Tagesdosis

Die Kunst der Balance | Von Sabiene Jahn

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Tagesdosis 20250902 apolut
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Modi, Xi und Putin setzen auf Verständigung

Die SCO in China zeigte: Indien und China wagen eine Annäherung, Russland verstärkt seine Allianz – und der Westen klammert sich an die eigene Blocklogik. „Wandel durch Annäherung“ wird neu geschrieben, nur nicht dort, wo man ihn einst erfand.

Ein Kommentar von Sabiene Jahn.

Es sind Bilder, die in Europa kaum wahrgenommen werden, in Asien aber ein neues Kapitel markieren: Modi, Xi und Putin in demonstrativer Nähe bei der diesjährigen SCO-Tagung in China (1). Man sieht Umarmungen, man hört die Worte von „Partnerschaft“ und „Freundschaft“. Und man begreift, dass sich hier etwas verschiebt. Während der Westen in den gewohnten Kategorien von Allianzen und Blöcken denkt, setzt Eurasien längst auf ein anderes Modell: Souveränität statt Unterordnung, flexible Zusammenarbeit statt ideologischer Einheitsfront.

Die Tagung war mehr als Diplomatie-Kulisse. Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO), gegründet 2001 zur Terrorismusbekämpfung und regionalen Sicherheit, umfasst heute zehn Vollmitglieder – darunter seit 2023 den Iran und seit 2024 Belarus (2). Sie repräsentiert rund 40 Prozent der Weltbevölkerung und ist längst ein Gegengewicht zu westlichen Bündnissen (3). Das diesjährige Treffen in Tianjin war das größte seit Bestehen. Neben den Staatschefs der Mitglieder nahmen Beobachter und Partnerstaaten teil, bis hin zu UN-Generalsekretär António Guterres, der Türkei, Ägypten, Myanmar und Indonesien (5). Schon diese Teilnehmerliste zeigt: Die SCO ist keine Regionalveranstaltung mehr, sondern entfaltet globale Anziehungskraft.

Zentrale Themen waren Terrorismusbekämpfung, Extremismus, Separatismus – aber auch die Aufforderung, „Einigkeit gegenüber dem Westen“ zu wahren (6). Xi Jinping rief zur Abkehr von der „Mentalität des Kalten Krieges“ auf (5). In der gemeinsamen Erklärung lehnten die Mitglieder einseitige Zwangsmaßnahmen ab – eine klare Botschaft gegen Sanktionen und Handelszwänge (4). Auffällig: Der Ukraine-Krieg blieb unerwähnt, obwohl Putin ihn in seinen Auftritten immer wieder verteidigte (5). Dafür verurteilte die SCO Terrorangriffe in Kaschmir sowie die humanitäre Lage in Gaza und kritisierte scharf US- und israelische Angriffe auf iranische Ziele (6). Die Organisation zeigt damit, dass sie globale Konfliktlagen adressiert – und sich als Sprachrohr des Globalen Südens versteht (3).

Besonders deutlich zeigt sich das am Beispiel Indiens. Nach Jahren der Eiszeit mit Peking beginnt eine vorsichtige Normalisierung (9). Gleichzeitig bleibt das Verhältnis zu Russland robust (7). Diese Kombination ist kein Widerspruch, sondern Ausdruck einer Politik, die nationale Interessen über Blockdisziplin stellt. Indien kauft weiterhin russische Energie, trotzt Druckversuchen und diversifiziert Handelsbeziehungen – nicht aus Trotz, sondern aus nüchterner Standortlogik (8).

Indien und China setzen dabei auf Wandel durch Annäherung. Egon Bahr hätte an dieser Szene wohl seine Freude gehabt. Jener Sozialdemokrat, der Anfang der 1970er-Jahre die deutsche Ostpolitik prägte, formulierte einst den Satz „Wandel durch Annäherung“. Damals war es der Versuch, den Kalten Krieg durch schrittweise Vertrauensbildung erträglicher zu machen und die Realität einer geteilten Welt anzuerkennen. Was in Europa gelang, scheint nun am Himalaya eine späte Fortsetzung zu finden (10). Jahrzehntelang standen sich Indien und China als Rivalen gegenüber, zuletzt gipfelte das 2020 im tödlichen Zusammenstoß im Galwan-Tal (13). Nun aber deutet sich eine vorsichtige Normalisierung an: direkte Flüge sollen wieder starten (11), Visa- und Handelsregeln werden erleichtert, Pilgerwege öffnen sich, und beide Seiten sprechen erstmals von einer „frühen Einigung“ bei der Grenzfrage (12). Symbolik? Es ist mehr als das. Es ist der Versuch, die Feindseligkeit hinter sich zu lassen und gemeinsame Spielräume zu erschließen – ein Schritt, der historisches Gewicht hat.

Hier liegt der blinde Fleck vieler westlicher Kommentare: Man misst eurasische Kooperation an der Folklore geschlossener Militärbündnisse und erklärt Interessengegensätze kurzerhand zum Scheitern (2). Dabei ist gerade das Management solcher Gegensätze der Kern des Modells: kein ideologischer Gleichklang, sondern die Fähigkeit, Nutzen und Konflikt gleichzeitig zu organisieren. Wer nur auf „Spannungen“ starrt, übersieht die neue Kunst der Balance.

Auch die gängige Lesart zu Zöllen und Handelsstreit greift zu kurz. Strafmaßnahmen gegen indische Industriegüter wurden hierzulande als ökonomische Fehlkalkulation verbucht (4). Politisch jedoch hatten sie einen anderen Effekt: Sie unterminierten die Erwartung, Indien ließe sich dauerhaft in eine antichinesische Front einbinden (7). Die Blocklogik bekam Risse – und mit ihr die Gewissheit, dass Washington überall die Kommandobrücke hält (10). Das Ergebnis ist eine beschleunigte Hinwendung zur Nichtangleichung: Partner ja, Lagerzugehörigkeit nein.

Natürlich bleibt zwischen Indien und China vieles strittig. Aber beide betonen nun ihre Verantwortung für eine multipolare Weltordnung – als Partner, nicht als Gegner (12). Zusammen repräsentieren sie fast 40 Prozent der Weltbevölkerung und einen gewaltigen Anteil an der Weltwirtschaft (1). Ihre Annäherung ist deshalb mehr als bilaterale Diplomatie. Sie ist ein Signal, dass der unipolare Anspruch des Westens zu Ende geht (14).

Quellen und Anmerkungen

1.) http://eng.sectsco.org/news/

2.) https://asiatimes.com/

3.) https://thediplomat.com/

4.) https://www.dw.com/de/handelsstreit-zwischen-indien-und-usa-schadet-beiden-seiten/a-73810356

5.) https://www.dw.com/de/putin-fordert-neue-weltordnung-jenseits-von-europa-und-usa/a-73831631

6.) https://trt.global/world/article/c6134682e232

7.) https://www.aljazeera.com/news/2025/8/18/us-adviser-navarro-pushes-india-to-end-its-purchase-of-russian-crude

8.) https://www.barrons.com/articles/trumps-tariffs-china-india-trade-67fa8c94

9.) https://economictimes.indiatimes.com/news/india/india-china-agree-to-re-opening-of-border-trade-through-three-trading-points/articleshow/123391821.cms

10.) https://thecradle.co/articles/washingtons-nightmare-modi-and-xi-break-the-ice

11.) .https://www.reuters.com/world/china/india-china-agree-resume-direct-flights-boost-business-links-2025-08-19/

12.) https://www.reuters.com/world/china/china-says-dalai-lama-succession-issue-thorn-relations-with-india-2025-07-13/

113.) https://www.reuters.com/world/china/india-backs-dalai-lamas-position-successor-contradicting-china-2025-07-04/

13.) https://www.reuters.com/world/china/china-india-should-regard-each-other-partners-not-rivals-wang-yi-says-2025-08-18/

14.) https://www.reuters.com/business/energy/indias-russian-oil-imports-set-rise-september-defiance-us-2025-08-28/

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Dank an die Autorin für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bild: Modi, Putin und Xi Jinping auf einer SCO Konferenz

Bildquelle: YashSD / shutterstock


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