Ein Meinungsbeitrag von Stephan Ossenkopp.
Die momentane Deeskalation im US-China-Handelsdisput kann nur wenige beruhigen. Die Ursache des Problems ist ein weit tiefer liegender geopolitischer Konflikt. Die USA haben ihr Ziel, Chinas Aufstieg als Wirtschafts- und Technologiemacht zu unterbinden, keineswegs aufgegeben. China unternimmt unterdessen strategische Schritte, um sich trotz der laufenden Gespräche und Einigungsversuche immer mehr von der Abhängigkeit gegenüber den USA zu lösen. Auch wenn die amerikanischen und chinesischen Unterhändler Mitte Juni in London lächelnd in die Kameras schauten, überwiegt die Skepsis, vor allem auf Seiten Pekings, ob wirklich ein Phasenwechsel in den komplexen Beziehungen beider Länder erreicht werden kann. Chinas Vertreter hielten sich mit Euphorie generell zurück, sprachen von Fortschritten und einem grundsätzlich konstruktiven Austausch. Als Nächstes sollten Missverständnisse reduziert werden, meinte der chinesische Delegationschef He Lifeng. Dies lässt darauf schließen, dass es eben immer noch viele Missverständnisse gibt – und zwar grundsätzliche. Die USA betrachten China als zentralen Rivalen und wollen den Chipmarkt und die Künstliche Intelligenz dominieren. Mit harten Sanktionen soll China vom Kauf und der Herstellung moderner Chips abgeschnitten werden. Ironischerweise benötigen die USA für ihre KI-Chip-Dominanz jedoch massenhaft Seltene Erden, also jene Metalle, bei deren Herstellung China fast ein Monopol besitzt.
Am 2. April dieses Jahres entfesselte US-Präsident Donald Trump mit der Einführung von Zöllen seinen „Befreiungstag“, sprich Handelskrieg. Obwohl alle Länder betroffen waren, schaukelten sich die Zölle zwischen den USA und China auf bis zu 145 % auf amerikanischer und 125 % auf chinesischer Seite hoch. Die Situation war unhaltbar und mündete schließlich in ersten Verhandlungen zur Reduzierung der Zölle sowie einem 90-tägigen Moratorium, das am 10. Mai in Genf beschlossen wurde. Wer von beiden zuerst die Nerven verloren hatte, darüber streiten sich die Experten. Trump-Amerika verbuchte es als Sieg, China an den Verhandlungstisch gezwungen zu haben, da China angeblich einen schweren Rückschlag erlitten hatte. In China sah man es genau umgekehrt und meinte, dass die USA angesichts von gravierenden Aktienmarkteinbrüchen und aufgeregten Konsumenten zuerst eingeknickt seien. Aufgrund der hohen Importzölle sah es in einigen amerikanischen Containerhäfen plötzlich deutlich leerer aus. Der Importstopp Chinas für Boeing-Flugzeuge traf die US-Industrie unvorbereitet. Vor allem die Ausfuhrbeschränkungen für Seltene Erden, die im High-Tech- und Militärbereich der USA unersetzlich sind, sorgten für ernste Probleme. Peking schaltete auch den fiskalischen Stimulus weiter hoch, was die Nachfrage und den Konsum von in China produzierten Gütern zusätzlich ankurbelte und die Abhängigkeit von Importen drosselte. Auch wenn beide Volkswirtschaften litten, wurde China insgesamt der Punktsieg zugesprochen.
Das gesamte Ausmaß wird derzeit erst statistisch erfasst. Im April sanken Chinas Exporte in die USA um 21 %, im Mai sogar um 34,5 %. Trotzdem wuchs das gesamte Exportvolumen Chinas im April um 8,1 % und im Mai um 4,8 %. Für Juni wird eine Erholung des Handels mit den USA erwartet, da die Zölle in die USA derzeit nur noch 10 % betragen. China hat seine strategischen Weichen beim Export trotzdem dauerhaft umgestellt. So exportierte Peking im Mai fast 15 % mehr Waren nach Südostasien, nämlich in die ASEAN-Staaten. Die Importe nach China fielen tatsächlich um 3,4 %, was nahelegen könnte, dass die Abhängigkeit von US-Waren tatsächlich reduziert werden konnte. Es wird außerdem vermutet, dass chinesische Waren nun einfach andere Routen in die USA nehmen. So stieg der Export chinesischer Waren nach Vietnam im Vergleich zum Vorjahr um 22 % an und die Waren finden so doch noch ihren Weg zum amerikanischen Markt – als „Made in Vietnam” statt „Made in China”. Auch in die EU liefert China seit Mai dieses Jahres 12 % mehr Waren. Der China-Afrika-Handel verzeichnete mit 115 Mrd. Dollar in den ersten fünf Monaten dieses Jahres ein neues Allzeithoch, was einem Zuwachs von über 12 % entspricht. Mit ihrem Zollkrieg haben die USA im Prinzip den Handel zwischen China und dem Globalen Süden enorm angekurbelt und sich selbst zum Buhmann gemacht. China hat dem Giganten USA gezeigt, wo es lang geht, kann man vielerorts lesen.
Auch der Europäischen Union drohte die Trump-Regierung mit Strafzöllen in Höhe von 50 Prozent. Und plötzlich kommt wieder Bewegung in die einst ins Stocken geratenen EU-China-Beziehungen. China wirbt jetzt aktiver um die EU, will das steckengebliebene Umfassende Investitionsabkommen (CAI) wiederbeleben und hebt Sanktionen gegen EU-Beamte auf. Auch die Visabestimmungen für europäische Länder wurden zuletzt stark gelockert. Im Gegenzug hat die EU zugestimmt, den EU-China-Gipfel 2025 in Peking auszurichten. Dieser soll bereits am 24.–25. Juli stattfinden. In Asien war China zudem Teil der Gründung des vielleicht größten Handelsbündnisses der Welt. Der ASEAN-China-GCC-Gipfel Ende Mai in Kuala Lumpur war ein echter Paukenschlag, denn es war das erste Treffen, bei dem neben den ASEAN-Staaten auch China und die sechs öl- und gasreichen Staaten des Golf-Kooperationsrates (GCC) vertreten waren. Die ASEAN-Staaten sind bislang als Exporteure stark vom US-Markt abhängig, doch das wird sich mit der Zeit ändern. ASEAN-Länder wie Kambodscha, Laos, Vietnam, Thailand und Indonesien spüren die US-Zölle von 32 bis 49 Prozent erheblich. Experten halten das Treffen für bedeutsam, da es China eine Plattform bietet, auf der die USA nicht vertreten sind. Überall, wo die Amerikaner ein Vakuum hinterlassen, füllen es andere – allen voran die Chinesen – mit Schnelligkeit und Konsequenz.
Kaum war das Knallen der Sektkorken in Kuala Lumpur verhallt, konterte der amerikanische Verteidigungsminister Hegseth auf dem von den USA dominierten Shangri-La-Sicherheitsdialog im ASEAN-Land Singapur mit der üblichen Drohkulisse. Man werde sich nicht aus dieser wichtigen Region herausdrängen lassen. China gefährde die Sicherheit im Indo-Pazifik und bereite sogar glaubwürdig militärische Aktionen vor, um die regionale Machtbalance zu verändern. Die Bedrohung, dass China Taiwan einnehmen könnte, sei real und stehe unmittelbar bevor. Hegseth forderte die Länder der Region auf, mehr in Verteidigung zu investieren und Machtmultiplikatoren der USA zu sein. Man wolle nicht zulassen, dass amerikanische Alliierte unterjocht oder geschwächt würden. Doch die scharfzüngigen Äußerungen amerikanischer Politiker beißen sich immer mehr mit der Realität. So besuchte Chinas Staatspräsident Xi Jinping Mitte April 2025 Kuala Lumpur, da der ASEAN-Vorsitz derzeit bei Malaysia liegt. Malaysias Premierminister Anwar Ibrahim lobte die Verlässlichkeit der Volksrepublik China als Wirtschaftspartner. Prompt warfen ihm Washingtoner Denkfabriken und Medien Verrat seiner Ideale vor und behandeln ihn von jetzt an wie einen Aussätzigen. Mit seiner „America First“-Außenpolitik verprellt die USA offenbar selbst wohlwollende Partner und bietet statt Wirtschaftskooperationen kostspielige und riskante Militärbündnisse an. Hegseths Singapur-Rede erregte in Europa wenig Aufmerksamkeit, doch zu Unrecht. Nicht wenige äußern den Verdacht, dass sich die USA nur deswegen aus dem ressourcenfressenden Ukraine-Konflikt zurückgezogen haben, um sich nun auf den Showdown in der indopazifischen Region mit China zu konzentrieren.
Der Juni-Deal in London zwischen den USA und China hat allem Anschein nach keinen Wendepunkt im grundlegenden Rivalitätsstreit zwischen Washington und Peking herbeigeführt. Es gibt noch nicht einmal irgendwelche offiziellen Verlautbarungen. Trump verkündete zwar auf seinem Social-Media-Kanal vollmundig, eine Vereinbarung sei in trockenen Tüchern und China werde Seltene Erden und Magnete liefern, während chinesische Studenten wieder normal in den USA (weiter)studieren könnten. Doch das kann es noch nicht gewesen sein. Laut vielen Beobachtern hängt es nun davon ab, ob und wann sich die beiden Staatschefs, Trump und Xi, persönlich begegnen und aufeinander zugehen. Eine Möglichkeit wäre das Treffen am Rande der UN-Tagung zum 80. Jahrestag der Gründung der Weltorganisation im September gewesen. Doch laut Pressemeldungen wird Xi nicht erscheinen, sondern schickt stattdessen seinen Premier Li Qiang, um die Festrede zu halten. Ein Lichtblick: Nach ihrem Telefonat am 5. Juni kündigte Trump an, eine Einladung erhalten zu haben, China zu besuchen. Er nahm diese nicht nur an, sondern lud im Gegenzug auch Xi und seine Gattin in die USA ein. Solche Staatsbesuche erfordern jedoch monatelange Vorbereitungen, sodass die Unwägbarkeiten in den Beziehungen beider Länder noch einige Zeit andauern dürften. In der Zwischenzeit wird Chinas Selbstbewusstsein eher wachsen und es wird sich nicht von kurzfristigen Vorteilen, sondern von seinen strategischen Interessen leiten lassen.
Der Dekan des Chongyang Institute for Financial Studies an der Renmin-Universität in Peking, Wen Wang, brachte es in einem Kommentar auf den Punkt. Als Reaktion auf Trumps spontane Äußerung beim Treffen der G7-Länder in Kanada am 17. Juni, er könne sich auch eine Teilnahme Chinas vorstellen, schrieb der bekannte Analyst Wang:
„Die G7 ist eine rückständige, abgeschottete, konservative und passive Organisation, deren positive Rolle in der Welt immer unbedeutender wird. Im Gegensatz dazu sind internationale Mechanismen wie der BRICS-Gipfel, die APEC und die G20 viel integrativer und für China attraktiver.“
Darin liegt eine klare Botschaft: Die Welt hört schon längst nicht mehr auf unipolare Anordnungen aus Washington, sondern ist in die Phase der Multipolarität eingetreten. In dieser werden wichtige Fragen des Handels, der Sicherheit und der technologischen Entwicklung in inklusiven multilateralen Foren so lange erörtert, bis ein übergeordnetes gemeinsames Interesse herauskommt. Verhandlungen, die mit der Brechstange erzwungen werden und letztlich nur den etablierten Mächten nutzen, sind hoffentlich Geschichte. Solange diese neue Realität von Washington, London, Brüssel und Berlin jedoch nicht positiv anerkannt und mit Mitteln der respektvollen Eingliederung begegnet wird, kann niemand auf der Welt beruhigt ins Bett gehen.
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bild: zwei Schachfiguren mit den Flaggen der USA und Chinas
Bildquelle: rawf8 / shutterstock
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