Ein Standpunkt von Rüdiger Rauls.
In Japan bricht die Börse zwischenzeitlich um zwölf Prozent ein. Weltweit verzeichnen die Finanzplätze starke Abschläge. Hat der Kapitalismus nur Husten oder ist es Schlimmeres? Die Schärfe der Kursstürze deutet auf ein hohes Maß an Verunsicherung hin.
Wenig Klares
Wenn auch die Börsen seit Jahren nur eine Richtung zu kennen scheinen, so sind doch Einbrüche wie jener in der ersten Augustwoche in der Geschichte des Kapitalismus keine Seltenheit. Dennoch schütten solche Einbrüche wie jener an der Tokioter Börse von zwischenzeitlich zwölf Prozent Essig in den Wein der Anleger. Ausschläge in solcher Heftigkeit, dem fünftgrößten in der Geschichte der Tokioter Börse, hatten die Anleger nicht mehr auf dem Schirm. Dass Kurse auch talwärts laufen können, hatten viele aus ihrem Bewusstsein gestrichen.
Nun wird gerätselt, woran es gelegen hat und ob die Kurse weiter fallen. Seit dem scharfen Kursrückgang infolge der Corona-Panik war man es gewöhnt, dass nach Kursdellen auch schnell wieder eine Erholung kommt, oftmals sogar mit neuen Rekorden bei vielen Aktienindizes. Die vielen und ständig zunehmenden Krisen in der Welt schienen in der Welt der Börsensäle gar nicht mehr zu existieren. Dennoch zeigt dieser Kurssturz der ersten Augustwoche, dass die Finanzwelt sehr nervös ist und auf dem Sprung, Gewinne schnell mitzunehmen, wenn es brenzlig wird.
Denn Warnsignale gibt es viele. Die Hausse läuft bereits seit Jahren trotz der sich verschlechternden Wirtschaftsdaten. Die Inflation ist hoch und das Wirtschaftswachstum niedrig. Die hohen Zinsen, die die Inflation bremsen sollten, würgen Investitionen und Konsum ab. Trotzdem waren die unlängst veröffentlichen Zahlen der US-Unternehmen besser als erwartet und 80% der Unternehmen konnten die Erwartungen der Analysten sogar überbieten.
Dass die Kurse trotzdem in den Keller gingen, wird Rezessionsängsten zugeschrieben, die durch die schwachen Daten vom US-Arbeitsmarkt ausgelöst worden sein sollen. Doch was als scheinbar rationale Erklärung daherkommt, galt vor nicht allzu langer Zeit noch als Grund für Kursraketen. Denn damals sah man schlechte Konjunkturdaten noch als Argument für die Hoffnung, dass nun die Notenbank die Zinsen senken muss. Das hatte die Kurse beflügelt. So sehr sich die sogenannten Experten auch abmühen mit wissenschaftlich klingenden Erklärungen, es ist viel Spekulation und wenig Handfestes in den Überlegungen.
Viel Geld
Auf der anderen Seite ist ungeheuer viel Geld im Markt, und Geld ist der Sauerstoff der Börsen. Durch die Verkäufe der letzten Tage haben sich die Barreserven noch zusätzlich erhöht, und für dieses Geld müssen wieder Investitionsgelegenheiten gefunden werden. Denn so schlimm Kursverluste auch sein mögen, mindestens genau so unerträglich ist im Kapitalismus Anlagenotstand, also jene Situation, in der Kapital brach liegt und es zu wenig Möglichkeiten gibt, dieses Geld gewinnbringend anzulegen.
Das ist dann die Stunde der Kreativen und Innovationen an den Finanzmärkten. Sie schaffen neue Instrumente und Produkte, mit denen das Kapital der Anleger wieder eingefangen und zu neuen Renditezielen getrieben werden kann. Vor der Finanzkrise von 2008 waren das die besicherten Zertifikate (ABS). Mit ihnen konnten die Kredite, die die Banken ausgegeben hatten, einer neuen Verwertung zugeführt werden. Diese Kredite wurden zu Wertpapieren gebündelt und an die Börsen gebracht - mit dem Segen der Ratingagenturen und einer stattlichen Verzinsung.
Nicht nur große Investoren legten ihr Geld dort an, auch so mancher Stadtkämmerer hoffte damit die klammen Kassen seiner Kommune aufzupeppen. Sogar den Inhabern von Sparbüchern wurden diese Zertifikate von ihren Hausbanken als gute Anlage für ihr kleines Geld angedreht. Aber wenn Kleinanleger zu spekulieren beginnen, ist die Party vorbei. Denn wer soll ihnen noch diese Papiere abkaufen? Sie sind die letzten in der Reihe. Dahinter ist niemand mehr, der noch Geld und noch nicht gekauft hat.
Das Ende der Zertifikate-Hausse ist bekannt. Die Finanzmärkte standen vor dem Zusammenbruch und mussten von den Staaten und durch die Geldschwemme der Notenbanken gerettet werden. Dadurch aber kam noch mehr Geld in den Markt und der Druck zur Kapitalverwertung stieg noch weiter. Der Kapitalismus macht keine Pause, und die schöpferische Kraft der Menschen kennt keine Grenzen. Das gilt auch für die Möglichkeiten der Geldvermehrung.
Weitgehend unter der Aufmerksamkeit der öffentlichen Wahrnehmung waren neue ergiebige Instrumente entstanden, die auf den Zinsunterschieden zwischen Staaten und Währungen aufbauten: die sogenannten Carry Trades. Sie sind nicht unbedingt neu, neu aber ist das Ausmaß der Summen, die in sie geflossen sind. Allein die auf japanische Yen lautenden Kreditgeschäfte im Rahmen dieser Spekulationsinstrumente werden auf „fast vier Billionen Dollar geschätzt“ (1), vielleicht aber auch mehr.
Neues Spiel
Die Carry-Trades gehen auf das Platzen der japanischen Immobilien-Blase zu Beginn der 1990er Jahre zurück. Um die Wirtschaft wieder in Schwung zu bringen, senkte die Bank of Japan (BoJ) die Zinsen, damit billiges Geld für Investitionen zur Verfügung stand. Es ist weit verbreiteter Irrtum, dass die Notenbank Zinssenkungen beschließen kann. Sie kann sie anbieten oder vorschlagen, entscheidend aber ist, ob der Markt diese Zinssenkungen aufnimmt.
Staatsanleihen, die bereits am Markt sind, verfügen über einen festen Zinssatz, der während der Laufzeit nicht geändert werden kann. Neue Zinssätze können also nur bei der Neuausgabe von Anleihen ausgegeben werden. Wer aber kauft eine Anleihe mit einem Coupon von einem Prozent, wenn vergleichbare Staaten das Doppelte oder mehr bieten wie die USA? Die einzige Möglichkeit, dennoch auf den Zins Einfluss zu nehmen, ist der Kurs der Anleihe.
Wenn also die BoJ Zinssenkungen ankündigte, dann ging das nur auf dem Weg, dass sie selbst am Markt befindliche Anleihen aufkaufte und damit deren Kurs in die Höhe trieb. Wenn der Kurs bei gleichbleibendem Zinssatz steigt, dann führt das im Umkehrschluss zu einer niedrigeren effektiven Verzinsung der Anleihe. Die Bank of Japan kaufte also die Anleihen des japanischen Staates auf und wurde damit größter Gläubiger des eigenen Staates. Aber die Zinsen sanken, was die Absicht dieses Vorgehens war.
Die Folgen dieser Operation waren einerseits niedrige Zinsen und andererseits ein Verfall der japanischen Währung, des Yen. Der niedrige Yen befeuerte den Export und den Gewinn der japanischen Unternehmen. Der schwache Yen ermöglichte aber auch Investoren, in Japan niedrig verzinste Kredite aufzunehmen und dieses Geld in den USA bei wesentlich höheren Zinssätzen zu investieren. Mit diesem als Carry-Trades bezeichneten Verfahren ließen sich gewaltige Gewinne erwirtschaften. Man nutzte nicht nur den Zinsunterschied zwischen Japan und den USA, sondern auch den Währungsverfall vom Yen zum Dollar.
Aber keine Volkswirtschaft kann auf Dauer solche künstlich geschaffenen Ungleichgewichte aushalten. Seit dreißig Jahren hat die japanische Notenbank die Anleihen des japanischen Staates aufgekauft und damit ein gewaltiges Defizit von über 200 Prozent in Bezug auf die wirtschaftliche Leistungskraft des Landes geschaffen. Japan ist das am höchsten verschuldete Land der Welt. Als die Zinsen weltweit stiegen, konnte das Land seine über Jahrzehnte gepflegte Null-Zins-Politik nicht weiter aufrechterhalten.
Neues Glück?
Die Bank of Japan kündigte Zinserhöhungen an. Das hatte den Markt nicht weiter interessiert. Denn wie gesagt: Der Markt entscheidet, ob die Zinsen sinken oder fallen, nicht die Notenbanken. Diese können nur darüber befinden, ob sie Anleihen ihres Staates kaufen oder nicht, oder ob sie gar Anleihebestände verkaufen.
Das Blatt für die japanischen Zinsen wendete sich mit der Ankündigung der BoJ, weniger Anleihen zu kaufen. Wenn die Notenbank weniger japanische Anleihen kauft, dann sinkt die Nachfrage danach. Anleger konnten also davon ausgehen, dass die Kurse sinken werden, wenn die Nachfrage infolge der sinkenden Notenbank-Käufe zurückgeht. Also verkauften viele, nahmen Kursgewinne mit. Die Notierungen sanken. Damit aber stieg der effektive Zins japanischer Anleihen.
Das Geschäft der Carry-Trades begann, nicht nur an Attraktivität zu verlieren, sondern auch zu Verlusten zu führen. Denn nicht nur die Zinssätze gerieten ins Wanken, auch die Währungsverhältnisse zwischen Dollar und Yen hatten sich rapide verändert. Hatten im Juni noch 162 Yen für einen Dollar gezahlt werden müssen, den schlechtesten Wert aller Zeiten, so verbesserte sich die japanische Währung innerhalb eines Monats um 10 Prozent auf 145 Yen pro Dollar. Das brachte das Geschäftsmodell der Carry-Trades in Gefahr. Um schnell flüssig zu werden, verkauften Investoren japanische Aktien. Die Börse in Japan ging in die Knie.
Wie viele Carry-Trade-Kontrakte bestehen, weiß niemand genau. Von daher ist auch das Risiko nicht abzuschätzen, das diese Instrumente für die Finanzmärkte bedeuten. Die Börsen haben sich nach dem ersten Schock wieder etwas erholt. Aber es ist nicht klar, ob das schon das Hauptbeben war oder nur ein Vorbeben und ähnliche oder gar heftigere folgen. Denn in den Tiefen von Märkten, die nicht so transparent sind wie die Börsen, stehen große Summen im Feuer.
Hat der Kapitalismus nur gehustet, hat ihn eine Lungenentzündung oder gar die viel gefährlichere Schwindsucht erfasst? Das wird sich zeigen. Aber eines ist auch klar: Daran wird der Kapitalismus nicht zerbrechen. Viele seiner Gegner hoffen im Stillen, dass er an seinen Krisen zugrunde geht und dadurch einer neuen Ordnung Platz gemacht wird. Das ist ein Trugschluss.
Eine neue Ordnung kommt nicht dadurch, dass die alte zusammenbricht. Eine neue Ordnung kommt nur, wenn eine neue geschaffen wird. Sie kommt, wenn die Menschen sich eine neue gesellschaftliche Grundlage für ihr Zusammenleben schaffen im Bewusstsein ihrer Interessen und Bedürfnisse. Solange das nicht geschieht, wird der Zusammenbruch des herrschenden kapitalistischen Systems nicht zu dessen Untergang führen.
Börsenbeben und Finanzkrisen schaffen keine neue Gesellschaft, sie bringen höchstens eine neue Form des Kapitalismus hervor. Selbst wenn das zusammenbricht, was heute als Kapitalismus dasteht, wird das, was danach kommt, auch wieder Kapitalismus sein – nur in einem anderen Gewand. Seine Abschaffung, seine Überwindung als Teil der Menschheitsgeschichte wird nur dann erfolgen, wenn die Menschen seiner überdrüssig sind und sich aufmachen, ihn durch eine neue gesellschaftliche Ordnung zu ersetzen.
Quellen und Anmerkungen
(1) Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 7.8.24: Schwache Börse, kein Kursdrama
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Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: Just Life / shutterstock
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