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Die G20 verliert an Bedeutung | Von Günther Burbach

Die G20 verliert an Bedeutung | Von Günther Burbach

Ohne die USA wird Europa handlungsunfähig

Ein Meinungsbeitrag von Günther Burbach.

Die G20 wirkt inzwischen wie ein Ritual aus einer Zeit, die längst vergangen ist. Johannesburg hat das noch einmal brutal deutlich gemacht. Da sitzen Delegationen in großen Sälen, da werden Kameras geschoben, große Worte gesprochen, und am Ende wandert ein 122-Punkte-Abschlussdokument über die Tische, das alles verspricht und nichts verändert.

Was aber wirklich auffällt, ist das, was fehlt: die wesentlichen Akteure. Die USA boykottieren den Gipfel offen. China taucht nicht in der Form auf, wie man es von einer Weltmacht erwarten würde. Russland wird, wie seit Jahren, umgangen, ist aber trotzdem politisch anwesender als viele, die vor Ort waren. Indien lässt sich Zeit und spielt längst in einem eigenen Schachspiel. Was bleibt, ist eine Kulisse. Eine Bühne ohne Darsteller, während das Drama woanders stattfindet.

Man kann sich fragen, wozu dieses Format überhaupt noch taugt. Ursprünglich war die G20 einmal das Notfallinstrument, um die Finanzkrise zu stabilisieren. Damals wirkte es tatsächlich, als könnte die Welt gemeinsam an einem Tisch sitzen und Entscheidungen treffen, die Wirkung entfalten. Heute ist davon nichts mehr übrig. Die westlichen Staaten sind wirtschaftlich und politisch angeschlagen, die Entwicklungs- und Schwellenländer haben ihre eigenen Allianzen gebildet, und die geopolitische Ordnung hat längst einen neuen Takt angenommen. Der G20-Tisch dreht sich – aber die Musik spielt anderswo.

Das eigentlich Erschreckende ist: Europa scheint das kaum zu bemerken. Während in afrikanischen Hauptstädten, in Peking, Neu-Delhi oder Riad längst andere Ordnungen entstehen, hält sich die EU an die Vorstellung einer „regelbasierten Welt“, als sei sie intakt, stabil und global anerkannt. In Wahrheit ist diese Ordnung nur noch regional gültig – und sie existiert nur dort, wo die USA bereit sind, sie zu stützen. Dass die Vereinigten Staaten diese Stütze nicht mehr bedingungslos liefern, sondern ihre strategische Energie in Richtung China verschieben, ist überall sichtbar. Nur in Europa tut man so, als könne man diese Realität ausblenden.

Es ist dieselbe Logik, die man im Ukraine-Krieg beobachten kann. In den Debatten wird gern so getan, als sei die europäische Unterstützung das Rückgrat der ukrainischen Verteidigung. Aber wer sich ansieht, was der Westen tatsächlich liefert, erkennt sehr schnell: Ohne die USA wäre die moderne Kriegsführung der Ukraine nicht nur eingeschränkt – sie wäre faktisch unmöglich. Es geht nicht nur um Panzer und Raketen. Es geht um die gesamte Architektur der Aufklärung, Zielerfassung, Datenverarbeitung und Kommunikationssicherheit. Die USA liefern die Satellitendaten, die elektronische Signalerfassung, die Infrarot-Überwachung, die globale Luftraumüberwachung, die KI-gestützte Lageanalyse und die Echtzeitkoordination. Europa liefert Geld, Munition, moralische Unterstützung – aber keinen Ersatz für das amerikanische Nervensystem des Krieges.

Wenn Washington morgen entscheidet, sich aus dem Ukraine-Krieg zurückzuziehen, wie es Teile der US-Innenpolitik längst fordern, bricht die operative Grundlage der ukrainischen Armee innerhalb von Tagen zusammen. Nicht weil die Ukraine aufgibt, sondern weil sie blind wäre. Ohne die USA verliert die Ukraine Starlink-Freischaltungen, Palantir-Analyseketten, Zielpriorisierungen, Radar- und Signalerfassung, AWACS-gestützte Warnsysteme und die gesamte strategische Übersicht. Europa hat nichts davon. Nicht im Ansatz. Und es wäre ein Fehler, das schönzureden.

Genau aus diesem Grund ist die Diskussion darüber, was ein US-Ausstieg bedeuten würde, so wichtig. Denn das Szenario hat reale politische Konsequenzen, die weit über den Krieg hinausgehen. Wenn die USA das Engagement reduzieren, liegt die Verantwortung plötzlich bei der EU – politisch, finanziell, strategisch. Und Europa ist dafür nicht vorbereitet. Nicht militärisch, nicht gesellschaftlich, nicht wirtschaftlich. Die EU könnte Milliarden mobilisieren, aber keine globale Infrastruktur aus dem Nichts herbeizaubern. Staaten wie Polen oder die baltischen Länder würden auf eine Fortsetzung des Krieges drängen, während Südeuropa und große Teile Westeuropas einen schnellen politischen Ausweg suchen würden. Die Einheit, die man so gern beschwört, würde sofort zerbrechen.

Und genau hier schließt sich der Kreis zum G20-Desaster. Der Gipfel ist nicht isoliert zu betrachten, sondern ein Spiegelbild eines größeren Zerfalls. Die globale Ordnung sortiert sich neu. China macht sein eigenes System. Indien macht sein eigenes System. Russland ist längst fest im Globalen Süden verankert. Die USA spielen ihre eigene Partie. Und Europa sitzt an einem Tisch, an dem es zwar noch Platzkarten gibt, aber keine Macht mehr. Die G20 ist ein Format der alten Welt – und die alte Welt ist nicht mehr da.

Die EU ist in diesem Spiel kein Zentrum mehr, sondern eine Region, die versucht, ein geopolitisches Vakuum mit schönen Worten zu füllen. Man spricht über „strategische Autonomie“, gleichzeitig hängt man bei Energie, Sicherheit und Technologie an externen Kräften. Man fordert eine „regelbasierte Ordnung“, während man selbst nicht mehr die Macht hat, Regeln durchzusetzen. Man unterstützt die Ukraine „so lange wie nötig“, ohne zu sagen, was passiert, wenn „nötig“ sich einmal nicht mehr finanzieren oder militärisch absichern lässt.

Die Wahrheit ist unbequem und deshalb politisch tabu: Die europäische Sicherheit hängt nicht an Paris, Berlin oder Brüssel, sondern an Washington. Und die USA entscheiden gerade neu, welche Rolle sie künftig in Europa überhaupt noch spielen wollen. Wenn Donald Trump – oder jeder andere US-Präsident mit ähnlichen Prioritäten – den Entschluss fasst, sich aus dem Ukraine-Krieg herauszuziehen, dann bricht das gesamte strategische Selbstbild Europas zusammen. Und zwar sofort. Ohne Übergangsphase, ohne Schonfrist, ohne diplomatische Rückversicherung.

Es wäre daher klüger, diesen Moment nicht erst dann zu diskutieren, wenn er eintritt. Johannesburg zeigt, wie schnell politische Formate entgleiten können, wenn die Wirklichkeit sie überholt. Die G20 ist nicht mehr das Zentrum globaler Entscheidungskraft. Der Ukraine-Krieg zeigt, dass Europa nicht die Fähigkeit besitzt, ohne die USA Krieg zu führen oder zu beenden. Und die geopolitische Realität zeigt, dass China, Indien, Russland und der globale Süden längst ihre eigenen Wege gehen, ohne Rücksicht auf die westlichen Narrative.

Wer glaubt, Europa könne in dieser Gemengelage einfach weitermachen wie bisher, der verwechselt Hoffnung mit Politik. Die Welt bricht nicht auseinander – sie ordnet sich neu. Aber sie tut es ohne uns. Und das ist vielleicht die wichtigste Botschaft aus Johannesburg.

Quellen und Anmerkungen

WEF – „What is the G20 and why does it matter?“
https://www.weforum.org/stories/2025/11/g20-summit-what-you-need-to-know/

Offizielle südafrikanische G20-Präsidentschaft (Summit 2025)
https://g20.org/g20-media/g20-leaders-summit-south-africa-2025-2/ 

Offizielle G20-Überblicksseite (Struktur, Funktion, Geschichte)
https://g20.org/about-g20/

Kiel Institut – Ukraine Support Tracker (alle Hilfsdaten)
https://www.kielinstitut.de/topics/war-against-ukraine/ukraine-support-tracker/

Wirtschaftsdienst – Vergleich USA/EU Unterstützung (2025)
https://www.wirtschaftsdienst.eu/inhalt/jahr/2025/heft/6/beitrag/unterstuetzung-fuer-die-ukraine-im-internationalen-vergleich-neue-entwicklungen.html 

Le Monde – Europa wird Hauptlieferant militärischer Hilfe
https://www.lemonde.fr/en/international/article/2025/09/04/europe-is-now-ukraine-s-main-source-of-military-support_6745030_4.html

Bruegel – Analyse: „Defending Europe without the US“
https://www.bruegel.org/analysis/defending-europe-without-us-first-estimates-what-needed

AP News – USA schränken Satellitenbilder für Ukraine ein
https://apnews.com/article/942d5fa7c9bdd42e6361e5fa7ddb3ae3

CSIS – Analyse moderner Kriegsführung in Ukraine
https://www.csis.org/analysis/lessons-ukraine-conflict-modern-warfare-age-autonomy-information-and-resilience

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bild: Flaggen aller G20-Mitgliedsstaaten
Bildquelle: justit / shutterstock


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