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Der letzte macht das Licht aus

Der letzte macht das Licht aus

Taurus-Raketen statt Antworten und der Showdown einer alten Ordnung

Wenn die deutsche Politik eine Operette wäre, dann wären wir mittlerweile im dritten Akt: der Tenor übertönt das Orchester, das Bühnenbild brennt, und das Publikum wirft keine Rosen mehr – sondern Fragen. Und zwar solche, auf die man in Berlin keine Antworten mehr geben kann. Wenn ein Brandmauer-Geschwader mit Machterhalt-Reflexen den Kurs vorgibt, dann bleibt am Ende nur noch Sarkasmus als Notwehr.

Ein Meinungsbeitrag von Sabiene Jahn.

In Berlin wurde letzte Woche der neue Koalitionsvertrag zwischen CDU und SPD vorgestellt, doch draußen im Land scheint niemand zu jubeln. Statt Erneuerung herrscht Ernüchterung. Statt Zukunftsvision: Zynismus. Laut einer aktuellen Civey-Umfrage trauen 39 Prozent der Deutschen der neuen alten GroKo auf keinen Fall zu, die zentralen Probleme des Landes zu lösen – weitere 19,2 Prozent sind ebenfalls skeptisch. Das bedeutet: Fast zwei Drittel der Bevölkerung haben längst die Reißleine gezogen, während CDU und SPD sich mit ernster Miene auf dem Deck der Titanic gegenseitig zum Kapitän ernennen.

CDU-Chef Friedrich Merz nennt den Vertrag einen „starken Plan“, der das Land voranbringen werde. Das erinnert an einen Autoverkäufer, der stolz einen klapprigen Diesel als emissionsfrei anpreist – in Wahrheit aber nur die Kilometeranzeige zurückgedreht hat. Die geplante Ministerverteilung spricht Bände: Die CDU sichert sich das Kanzleramt und das Innen- und Außenministerium. Die Bildung wird in das Familienministerium integriert, aus dem Ministerium für Bildung und Forschung wird ein Ministerium für „Forschung, Technologie und Raumfahrt“. Die CDU bekommt außerdem noch die Ministerien für Gesundheit, Verkehr, das Wirtschafts- und das Landwirtschaftsministerium sowie das neue Ministerium für Digitalisierung – ein Phantomministerium, dessen Aufgaben bislang vage bleiben. Die SPD dagegen bekommt u.a. das Finanz-, Verteidigung- und Justizministerium, Arbeit und Soziales und ein frisch geschnitztes Ministerium für gesellschaftlichen Zusammenhalt. Man kann es auch „Staatssekretariat für Volksberuhigung“ nennen. Mit einem Wohlfühlwort zum Amtstitel will man die Illusion aufrechterhalten, dass alles unter Kontrolle sei. Spoiler: ist es nicht.

Holding für Panzerschokolade

Dass ausgerechnet die SPD, die bei der Bundestagswahl gerade mal noch 16 Prozent holte, nun die Hälfte der Regierung stellt, wirkt wie ein schlechter Witz. Die Verliererpartei gestaltet Politik für ein Land, das sie längst nicht mehr repräsentiert. Doch die SPD scheint sich pudelwohl in dieser Rolle zu fühlen. Schließlich lassen sich ausgerechnet jene Ministerien gut medial inszenieren, die seit Jahren im Krisenmodus laufen: Man kann erklären, dämpfen, vertagen. Und wenn das alles nicht hilft, gründet man ein neues Institut – oder eben ein weiteres Ministerium.

Die Sozialdemokratie hat sich in den letzten Jahren neu erfunden – als parteipolitischer Konzern ohne gesellschaftliche Basis, aber mit solidem Verwaltungszugriff. Sie funktioniert wie eine Holding, Inhalte werden outgesourct, Bürgernähe an Kommunikationsagenturen übergeben. Hauptsache, man sitzt an den Hebeln. Vom einstigen Anspruch, Anwältin der kleinen Leute zu sein, ist nur noch ein symbolischer Restbestand übrig – ein bisschen wie die letzte Panzerschokolade im Museum der Bundeswehr - emotional aufgeladen, aber nicht mehr verwendbar.

Die Union wiederum spielt Realpolitik mit einem Hauch Verdrängung. Man weiß um die Bröckelrisse in der „Brandmauer zur AfD“, pflegt öffentlich die Distanz – und trifft sich dann doch mit AfD-Funktionären in ostdeutschen Landtagen. Und genau hier liegt die Brisanz der aktuellen Umfragen: 46 Prozent der Deutschen finden es positiv, dass der CDU-Kreisverband Harz die Aufhebung des Unvereinbarkeitsbeschlusses zur AfD fordert – 35,4 Prozent davon sogar „sehr positiv“. Was früher undenkbar war, ist heute bereits in der öffentlichen Mitte angekommen: Will die CDU/CSU sich als gesichtslose Koalitionskomponente der SPD ihre letzten Stammwähler vergraulen – oder sich in den ostdeutschen Parlamenten in funktionale Zusammenarbeit retten, ohne sich offen zu bekennen? Die Alternative heißt: Verweigerung der Macht oder schleichender Tabubruch.

Showdown alter Ordnung 

Die Wahrheit ist: Das Vertrauen in die Volksparteien ist nicht nur erschüttert – es ist systemisch ausgehöhlt. Der Koalitionsvertrag liest sich über weite Strecken wie eine Mischung aus Verwaltungsprosa, Beruhigungsfloskeln und neoliberaler Trittbrettpolitik. Digitalisierung? Bitte. Bürokratieabbau? Ein Wort wie aus einer Gruft. Es ist alles drin, was gut klingt, aber nichts, was tatsächlich den Karren aus dem Dreck zieht: „sozialer Zusammenhalt“, „Wirtschaftsfreundlichkeit“, „Transformation“ – Schlagworte, die klingen, als wären sie aus der Rhetorikabteilung eines Industrieverbandes gefallen. Konkrete Antworten auf Pflegekrise, Bildungsmisere, Energiearmut, Kriegsbeendigung? Fehlanzeige. Hauptsache, die Form stimmt. Oder wie die SPD es nennen würde: „prozessbegleitender Fortschritt“. Die große Lüge steht auf Seite 127 im Koalitionsvertrag elegisch ausgeführt:

„Unsere Sicherheit ist heute so stark bedroht wie seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr. Die größte und direkteste Bedrohung geht dabei von Russland aus …“

Die Bevölkerung aber hat dieses Theater längst durchschaut. Man fühlt sich nicht nur übergangen – man fühlt sich verhöhnt. Es ist politische Stillstandsverwaltung, blinder Wahn. Das ist keine Koalition – das ist ein Machtkartell im Kostüm demokratischer Legitimation. Die Menschen draußen spüren, dass hier nicht regiert, sondern simuliert wird. Und sie reagieren zunehmend allergisch. Nicht verwunderlich also, dass 39  Prozent der Befragten nicht nur unzufrieden, sondern restlos desillusioniert sind. Nein, auf keinen Fall trauen sie dieser Koalition zu, die Probleme des Landes zu lösen. Was wir erleben, ist keine normale politische Übergangsphase. Es ist der Showdown einer alten Ordnung. CDU und SPD geben sich staatstragend, doch sie tragen vor allem sich selbst.

Ein Käfer auf Glatteis

Und während CDU und SPD also den nächsten „Vertrag zur Zukunft“ feiern, eskaliert die Wirklichkeit ringsherum. Der neue Kanzler-in-spe Friedrich Merz kündigt an, Taurus-Raketen liefern zu wollen – selbstverständlich „in Koordination mit den EU-Partnern“, was in der Praxis bedeutet: Sobald Macron oder Starmer nicken, fliegen deutsche Marschflugkörper gen Osten.

Deutschland besitzt laut offiziellen Quellen etwa 600 Taurus KEPD-350, jede einzelne mit einem Listenpreis von rund 950.000 Euro. Macht in Summe: eine halbe Milliarde, die demnächst in osteuropäischen Himmel entschwindet, um Kommandozentralen, Brücken – und vielleicht versehentlich auch ein ziviles Wohnhaus zu treffen, je nachdem, wen man fragt. Melnik, der ehemalige ukrainische Botschafter in Berlin, fordert jedenfalls nicht weniger als alles. Tornados, Eurofighter, Taurus – alles, was fliegt, schießt und teuer ist. Sein Vorschlag: „Geben Sie am Tag Ihrer Amtseinführung grünes Licht.“ Wie viele Taurus tatsächlich geliefert werden? Von 150 Raketen ist die Rede – also ein Viertel des deutschen Bestands, Gesamtwert: circa 140 Millionen Euro. Der Steuerzahler darf sich freuen: Endlich fließt das Geld nicht mehr in marode Schulen, sondern in hochpräzise Sprengköpfe.

Laut einem internen Bericht des deutschen Militärattachés in Kiew erweist sich die gelieferte Technik jedoch als weitgehend kriegstauglich wie ein Käfer auf Glatteis: Panzerhaubitze 2000: technische Ausfälle; Leopard 1A5: als Artillerie zweckentfremdet, weil zu schwach gepanzert; Leopard 2A6: wartungsintensiv, kaum reparabel an der Front; Patriot-Systeme: unbrauchbar wegen veralteter Trägerfahrzeuge; IRIS-T: effektiv - der Einsatz also selten wie bezahlbare Mietwohnungen. Mit anderen Worten: Deutschland liefert, was man selbst kaum noch bedienen kann, die Ukraine bedankt sich artig, Melnik fordert trotzdem Nachschub, und Friedrich Merz verspricht freudestrahlend mehr.

Geopolitische Grüppchen

Was sich parallel in Brüssel allerdings abspielt, ist ein Lehrstück in transnationaler Eskalation. Während Deutschland und Frankreich auf einen NATO- und EU-Beitritt der Ukraine drängen, schaltet Viktor Orbán (Ungarn) auf stur. Sein Argument: Die EU dürfe kein „Instrument zur Konfliktverschärfung“ sein. Doch genau das droht. Friedrich Merz will nicht nur liefern, sondern gleich auch noch das Einstimmigkeitsprinzip in der EU abschaffen. Veto-Recht? War gestern. Orbán und Fico (Slowakei) könnten künftig überstimmt werden, wenn es nach Merz und Kommissionsflügeln wie Manfred Weber geht. Demokratie à la carte – solange der Gast nicht Ungarn heißt.

Im Koalitionsvertrag steht es schwarz auf weiß: Die Ukraine soll eine Beitrittsperspektive zur NATO erhalten – was in Moskau so gut ankommt wie ein veganer Grillkurs in Texas. Ein entsprechendes Sondertribunal gegen Russland ist gleich mitgeplant. Nur hat niemand gefragt, wie das alles aussehen soll – außer auf Papier. Orbán macht sich indes, wie auch Großbritannien und skandinavischen Ländern an eigene Sicherheitsbündnisse, die an Brüssel vorbei abgeschlossen werden. Die EU zerfällt langsam in geopolitische Grüppchen, während in Berlin noch an der Formulierung des nächsten Klimaberichts gefeilt wird.

Symbolisches Totalversagen

Der russische Raketenangriff auf Sumy am Sonntag war mehr als nur ein weiteres Kapitel im blutigen Kriegstagebuch: Die Ukraine spricht von 34 toten Zivilisten – Russland von einem gezielten Angriff auf das Hauptquartier der Armeegruppe „Sewersk“. Dort sollen 60 ukrainische Offiziere gefallen sein, inklusive Oberst Jula. Ein militärisches Ziel. PR-Schlacht inklusive: Selenskyj lädt Trump zur Besichtigung ein – vermutlich mit Helikopterlandung auf Trümmern. Kiew inszeniert sich als letzte Bastion westlicher Moral – und das direkt vor dem 80. Jahrestag des Siegs über Nazideutschland. Friedrich Merz reagiert, wie man es in Berlin nun mal tut: Er kündigt Taurus-Lieferungen an, zur Krönung des symbolischen Totalversagens. Und Caren Miosga fragt Merz in der „ARD“ nach seinen Plänen. Merz, staatsmännisch in Pose: „Wenn es koordiniert wird, muss Deutschland beteiligt sein.“ Der Satz klingt nach Verantwortung, meint aber: Wenn andere es vormachen, marschieren wir hinterher. Dabei verhandeln die USA längst mit Russland – diskret, aber substanziell. Deutschland? Plant Raketenangriffe auf die Krimbrücke. Gehts noch absurder?

Kabarett der Eskalation

Wir befinden uns in einer Lage, in der deutsche Politiker lieber hochpräzise Marschflugkörper verschicken, als einfach mal das Grundgesetz oder die UN-Charta zu lesen. Während Finnland erstmals einen Bürgermeister mit russischem Namen wählt, zerbricht die deutsche Öffentlichkeit an der Frage, ob sie noch als Friedensmacht gelten darf, wenn sie Kriegsgerät verschenkt wie Überraschungs-Eier.

Friedrich Merz steht an der Spitze einer bizarren Theatertruppe, die glaubt, Glaubwürdigkeit mit Zündschnüren wiederherstellen zu können. Ein Kabarett der Eskalation. Nur leider ohne Pointe. Und bald auch ohne Bundeswehr, wenn’s nach Herrn Melnik geht. Deutschland 2025 – der letzte macht das Licht aus. 

Quellen und Anmerkungen:

1.) Civey-Umfrage: https://civey.com/umfragen/46774/trauen-sie-der-koalition-aus-union-und-spd-zu-die-wichtigsten-probleme-in-deutschland-zu-losen

2.) https://www.tagesspiegel.de/politik/internationale-medien-zum-koalitionsvertrag-keiner-seiner-vorganger-stand-vor-einer-vergleichbaren-aufgabe-wie-merz-13518484.html

3.) https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/bundestag-kabinett-merz-100.html; https://www.sueddeutsche.de/politik/bundesregierung-ministerienverteilung-cdu-csu-spd-li.3234126; https://www.rtl.de/news/bundesregierung-wer-regiert-was-so-teilen-sich-union-und-spd-die-macht-im-neuen-kabinett-id2189969.html;

4.) https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/bundestagswahl-2025-deutschland-wahlergebnisse-parteien-merz-scholz-100.html

5.) Civey-Umfrage: https://civey.com/umfragen/46762/wie-bewerten-sie-die-forderung-des-cdu-kreisverband-harz-den-unvereinbarkeitsbeschluss-der-cdu-mit-der-afd-aufzuheben

6.) Koalitionsvertrag: https://www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Koalitionsvertrag2025_bf.pdf; https://www.youtube.com/watch?v=C-ZZzg3FZ_Q;

Gesundheit und Pflege im Koalitionsvertrag – die Finanzierungskrise der GKV bleibt ungelöst; 85 Prozent der Deutschen glauben, dass Gesundheit und Pflege in den Koalitionsgesprächen zu kurz kommen

7.) https://www.sarganserlaender.ch/artikel/melnyk-kritisiert-schwarz-roten-koalitionsvertrag

8.) https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/marschflugkoerper-taurus-102.html

9.) https://augengeradeaus.net/2025/04/krieg-in-der-ukraine-drohnen-als-wichtigste-munition-deutsche-waffensysteme-zu-kompliziert/

10.) Viktor Orban: https://x.com/PM_ViktorOrban/status/1911313922440700228

11.) https://www.deutschlandfunk.de/merz-stellt-ukraine-erneut-lieferung-des-taurus-in-aussicht-muessen-aus-der-defensive-kommen-100.html ; https://www.deutschlandfunk.de/merz-stellt-ukraine-erneut-lieferung-des-taurus-in-aussicht-muessen-aus-der-defensive-kommen-100.html

12.) Why did Russia attack Sumy and with what results? – Gilbert Doctorow

13.) Russischer Angriffskrieg: Wolodymyr Selenskyj ruft US-Präsident Donald Trump zum Besuch auf | ZEIT ONLINE

14.) Caren Miosga: Geht so Ihr Politikwechsel, Herr Merz? - hier anschauen

15.) CDU-Chef Merz: "Dieses Land soll wieder funktionieren" - ZDFheute

16.) https://lostineu.eu/merz-will-taurus-liefern-und-kertsch-bruecke-zerstoeren/ ; https://lostineu.eu/streit-um-taurus-so-rudert-merz-zurueck/

17.) https://www.helsinginuutiset.fi/paikalliset/8445369; https://gilbertdoctorow.com/2025/04/14/why-did-russia-attack-sumy-and-with-what-results/

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Wir danken der Autorin für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bildquelle: Peter Gudella / shutterstock


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