau von Staudämmen, das Versprühen von Insektiziden, die Erschaffung genmanipulierter Organismen — dies alles wird als notwendig, fortschrittlich und kreativ empfunden. Wir begreifen Gesundheit als Leistung der pharmazeutischen Industrie, wir verstehen soziale Sicherheit als etwas, was Polizei und Justiz herstellen. So ist es auf fast allen Gebieten: Wir glauben ausschließlich an ordnungspolitische oder technische Lösungen — wir vertrauen uns selbst nicht mehr. Und damit begeben wir uns widerstandslos in die Hände derer, die den Untergang kurzfristig so gewinnbringend betreiben. Das Erstaunliche ist, dass es nicht die Herausforderungen sind, die uns ohnmächtig werden lassen, sondern das verbreitete Gefühl, nicht an der praktischen Umsetzung von Lösungsansätzen teilnehmen zu können. Das Problem ist nicht die Krise! Das wirkliche Problem ist das Gefühl der Machtlosigkeit, dieser Eindruck, mit gebundenen Händen dazustehen und nichts anderes tun zu können. Der US-amerikanische Umweltaktivist und Autor Derrick Jensen („Endgame“) bringt unsere Tragödie auf den Punkt:

„Es wäre ein Irrtum zu glauben, dass unsere Zivilisation nur Wälder kahl schlägt. Sie tut dasselbe mit unserer Psyche. Es wäre verfehlt zu glauben, dass sie nur Flüsse mit Dämmen verbaut. Sie errichtet auch in uns Dämme. Es wäre verfehlt, dass sie nur in den Meeren tote Zonen erzeugt. Sie schafft tote Zonen in unseren Herzen und in unseren Köpfen. Es wäre verfehlt zu glauben, sie würde nur Habitate zerstückeln. Auch wir werden zerstückelt, zertrennt, zerfetzt, zerrissen und zermalmt.“

Ich arbeite gerade an einem Text über die Langzeitfolgen und das Kurzzeitgedächtnis. Ich werfe einen Blick zurück auf die kurzen Zeiten des Friedens, auf humanistische Ideale und auf alles, wozu Menschen sich hätten entwickeln können. Vielleicht liest sich der Text wie ein vorgezogenes Tribunal, das jedoch niemanden schuldig spricht, da wir doch alle in unsere kleinen individuellen Geschichten verstrickt sind und gar nicht über die geistigen und seelischen Voraussetzungen verfügen, um die unfassbare Endzeit der Hochzivilisation in unser bescheidenes Weltbild einordnen zu können. Im Unterbewusstsein macht unsere Psyche dicht. Auch eine Art der Rettung. Letztlich werde ich den Mitläufern, die sich in grandioser Unkenntnis auf dem Marsch in die Katastrophe befinden, Absolution erteilen. Ihr seht schon, zu mehr als einem ohnmächtigen Statement werde ich wohl nicht in der Lage sein.

Anmerkungen

Dirk C. Fleck, Jahrgang 1943, studierte an der Deutschen Journalistenschule in München, volontierte beim Spandauer Volksblatt in Berlin, kreierte dort mit dem „Magazin“ die erste Wochenendbeilage einer deutschen Tageszeitung, war Lokalchef der Hamburger Morgenpost, sowie Redakteur bei TempoMerian und Die Woche. Er arbeitete als regelmäßiger Kolumnist für Die Welt und die Berliner Morgenpost und war für den Stern, den Spiegel und Geo als Autor tätig. Seit dem Jahr 2000 widmet sich Fleck ausschließlich seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Für seine Romane „GO! — Die Ökodiktatur “ und „Das Tahiti Projekt“ erhielt er den renommierten Deutschen Science Fiction Preis. Flecks Hauptthema ist der drohende ökologische Kollaps und die Neuordnung der globalen Zivilgesellschaft. Eine Zeit lang schrieb er darüber hinaus Artikel für den Rubikon.

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags. +++ Dieser Beitrag erschien zuerst am 22. März 2024 bei manova.news +++ Bildquelle: Triff / shutterstock


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