
Ein Standpunkt von Hans-Jörg Müllenmeister.
Schon als Jugendlicher faszinierte mich die Erkenntnis, dass Bakterien sich unter idealen Bedingungen exponentiell vermehren – aus einer einzigen Zelle können binnen weniger Stunden Millionen werden. Für Kinder: eine schwindelerregende Zahl. Für Erwachsene: eine Metapher für das Maßlose. Und doch: Die Natur lässt dieses Wachstum nie unbegrenzt eskalieren.
Sie sendet rechtzeitig Gegenspieler – seien es Fressfeinde, Viren wie Bakteriophagen, Ressourcenknappheit oder das Immunsystem eines Wirts. Was entsteht, wird stets eingebettet in ein regulierendes Prinzip, das auf Gleichgewicht zielt, nicht auf Kontrolle.
Hier entfaltet sich die stille Klugheit der Natur. Kein zentrales Kommando, kein Regelwerk, keine KI, die alles im Blick hat. Stattdessen: Wechselwirkungen, Selbstregulation, systemische Rückkopplung. Wachstum wird nicht verhindert – es wird eingebunden, moduliert, balanciert. Die Natur korrigiert, sie diktiert nicht. Und darin liegt der feine Unterschied zum Handeln einer zunehmend entarteten Gesellschaft.
Wo der Mensch Wachstum sieht, wittert er Gefahr. Und wo er Gefahr vermutet, greift er ein – oft mit der Brechstange: Gesetze, Sanktionen, Verbote. Die Folge: das gestörte Gleichgewicht wird zum Kollateralschaden.
Die Diktatur beginnt im Kleinen
Gesellschaftliche Kontrolle kommt selten mit Paukenschlag. Sie schleicht sich ein – auf leisen Sohlen, hinter schönfärbenden Worten, eingebettet in Sicherheitsversprechen und bürokratische Normierungen. Sie erscheint fürsorglich, wie ein schützender Mantel. Doch je enger dieser Mantel uns zum Korsett wird, desto mehr verschwindet das Vertrauen – in den Staat, in den Einzelnen, in die Gemeinschaft und letztlich in unsere eigene Zukunft.
Was die Natur als feinsinnige Rückkopplung lebt – das Wechselspiel aus Ursache und Wirkung – wird in der Gesellschaft zur Einbahnstraße der Macht. Der Begriff „Rückkopplung“ beschreibt das Prinzip, bei dem das Ergebnis eines Prozesses auf den ursprünglichen Prozess zurückwirkt. Doch wo Kontrolle die Korrektur ersetzt, wird sie zur Gefahr: nicht nur für die Freiheit, sondern für die lebendige Ordnung eines gesellschaftlichen Miteinanders.
Korrektur oder Zwangsjacke?
Nehmen wir den Wald: Ein gesundes Ökosystem lebt von Vielfalt, natürlichen Kreisläufen und symbiotischen Beziehungen. Wird es kontrolliert – durch Monokultur oder wirtschaftliche Eingriffe – verliert es seine Widerstandskraft, seine Resilienz. Was bleibt, ist ein blasser Schatten von Lebendigkeit.
Ein weiteres Bild: Die Homöostase unseres Körpers – das Gleichgewicht der physiologischen Funktionen wie Temperatur, pH-Wert oder Blutzucker. Wird grobschlächtig eingegriffen, etwa durch Medikamente, gerät das System aus dem Takt. Ein treffendes Gleichnis für staatliche Eingriffe mit unbeabsichtigten Nebenwirkungen. Hier gilt: Fragen Sie Ihren Verstand. Nicht den… na, Sie wissen schon.
Selbst das Immunsystem zeigt uns: Es unterscheidet zwischen Selbst und Fremd, reagiert flexibel, aber nicht willkürlich. Überaktive Kontrolle – etwa in Form einer Autoimmunreaktion – richtet sich gegen den eigenen Körper. Wie eine Gesellschaft, die ihre Bürger plötzlich als Bedrohung betrachtet.
Transparenz – das zarte Fundament der Freiheit
In Kontrollsystemen – ob KI, Finanzwesen oder staatliche Strukturen – wuchert oft das Dickicht der Intransparenz. Die Nutzer stehen vor einem undurchschaubaren Labyrinth aus Algorithmen, Datensätzen und Entscheidungslogiken. Wer kontrolliert hier wen? Und auf welcher Grundlage? Die Antworten bleiben diffus – wie Schatten hinter Milchglas.
Fehlt die Nachvollziehbarkeit, schrumpft das Vertrauen. Autonomie wird brüchig. Denn wo Algorithmen verzerrte Daten verarbeiten, können diskriminierende Entscheidungen entstehen: bei Kreditvergaben, Bewerbungsauswahlen – im Grunde überall, wo Statistik zum Richter über das Leben wird. Kontrolle ohne Einsicht ist Kontrolle ohne Ethik.
Freiheit unter Kamerablick: Die schleichende Erosion
Videoüberwachung verspricht Sicherheit – doch birgt die Gefahr der lückenlosen Überwachung. Was heute als Schutzmaßnahme gilt, kann morgen zur totalitären Infrastruktur gereichen. Der Übergang ist fließend, die Mechanismen wirken leise – aber nachhaltig. Ungleichbehandlung wird automatisiert, Verantwortung dezentralisiert. Wer haftet, wenn ein System versagt? Der Entwickler? Der Betreiber? Der Staat? Oder ein abstrakter „Nutzer“, der kaum Einfluss hatte?
Und wenn ein System, ursprünglich für das Gute gedacht, plötzlich in falsche Hände gerät? Der Zweck wird entstellt, die Wirkung pervertiert. Was für den Schutz gedacht war, wird zum Werkzeug der Unterdrückung.
Kontrolle braucht Kontrolle – sonst wird sie zur Gefahr
Kontrollsysteme sind keine Feinde per se. Sie können Schutz bieten, Fairness fördern, Effizienz steigern. Doch sie bedürfen selbst einer klaren Kontrolle – transparent, demokratisch legitimiert, nicht diskriminierend. Denn Kontrolle ist ein Instrument der Macht, und Macht ist stets ambivalent. Wer nicht aufpasst, sieht sich in einem Netz wieder, das weniger schützt als knebelt.
Die schleichende Kontrolle durch Technologie – Big Data, KI – ist längst Realität. Ein Blick nach China offenbart, wie eng Fortschritt und Freiheit beieinanderliegen – und wie leicht letzteres geopfert wird.
China: Das digitale Drehbuch der Kontrolle
Videoüberwachung: Über 600 Millionen Kameras mit Gesichtserkennung erfassen jede Bewegung. Anonymität ist zur Illusion geworden. Seit 2013 steht Xi Jinping an der Spitze der Volksrepublik China – als Symbol für ein System, das Kontrolle perfektioniert hat. Bereits 2004 begann die umfassende digitale Überwachung in Zhejiang. Heute gleicht China einer feinjustierten Maschine zur Formung menschlichen Verhaltens.
Perfekte Kontrolle: Nicht mehr durch rohe Gewalt, sondern durch digitale Normierung. Was nicht passt, wird passend gemacht – algorithmisch.
Sozialkreditsystem: Ein Punktesystem bewertet Bürger – Lob für Gehorsam, Strafen für Kritik. Wer verliert, verliert den Zugang zum öffentlichen Leben.
Informationskontrolle: Kritische Inhalte verschwinden, westliche Plattformen werden blockiert. Die Deutungshoheit liegt allein bei der Kommunistischen Partei Chinas, der KPCh – abweichende Gedanken gelten als systemwidrig.
All dies dient dem Erhalt eines Machtmonopols. Opposition existiert nicht, ein freier Diskurs ist unerwünscht – die Kontrolle webt ein engmaschiges Netz um Gesellschaft und Denken.
Unser Gehirn im Aus? Es existiert inzwischen eine KI namens Centaurus, die neue Situationen analysieren und menschliche Entscheidungen erstaunlich präzise vorhersagen kann – mithilfe neuronaler Muster, die dem menschlichen Gehirn nachempfunden sind.
Rückblick ins Mittelalter – Kontrolle im Namen des Göttlichen
Der Kontrollwille autoritärer Regime erinnert bisweilen an die Machtstruktur der mittelalterlichen Kirche. Auch sie beanspruchte Deutungshoheit, unterdrückte Wissen, übte Kontrolle im Namen des Absoluten aus. Die Parallelen sind frappierend:
Mittelalterliche Kirche
Bücherverbot, Exkommunikation, Inquisition, Folter, Ablasshandel, Bildungsmonopol.
versus:
Moderne Diktatur
Zensur, soziale Ächtung, Geheimpolizei. Privilegien für Loyalität, Kontrolle über Ideologie.
„Die Kirche bestimmte umfassend über das Leben der Bevölkerung und konnte sogar der Wissenschaft Ketten anlegen.“
Der Analphabetismus erleichterte die Erpressung durch Spiritualität – so wie moderne Desinformation das kritische Denken lähmt. Was einst durch Angst vor Hölle geschah, geschieht heute durch Angst vor Chaos, Unsicherheit, Kontrollverlust.
Kontrolle als Herrschaftsarchitektur
China gilt als Paradebeispiel für staatliche Kontrolle. Die Kommunistische Partei sieht in sich die Garantie für Einheit und Stabilität – und begründet damit ihr autoritäres Vorgehen. Die kollektive Erinnerung an Zerfall, etwa während der Kulturrevolution, dient als Rechtfertigung. Kontrolle wird zur Versicherung gegen Chaos – doch sie kostet Freiheit.
Xi Jinping erscheint zunehmend als überhöhter Führer – die Inszenierung erinnert an frühere Regime. Demokratische Bewegungen wie in Hongkong gelten als Störfaktoren – und werden entsprechend bekämpft. Kontrolle ist hier nicht nur Überwachung, sondern Formung: von Gesellschaft, Identität und Zukunft.
Nordkorea: Personenkult bis zur Selbstaufgabe
In seiner Kindheit wirkte Kim Jong-un wie ein unauffälliger Schüler in einem Schweizer Internat – ruhig, neugierig, umgeben von „diskreten Begleitern“, während andere Kinder im Hof frei spielten. Zwischen 1996 und 2001 durchlief er das Rosenberg-Gymnasium in St. Gallen, ehe das abgeschirmte Umfeld in der Schweiz zum „Prolog“ seiner späteren Herrschaft über ein ganzes Land wurde. Mein damaliger Sportlehrer-Freund, der hier am Gymnasium Sportunterricht gab, sah damals einen asiatischen Jungen, der niemandem auffiel – bis Jahre später klar war, dass diese zurückhaltende Gestalt zum Tyrannen Nordkoreas herangereift war. Schon früh formte das Familienregime ihn zum Symbol absoluter Kontrolle und stählerner Unterordnung. Die Indoktrination eines hungernden Volkes führte zu einem hündischen Gehorsam, der weltweit seinesgleichen sucht. Der göttliche Personenkult um den „Feistling“ Kim ist Ausdruck einer Macht, die nicht aus Legitimität, sondern aus Angst und Mythos geboren wurde.
Gesellschaftliche Auswüchse und die Perlen-Metapher
Extreme Formen von Macht entstehen nicht zwangsläufig durch äußere Erschütterungen – oft sind es innere Entartungen, die zur Erstarrung führen. Wie bei der Naturperle, deren Ursprung nicht etwa ein Sandkorn ist, wie weitläufig angenommen, sondern eine pathologische Zellveränderung des Epithelgewebes: Die Muschel reagiert auf inneren Stress, umhüllt ihn schützend – eine stille schöne Antwort auf ein inneres Missverhältnis, ganz ohne äußere Einwirkung.
Der Mensch wiederum erzeugt die Zuchtperle: Er pflanzt als Wachstumskern fremdes Gewebe einer Mississippi-Muschel ein – ein künstlicher Impuls, Symbol für Ideologien und soziale Konstrukte, die zur Instrumentalisierung und Machtausübung dienen. Das Resultat: autoritäre Regime, deren Kontrolle nicht organisch entsteht, sondern erzwungen und einbetoniert wird.
Kontrollsysteme der Natur – düstere Parallelen
Auch in der belebten Welt finden sich Mechanismen, die Verhaltensfreiheit rauben: Der parasitäre Zombipilz Ophiocordyceps kapert das Nervensystem von Insekten, um sie zu willenlosen Werkzeuge seines Fortpflanzungstriebs zu machen. In Wolfsrudeln und Primaten-Gruppen etablieren sich Rangordnungen, die durch soziale Sanktionen aufrechterhalten werden und unbarmherzig Durchsetzungsstarke belohnen. Und wenn ein Ökosystem aus dem Gleichgewicht gerät, kann eine dominante Art das fragile Gefüge sprengen. Die Natur zeigt: Kontrolle stabilisiert nicht nur, sie kann ebenso zerstören.
Natur als Lehrmeisterin und Warnung zugleich
Natur und Gesellschaft teilen das Prinzip der Steuerung – doch der Mensch vermischt Ordnungsliebe mit Machtstreben. Während natürliche Hierarchien meist funktional und flexibel sind, wird menschliche Kontrolle oft ideologisch verbrämt. Dominanzverhalten ist tief in unserer Evolution verwurzelt und spiegelt sich bei Menschenaffen in Hierarchiekämpfen wider. Doch nur wir Menschen vergeben Macht Legitimation durch:
Religion und Dogmen „Gott will es“,
Gesetze und Bürokratien „Das Recht spricht“,
Nationalismus und Ideologien „Die Geschichte verlangt es“.
Aus Wirtschaftskrisen oder Kriegen entstehen Ängste, gefolgt von starken Führerfiguren – oft begonnen als gewählte Politiker oder Militärs, die mit Versprechen von Sicherheit punkten.
Schlussbild: Die Natur heilt – der Mensch herrscht
Die Natur korrigiert durch Rückkopplung, ohne festen Griff zu erzwingen. Sie gewährt Spielraum, ohne das System aus den Augen zu verlieren. Der Mensch dagegen fürchtet unkontrollierte Kräfte, opfert dafür Lebendigkeit und Vielfalt und schafft eine, wie ich sage „Autoimmunreaktion“, die sich gegen Freiheit und Vertrauen richtet. Wachsamkeit ist gefragt, um dem kontrollierenden Impuls Einhalt zu gebieten und demokratische Freiheiten zu schützen.
Der deutscher Aphoristiker Peter Rudi brachte es auf den Punkt:
Nichts muss besser kontrolliert werden, als die Kontrolle und ausnahmslos alle, die sie leisten.
+++
Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
+++
Dieser Beitrag erschien zuerst am 24. Juli 2025 bei anderweltonline.com
+++
Bildquelle: TSViPhoto / shutterstock
+++
Ihnen gefällt unser Programm? Machen wir uns gemeinsam im Rahmen einer "digitalen finanziellen Selbstverteidigung" unabhängig vom Bankensystem und unterstützen Sie uns bitte mit der:
Spenden-Kryptowährung „Nackte Mark“: https://apolut.net/unterstuetzen/#nacktemark
oder mit
Bitcoin: https://apolut.net/unterstuetzen#bitcoin
Informationen zu weiteren Unterstützungsmöglichkeiten finden Sie hier: https://apolut.net/unterstuetzen/
+++
Bitte empfehlen Sie uns weiter und teilen Sie gerne unsere Inhalte in den Sozialen Medien. Sie haben hiermit unser Einverständnis, unsere Beiträge in Ihren eigenen Kanälen auf Social-Media- und Video-Plattformen zu teilen bzw. hochzuladen und zu veröffentlichen.
+++
Abonnieren Sie jetzt den apolut-Newsletter: https://apolut.net/newsletter/
+++
Unterstützung für apolut kann auch als Kleidung getragen werden! Hier der Link zu unserem Fan-Shop: https://harlekinshop.com/pages/apolut