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Der kollektive Kotau

Der kollektive Kotau

Ein Meinungsbeitrag von Dirk C. Fleck.

Von der Hoheluftbrücke zum Eppendorfer Baum ist es nur eine Station. Neben der Strecke, die von den Landungsbrücken zum Baumwall am Hafen entlangführt, ist dies das schönste Stück Hamburg, das dem Benutzer öffentlicher Verkehrsmittel vorgeführt wird. Unterhalb des Hochbahn-Viadukts findet zweimal wöchentlich der längste Wochenmarkt Europas statt. eingerahmt von prächtigen, fünfstöckigen Patrizierhäusern, deren Geschichte heute kaum noch jemand zur Kenntnis nehmen will. In den großzügigen Wohnungen, die von der U-Bahn aus gut einsehbar sind, wohnten einst viele jüdische Familien, die unter den Nazis zwangsgeräumt und deportiert worden sind. Ihr Nachlass wurde öffentlich versteigert. Die Termine für diese heißbegehrten Events konnte man dem Hamburger Abendblatt entnehmen.

Drei Minuten dauert die Fahrt. Drei Minuten, die sich endlos dehnen können, jedenfalls für einen Menschen wie mich, der aus der Vergangenheit zugestiegen ist und noch nicht gelernt hat, souverän wegzuschauen. Der sich irritiert und hilfesuchend nach Menschen umsieht - der mit einem Einzigen von ihnen schon zufrieden wäre, weil dieser zumindest die Illusion nähren könnte, dass die Verbindung zu seiner Spezies nicht gänzlich gekappt ist.

Aber da ist niemand. So weit das Auge sehen kann, ist niemand da. Links nicht, rechts nicht und neben mir schon gar nicht. Zwar haben die Figuren eine fatale Ähnlichkeit mit den Menschen, die mir noch in Erinnerung sind. Junge wie Alte, Männer wie Frauen. allesamt perfekt geklonte Exemplare auf dem ästhetischen Niveau, das unserer Rasse seit jeher zu eigen ist. Die Ausdruckslosigkeit in den Gesichtern ist täuschend echt, da waren Meister am Werk. Dass niemand den Mund aufmacht, überrascht mich auch nicht. Neu ist die im Kollektiv vorgeführte leicht nach vorne gebeugte Kopfhaltung, die wie ein einziger Kotau vor der digitalen Gottheit wirkt. Dieser unterscheidet sich dann doch von der Haltung der Bücherleser, die früher in der U-Bahn anzutreffen waren. Jene blickten zumindest gelegentlich auf, um die stillen Worte wirken zu lassen, die sie sich gerade zugeführt hatten. Die heutigen Herrschaften starren wie fest geschraubt auf das leuchtende Etwas in ihren Händen, als warteten sie auf den Befehl des Zentralkomitees, genau das sein zu lassen.

Vom Herzklopfen zum Herzrasen ist es nicht weit. Ich meine ein Herzrasen, das die Schädeldecke zerreißt und sämtliche Strukturen und Koordinaten, die man sich im Laufe des Lebens als Orientierungshilfe errichtet hat, um die Realität gegen die Wirklichkeit zu verteidigen, zusammenkrachen lässt.

Schnappatmung, von sprühenden Funken verregnete Bilder, einen verknoteten Schrei in der Kehle - das passiert einem, wenn man von der Zukunft gefangen genommen wird, die keinen anderen Anspruch zu haben scheint, als alles glatt und gleich zu bügeln. 

Steven Jobs, mein Lieber, ich weiß sehr wohl, wie sehr du es kurz vor deinem Tod bedauert hast, was du mit dem i-Phone angeschoben hast. Ähnlich wie Rudolf Diesel seine Erfindung bereute, weil er erkannt hatte, dass der umweltzerstörerischen Automobilmachung damit Tür und Tor geöffnet wurde. Du hättest dich statt dem Smartphone lieber intensiv um deine Kinder kümmern sollen, ließt du verlauten, sie seien zehntausendmal wichtiger als alles, was du je gemacht hast. Das klingt einsichtig, kehrt die Dinge allerdings nicht um. Den Kids hier in der U3 hättest du das Smartphone nicht mehr wegnehmen dürfen ohne Tritte, Bisse und Geschrei zu ernten.

Eppendorfer Baum. Ich taumele zur Tür. Da sitzt doch tatsächlich ein Mensch. Ein Mensch, wie ich ihn kenne! Eine junge Frau, fünfundzwanzig etwa. Versunken, fast träumend. „Wie wohltuend es doch ist, jemanden ohne Handy anzutreffen…“ bemerke ich im Vorübergehen. Die Frau streift das lange blonde Haar beiseite, nimmt den Ohrstöpsel heraus und blickt mich fragend an. Plop. So platzen Seifenblasen.

Auf dem Weg zum Augenarzt lasse ich mich auf einer Bank nieder und betrachte die Parade jener, die mir aus der Zeit enteilt sind. Sie tragen ihre Geräte vor sich her, wenn sie sprechen. Andere halten das Smartphone einfach umklammert oder es steckt griffbereit in der hinteren Jeanstasche. Blicke bekomme ich nicht. Nur die Hunde nähern sich voller Freude und schnüffeln an mir.

In der Praxis dann die Erlösung. Das vollbesetzte Wartezimmer ist alles andere als ein „Job“-Center. Kein Smartphone in Action. Wen wunderts, das Mindestalter der Patienten dürfte bei 77 liegen. Home, sweet home …

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bildquelle: GoodStudio / shutterstock


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