Gedanken und Erfahrungen über ein Systemversagen des Parlamentarismus und wie eine funktionierende, empirisch belegte Alternative aussehen kann.
Ein Meinungsbeitrag von Cassiel Randomson.
„Wir können uns nicht vorstellen, dass es auch nur irgendeine Frage egal auf welcher Ebene geben könnte, bei der wir nicht das letzte Wort haben.“
Eröffnungsstatement der schweizerischen Moderatorin, Dr. Katja Gentinetta auf der Demokratiekonferenz 2013 in Stuttgart. Darauf der deutsche Moderator:
„Hm, ja, das ist bei uns anders“
In diesen Tagen des politischen Chaos in Berlin habe ich immer wieder ein plastisches Bild vor meinem inneren Auge: eine Massenschlägerei der aktuellen Politmarionetten des Kabarettprogramms der Augsburger Puppenkiste. Ganz großes Kasperletheater für Erwachsene! In einem Artikel der Berliner Zeitung werden mangels absehbarer stabiler Mehrheiten im Bundestag schon italienische Verhältnisse in Deutschland vorausgesagt. Aber niemand macht sich Gedanken ob es nicht ein systemisches Problem des Parlamentarismus sein könnte, der schon in der Weimarer Republik versagt hat, und noch weniger stellen sich ernsthaft und kompetent die Frage, wie es besser gehen könnte. Da machen Mainstream- und alternative Medien und auch die Berliner Zeitung keine Ausnahme. Alle starren sie auf das Treiben der Berliner Puppenkiste wie das Kaninchen auf die Schlange.
Dabei würde ein Blick über den nationalen Gartenzaun in die Schweiz genügen, um zu sehen, wie es besser geht und zwar mit echter (direkter) Demokratie, die dort schon seit über 150 Jahren erfolgreich praktiziert wird. Die (direkte) Demokratie ist kein Allheilmittel, die Schweiz ist bei Gott keine Insel der Glückseligen und die Schweizer sind auch keine demokratischen Übermenschen. Aber was politische Stabilität betrifft, hat die (direkte) Demokratie in der Schweiz maßgeblichen Anteil. Deutschland kennt direktdemokratische Verfahren nur auf kommunaler und auf Landesebene, allerdings durch prohibitive Hürden ohne realpolitische Relevanz; auf Bundesebene gibt es faktisch keine Volksgesetzgebung, obwohl im Grundgesetz prinzipiell – „Wahlen und Abstimmungen“ – vorgesehen sind. In Deutschland hat der Parlamentarismus das Machtmonopol.
Für mehr (direkte) Demokratie in Deutschland gibt es da nur ein paar Probleme: zum einen: niemand – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – befasst sich – wenn überhaupt – ernsthaft und kompetent mit der Systemfrage und wie echte (direkte) Demokratie funktioniert oder eben nicht. Aber so wie wir ein Volk von 60 Millionen Bundestrainern im Fußball sind, hält sich jeder, den man danach fragt, als Wahlberechtigter für einen Experten mit einer qualifizierten Meinung dazu. Nur ob jemand wirklich qualifiziert ist, dafür gibt es eine einfache Testfrage: was bedeutet „Doppeltes Ja mit Stichfrage“? Wenn Sie dies nicht spontan, ohne Google zu bemühen, beantworten können: sorry, aber von (direkter) Demokratie haben Sie keine Ahnung! Aber sie sind da in „bester“ Gesellschaft: selbst ein Demoskop wie Dr. Thomas Petersen vom Allensbach Institut weiß es nicht besser oder verbreitet wissentlich und nachweislich die Unwahrheit über den Münchner Tunnel-Bürgerentscheid.
Das nächste Problem nach dem Totschweigen: es gibt keine realpolitisch relevante Partei, die sich glaubwürdig für echte (direkte) Demokratie einsetzt. CDU/CSU, SPD und FDP sind schon traditionell dagegen. Die Grünen hatten sich die (direkte) Demokratie in ihren Gründungsjahren groß auf ihre Fahnen geschrieben und 2002 brachte Gerald Häfner als letzter Mohikaner den bundesweiten Volksentscheid im Bundestag zur Abstimmung, der zwar eine Mehrheit bekam, aber eben keine 2/3-Mehrheit. Dank der Sperrminorität der Union. Mit dem garantierten Scheitern konnten Grüne, SPD und Teile der FDP damals bedenken- und gefahrlos für ihren Machterhalt dafür stimmen. Danach war die (direkte) Demokratie bei den Grünen selbst als Opposition nur noch ein Parteiprogrammzombi der 2020 dann endgültig beerdigt wurde. Auch bei den parlamentarischen „Schmuddelkindern“, der Linken und der AfD und jetzt auch dem BSW, spielen Volksgesetzgebung mit Volksbegehren und Volksentscheid keine oder bestenfalls eine Placeborolle. Die AfD gibt zwar im Wahlkampf auf ihren Plakaten immer vollmundig vor, dafür zu sein, aber ich kenne keinen einzigen Politiker dieser Partei, der in der Vergangenheit sich ernsthaft in der direktdemokratischen Bewegung dafür eingesetzt hat oder aktuell wirklich dafür brennt. Seit Gerald Häfner aus dem Bundestag ausschied und von seiner Partei kaltgestellt wurde, hat es nicht einen einzigen Bundestagsabgeordneten gegeben, dem die (direkte) Demokratie und der bundesweite Volksentscheid wirklich wichtig war, schon gar nicht in Regierungsverantwortung oder nur als populistisches Oppositionsschattenboxen. Und auch bei der nächsten Bundestagswahl wird es für die Bürger wieder nur zig Sorten Beton statt auch nur einem einzigen Brot in der Parteienbäckerei zur Auswahl geben. In einer normalen Bäckerei unvorstellbar, in der deutschen Politik die einzige Realität. Ich wünsche „guten Appetit“!
Das dritte Problem sind die Verfassungsgerichte: in den 1990ern und Anfang 2000ern gab es aus der direktdemokratischen Bewegung heraus Bestrebungen zu mehr direkter bzw. sachunmittelbarer Demokratie durch Volksbegehren und Volksentscheid selbst, zumindest auf Länderebene wo es das Instrument zumindest prinzipiell gibt. Das hatte am Anfang mit dem Volksbegehren „Mehr Demokratie in Bayern“ und der Einführung des Bürgerentscheids in Bayern 1995 auch noch Erfolg. Doch dann kam die Reaktion der nach Parteienproporz ausgekungelten Landesverfassungsgerichte, die sich mit z.T. rechtsbeugenden Urteilen zum Meuchelmörder der (direkten) Demokratie machten. Der unrühmliche Höhepunkt war 2001 das Verbot des mit 300.000 beglaubigten Unterschriften unterstützten Volksbegehrens „Mehr Demokratie in Thüringen“ durch eine Handvoll Richter des Thüringer Verfassungsgerichtshofes (ThürVerfGH).
Die Begründung, die sogar als gedrucktes Buch erschien, war die sogen. „Herzstücktheorie“, wonach Deutschland eine „repräsentative Demokratie“ sei und daher das Parlament der Souverän dieser Demokratie, der nicht durch das (Fuß-)Volk in seinen Entscheidungen überstimmt werden dürfe. Die nach dem Bankenskandal vollmundig versprochene „Reform“ der Volksgesetzgebung 2005 im Land Berlin wurde hinter vorgehaltener Hand von Seiten Vertreter der etablierten Parteien eindeutig als zur Verhinderung der Mitbestimmung durch die Bürger bezeichnet. Das sollte jeder wissen, der glaubt, er als Bürger sei als Teil des Volkes in dieser „Demokratie“ der Souverän, weil er alle vier Jahre wählen darf wer ihm die nächsten vier Jahre das Fell über die Ohren ziehen darf.
Seitdem ist fast ein Viertel Jahrhundert ins Land gegangen und das Ergebnis sehen wir u.a. jetzt. Wie schon in Weimar zeigt sich das eklatante Versagen des Parlamentarismus. Es ging immer nur um parteipolitische Taktiererei, um die Fleischtöpfe der Macht, korrupte Klientelpolitik und nicht zuletzt um fürstliche, selbstgerecht immer weiter erhöhte Diäten und Pensionsansprüche – da waren sich alle Parteien immer einig. Fragen Sie mal Ihren Chef, ob sie nicht selbst die Höhe Ihres Gehalts bestimmen dürfen!
Aber warum soll echte (direkte) Demokratie so viel besser sein? Was ist mit anderen Vorschlägen wie liquid democracy, aleatorischer Demokratie, Bürgerräten, Kummulieren und Panaschieren bei Wahlen? Oder es kann doch jeder eine eigene Partei gründen? Das klingt alles schön und gut. Das Problem ist nur: nichts davon hat den Praxistest bestanden. Entweder sind es reine Theorien, die nur auf dem Papier existieren wie liquid democracy oder aleatorische Demokratie. Oder sie haben realpolitisch nichts verändert wie Kummulieren und Panaschieren, Bürgerräte oder eben noch eine weitere Spitterpartei, der wie jeder anderen Partei vom System nur die Wahl zwischen korrupt oder unbedeutend oder beidem gelassen wird. Im Endeffekt sind es alles reine Papiertiger. Einzig die (direkte) Demokratie hat sich real bewährt. Nicht nur in der Schweiz, sondern auch in vielen US-Bundesstaaten, die diese in der progressive era vor ca. 100 Jahren nach Schweizer Vorbild einführten, was außer in diesen Bundesstaaten außerhalb auch praktisch unbekannt ist, nicht zuletzt Dank medialer Nicht-Beachtung.
Aber es gibt viele andere, immer wieder vorgebrachte Einwände gegen die (direkte) Demokratie. Diese haben nur alle das Problem, dass sie sich bei genauer Betrachtung als haltlose Diffamierung der (direkten) Demokratie herausstellen und empirisch in keinster Weise belegt sind. Meist sind es nur Befürchtungen und Angstmache, was dann alles passieren könnte, einzelne missliebige Volksentscheide, wo das Volk nicht so entschieden hat, wie es die schlechten Verlierer für richtig gehalten haben, pseudodemokratische Beispiele, Vermischung mit Wahlen oder ganz dreist Lügen wie die „Weimar Lüge“ von „Papa“ Heuss, wonach es in der Weimarer Republik „ganz schlechte Erfahrungen“ mit der (direkten) Demokratie gegeben habe. Manche dieser vermeintlichen „Gegenargumente“ haben schon so viel Staub, dass es selbst erklärten Gegnern der (direkten) Demokratie peinlich ist, sie anzuführen. Aber wer es nicht glaubt dem empfehle ich meine 100 größten Irrtümer über die direkte Demokratie und sich generell schlau zu machen, wie echte (direkte) Demokratie funktioniert oder eben nicht funktioniert und welche konkreten Erfahrungen es mit Bürgerbegehren/-entscheiden, Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden und ganz allgemeine mit Volksgesetzgebung gibt. Ja, das ist keine billige Angelegenheit, aber wie stellte schon Alexander v. Humboldt fest:
Nichts ist gefährlicher als die Weltanschauung derer, die sich die Welt nicht angeschaut haben.
Die aktuelle Handlungsunfähigkeit des Parlamentes wäre in der Schweiz undenkbar. Abgesehen davon, dass dort praktisch alle Parteien mehr oder weniger unproblematisch gemeinsam die Regierung stellen (Konkordanz), hat das Volk bei jedem Gesetz ein Veto-Recht in Form des fakultativen Referendums. Und das Schweizer Volk hat auch das Initiativrecht in Form der Volksinitiative. Die Schweizer entscheiden vier(!) mal im Jahr auf allen Ebenen (Bund, Kanton, Gemeinde) direkt und sachunmittelbar über Vorlagen. Das Schweizer Volk ist immer handlungsfähig, denn es gibt unabhängig von Parteientaktiererei immer für oder gegen eine Vorlage eine demokratische Mehrheit. Auch ganz wichtig in der Schweiz: es entscheidet immer die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen, selbst bei Verfassungsänderungen. Es gibt keine undemokratischen Abstimmungsklauseln, wie in Deutschland in den Bundesländern üblich. Die Zulassungshürden sind bürgerfreundlich niedrig, wenn auch nicht leicht zu erreichen, aber nicht prohibitiv wie in Deutschland. Es gibt keine Themenausschlüsse und auch keinen Vorbehalt eines Verfassungsgerichtes. Aber all das können die Parteipolitiker und Parlamentarier in Deutschland ja nicht wollen, weil dann müssten sie ja Politik im Mehrheitsinteresse des Volkes machen. Der viel zu früh verstorbene Kurt Felix als Wanderer zwischen den Welten der Schweiz und Deutschland drückte es einmal so aus:
Deutschland hat ein unglückliches Volk und glückliche Politiker.
Die Schweiz hat ein glückliches Volk und unglückliche Politiker.
Und jetzt kann das Thema wieder in der medialen Versenkung verschwinden und die Berliner Schmierenkomödie weitergehen. Es soll nur keiner, der diesen Artikel gelesen hat, sagen können, er habe nicht gewusst, wie es besser gehen könnte.
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Dieser Beitrag erschien zuerst am 12. November 2024 auf wwwahnsinn.abades.dynu.net.
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Cassiel Randomson ist von der Ausbildung her Geoökologe, aber schon seit 1992 für echte (direkte) Demokratie aktiv u.a. bei mehreren Volksbegehren war am Arbeitskreis von Mehr Demokratie e.V. zum ersten Entwurf für den bundesweiten Volksentscheid maßgeblich beteiligt. Seit 2005 schreibt er zum Thema in seinem Demokratie Portal
https://echte.direkte.demokratie.abades.dynu.net/. Aktuell schreibt er auf
https://wwwahnsinn.abades.dynu.net über demokratiepolitische und allgemeinpolitische Themen.
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: Pixelvario / shutterstock
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