Salim Samatou liegt im Bett, scrollt durch ein US-Strategiepapier und zeigt seiner Community, dass Washington längst im KI-Zeitalter plant, während Europa sich geistig noch im Panzerjahrhundert bewegt. Dieser Text folgt seinem Blick in die „National Security Strategy“ und fragt, warum ausgerechnet ein Comedian präziser über Krieg, KI und Europas Zukunft spricht als jene, die den Kontinent regieren.
Ein Standpunkt von Sabiene Jahn.
Es gehört zu den paradoxesten Bildern dieser Zeit: Ein junger Comedian im Hoodie sitzt vor der Kamera, scrollt durch ein US-Sicherheitsdokument, blendet Grafiken über Lieferketten für KI-Chips ein und erklärt Hunderttausenden Zuschauerinnen und Zuschauern, warum ausgerechnet die Vereinigten Staaten ein elementares Interesse daran haben, den Krieg in Europa zu beenden. Währenddessen reden in Berlin, Paris und Warschau Politikerinnen und Politiker im nahenden Pensionsalter unbeirrt von „Jahrzehnten der Aufrüstung“, „strategischer Niederlage Russlands“ und der Bereitschaft, irgendwann auch deutsche Soldaten in der Ukraine zu stationieren.
Salim Samatou, als Stand-up-Comedian groß geworden, arbeitet sich in seinen Videos durch Trumps neue „National Security Strategy“(1) , übersetzt sie in einen Mix aus Jugendslang, Szene-Humor und überraschend präziser Analyse. Dass er in der Lage ist, sicherheitspolitische Papiere nicht nur zu lesen, sondern analytisch zu zerlegen, hat biografische Gründe. Vor seiner Bühnenkarriere studierte der in Marokko geborene Samatou an der „Frankfurt University of Applied Sciences“ Internationale Wirtschaftsinformatik und absolvierte anschließend an der „Johannes Gutenberg-Universität“ in Mainz ein Masterstudium in Geschichte. Seine Community verehrt ihn genau dafür – für die Verbindung aus Fachwissen und Humor, aus akademischer Schulung und straßentauglicher Rhetorik. Er liest, kommentiert und rechnet nach. Und er stößt auf eine Diagnose, die in europäischen Leitmedien kaum vorkommt. Europa taucht in diesem Papier nicht mehr als „wertebasierter Partner“ auf. Für die USA ist der Kontinent ein „Sicherheitsrisiko“. Gleichzeitig erscheint Europa in den Augen der amerikanischen Tech-Eliten als unverzichtbarer Knotenpunkt einer globalen KI-Ökonomie, die auf Stabilität angewiesen ist und nicht auf einen neuen Flächenkrieg.
Samatou beginnt bei den nüchternen Zahlen. Die Strategie zeichnet ein Europa, dessen Anteil am weltweiten Bruttoinlandsprodukt von rund 25 Prozent im Jahr 1990 auf etwa 14 Prozent geschrumpft ist(2). Als zentrale Ursache nennt das Dokument nationale und transnationale Regulierungen, die Kreativität und Industrie lähmen. Samatou übersetzt das drastisch. Die EU sei der „größte Scheißhaufen, den die Menschheit jemals gesehen hat“(16), mit Verbrennerverbot, „Digital Services Act“ und einem Wust an Bürokratie, der die eigenen Weltmarktpositionen unterspüle. Hinter der Überzeichnung steht allerdings ein ernster Kern, dass die Regulierungen wie der "General Data Protection Regulation" (GDPR), auch positive Effekte haben könnten. Es ist die Datenschutz-Grundverordnung der EU, die seit 2018 gilt. Sie regelt den Schutz personenbezogener Daten in der EU und hat globale Auswirkungen, da sich Unternehmen weltweit daran halten müssen, wenn sie mit EU-Bürgern zu tun haben.
Die Strategie beschreibt eine politische Ordnung, die Meinungsfreiheit einschränkt, oppositionelle Kräfte strukturell benachteiligt, Geburtenraten verfallen lässt und nationale Identitäten entkernt. Damit ist nicht nur wirtschaftliche Schwäche angesprochen. Das Papier stellt die Frage, ob zentrale Länder Europas in zwei Jahrzehnten überhaupt noch über Volkswirtschaften und Streitkräfte verfügen, die sie zu verlässlichen Verbündeten machen. In der diplomatisch kodierten Sprache amerikanischer Strategen wirkt das wie eine Ohrfeige. Samatou nennt es eine „blaue Sowjetunion“(16), die sich selbst stranguliert und aus Sicht Washingtons strategisch immer unbrauchbarer wird.
Entscheidend wird es dort, wo das Dokument auf Russland zu sprechen kommt. Die Autoren stellen fest, dass Europa Russland in fast allen Hard-Power-Indikatoren überlegen ist, wie Wirtschaftskraft, Rüstungsausgaben oder Bevölkerungsgröße(1). Lediglich im Bereich der Atomwaffen liegt Moskau vorn. Aus dieser Lage ergibt sich für einen nüchtern rechnenden Beobachter kein Bild existenzieller Bedrohung. Dennoch sieht ein großer Teil der europäischen Politik Russland als Feind, der angeblich „morgen Warschau“ oder „übermorgen Berlin“ angreifen könnte. Die Strategie deutet dieses Verhalten als Ausdruck eines tiefsitzenden Mangels an Selbstvertrauen(1). Samatou übersetzt die diplomatische Diagnose in eine drastische Formulierung. Er spricht von „komplett hirnamputierter Scheiße“(16), ein Jargon, der in schriftlicher Wiedergabe härter wirkt, als er in der Situation gemeint ist. In seinem Umfeld, einer jungen, politisch wachen und digital tief vernetzten Generation, gilt diese rohe Ehrlichkeit nicht als Entgleisung, sondern als Ausdruck einer Haltung, die sich längst von den ritualisierten Sprechweisen klassischer Politik verabschiedet hat. Sein Publikum schätzt genau diese Direktheit, gerade weil sie aus einem Setting stammt, das mit Absicht unprätentiös ist. Samatou liegt buchstäblich im Bett, während er sich durch Strategiepapiere arbeitet. Es ist die demonstrative Abkehr von politischer Folklore zugunsten von Inhalt.
Die Menschen, die ihm folgen – und es sind Hunderttausende in Deutschland, währenddessen es in der EU bereits einen signifikanten zweistelligen Millionenanteil bedeuten könnte –, gehören zu jener Schicht junger Erwachsener, die sich nicht mehr über Demonstrationen, Parteitage oder Talkshows politisch informieren oder sich öffentlich äußern, sondern über internationale Freundesnetzwerke, Trader-Communities, Technologiekanäle und politische Podcasts. Eine in Dubai lebende deutsche Traderin formulierte es kürzlich so, „Wir haben aufgehört zu warten, dass der Staat uns erklärt, wie die Welt funktioniert. Wir holen uns die Daten selbst.“ Und sie sind bereits einen Schritt weiter, als dass es auch die große Friedensbewegung wahrnehmen möchte, sie arbeiten bereits in Zukunftsprojekten. Die Corona-Jahre haben diese Entwicklung beschleunigt. Eine Reihe junger Menschen haben sich damals schon staatlicher Macht entzogen, andere widerwillig durch einen staatlich orchestrierten Erwartungsdruck fügen lassen und genau daraus die Konsequenz gezogen, Abhängigkeiten zu reduzieren, Autoritäten kritischer zu prüfen und sich ihre Informationen aus globalen Quellen zu beschaffen. Für sie existieren die Grenzen der alten Medienwelt nicht mehr.
Samatou ist eine Stimme dieser Generation, nicht ihr Sprecher, auch nicht ihr Anführer. Aber er ist ein Symptom. Einer, der mit ökonomischem und historischem Wissen ausgestattet ist, ohne sich im Ton zu verbeugen. Einer, der politische Begriffe entkernt, indem er sie in Sprache übersetzt, die nicht mehr von institutioneller Loyalität geprägt ist, sondern von unmittelbarer Wahrnehmung. Dass seine Analysen auf Resonanz stoßen, liegt nicht nur an ihrem Unterhaltungswert, sondern daran, dass sie ein Lebensgefühl spiegeln: das Gefühl, dass die Weltordnung kippt, und dass man selbst besser informiert sein muss als jene, die behaupten, sie zu verwalten.
Der Kontinent Europa, der in nahezu allen Indikatoren stärker aufgestellt ist, sich aber in eine Opferrolle hineinerzählt, erscheint aus amerikanischer Sicht nicht als verlässlicher Partner, sondern als Faktor ständiger Eskalationsgefahr(1). Daraus leiten die Autoren der US-Strategie eine bemerkenswerte Folgerung ab. Es liege im strategischen Interesse der USA, auf ein Ende der Kampfhandlungen in der Ukraine hinzuarbeiten, die europäische Wirtschaft zu stabilisieren, ungewollte Eskalationsrisiken zu senken und eine Form strategischer Stabilität mit Russland wiederherzustellen(1). Frieden erscheint hier keineswegs als moralische Geste. Es ist die nüchterne Funktion amerikanischer Eigeninteressen. Ergänzend skizziert das Papier eine innereuropäische Krise der demokratischen Repräsentation. Eine große Mehrheit der Europäer wünsche sich ein Ende des Krieges(15), dieser Wille schlage sich jedoch nicht in politischen Entscheidungen nieder. Regierungen manipulieren Prozesse, marginalisieren Opposition und schränken pluralistische Debatten ein.
Samatou illustriert das mit Beispielen aus Rumänien, Frankreich und Deutschland, verweist auf Parteien, die von Wahlen ausgeschlossen oder juristisch verfolgt werden, und auf Medienumfelder, in denen jede Abweichung von der NATO-Linie als „russische Propaganda“ markiert wird. In der Strategie findet sich darauf eine provokante Antwort. Man wolle in Europa Bewegungen stärken, die sich gegen den bestehenden Kurs der EU-Politik richten. Der Begriff „Widerstandsbewegungen“ fällt offen(1). Im Klartext heißt das, Teile der US-Eliten sehen europäische Regierungen nicht mehr als verlässliche Übersetzer demokratischer Mehrheiten, sondern als eigene, verselbständigte Machtapparate, die man mit Hilfe neuer politischer Kräfte zur Kurskorrektur drängen möchte.
Parallel dazu entfaltet Samatou seinen zweiten Strang. Die eigentliche Trennlinie in den USA verlaufe längst nicht mehr nur zwischen Republikanern und Demokraten oder „Falken“ und „Tauben“, sondern zwischen dem klassischen militärisch-industriellen Komplex und einem neuen Komplex aus IT- und KI-Konzernen. Er legt Marktdaten nebeneinander. Die großen US-Rüstungsfirmen zusammen kommen auf eine Bewertung von rund 1,3 Billionen Dollar(12). Die „Magnificent Seven“ – Apple, Microsoft, Alphabet, Amazon, Meta, Tesla und Nvidia – liegen mit über 16 Billionen Dollar deutlich darüber(11) und tragen einen erheblichen Teil zur Performance des S&P 500. An ihnen hängen Pensionsfonds, Versicherungen, Staatsfonds auf der ganzen Welt. Ein Crash in diesem Segment würde die Finanzarchitektur erschüttern.
Traditionell konnte die US-Ökonomie Kriege als Konjunkturprogramme nutzen. Der Zweite Weltkrieg, später Korea und Vietnam stützten die Rüstungsproduktion, der Wiederaufbau schuf zusätzliche Nachfrage. Lange wirkte es plausibel, Konflikte zumindest nicht zu schnell zu beenden. Samatou sagt, auch er habe bis vor kurzem geglaubt, es gehe im Ukraine-Krieg im Kern darum, Europa ausbluten zu lassen, Russland zu schwächen und gleichzeitig Waffen zu verkaufen. Dann sei etwas geschehen, das er als technologische Zäsur eines Jahrtausends beschreibt, die KI-Revolution. Die Ermüdung Europas trifft nun auf eine ökonomische Transformation, die weder politisch erkannt noch institutionell verstanden wird. An genau dieser Bruchstelle wird sichtbar, dass die klassischen westlichen Machtzentren auseinanderlaufen. Die politische Rhetorik und ökonomische Realität folgen nicht mehr demselben Jahrhundert.
Europa befindet sich damit in einer paradoxen Lage. Während Washington längst akzeptiert hat, dass der geopolitische Primat des 20. Jahrhunderts zu Ende geht und durch einen technologischen Primat ersetzt wird, klammert sich die europäische Politik an Instrumente, die mit den realen Wertschöpfungsketten der Gegenwart kaum noch Berührung haben. Als Lieferant seltener Erden und in Chip-Produktion beeinflusst China die US-Strategien wie den CHIPS Act und positioniert Europa potenziell als neutrale 'Brücke' zwischen USA, Russland und China – eine Chance, die durch aktuelle Konflikte verspielt werden könnte.
Großbritannien bildet in dieser tektonischen Verschiebung ein trügerisches Scharnier. Obwohl es die EU verlassen hat, agiert es weiterhin als transatlantischer Vorposten, der sich frühzeitig entlang der neuen KI-Ökonomie positioniert, mit staatlich geförderten Rechenzentrumsclustern, einer aggressiven Deregulierung für KI-Modelle und enger Verzahnung mit US-Kapitalströmen. Gleichzeitig mischt London in EU-nahen sicherheitspolitischen Projekten mit, als wäre der Brexit nie erfolgt. Ein Vorrücken durch die Hintertür, das die EU-Institutionen aus struktureller Schwäche zulassen.
Für Deutschland ist diese Lage noch widersprüchlicher. Ein erheblicher Teil des politischen und ökonomischen Establishments hält an einer industriellen Grammatik fest, in der Kriegsproduktion, Stahl, Automobilbau und klassische Maschinenbauketten als Garant des Wohlstands gelten. Der Übergang in die KI-Ökonomie wird nicht als Chance gelesen, sondern als Bedrohung eines arbeitsmarktpolitischen Erbes, das man nicht verlieren möchte. Gerade die älteren Wählerkohorten, auf die sich CDU und Teile der SPD stützen, verlangen Stabilität und Verlässlichkeit. Begriffe, die in einer Welt exponentieller Technologien schwer politisch zu fassen sind. Friedrich Merz bedient diese Erwartungshaltung rhetorisch, indem er die „klassische Aufrüstung“ über KI-Investitionen stellt. Er spricht zur industriellen Erinnerung eines Landes, das jahrzehntelang von Fertigungstiefe lebte und nun fürchtet, in einer digitalisierten Welt seine materielle Bodenhaftung zu verlieren.
Hinzu kommt, dass Merz’ wirtschaftliches Umfeld, Versicherungen, Fonds, Industrieverbände, überwiegend in traditionellen Vermögenswerten engagiert ist. Diese Strukturen reagieren träge auf technologische Sprünge. Gleichzeitig aber ist BlackRock, Merz’ früherer Arbeitgeber, kein Akteur des Alten, sondern der Knotenpunkt, an dem sich KI-Ökonomie und militärische Ökonomie kreuzen. BlackRock besitzt signifikante Anteile sowohl an den „Magnificent Seven“ als auch an den großen Rüstungskonzernen. Es ist damit nicht „im einen oder im anderen“ Komplex aktiv, sondern orchestriert Kapitalflüsse zwischen beiden Systemen. Aus dieser Perspektive wirkt Merz wie ein politischer Repräsentant eines Übergangszustands. Er argumentiert in der Grammatik des militärisch-industriellen 20. Jahrhunderts, während sein früherer institutioneller Hintergrund längst im 21. Jahrhundert operiert.
Die Blockade, die daraus entsteht, betrifft den deutschen Arbeitsmarkt unmittelbar. Die traditionellen industriellen Strukturen verlieren Beschäftigungsbasis, durch Automatisierung, Elektromobilität, Effizienzgewinne und globale Mitbewerber. Gleichzeitig entstehen jene neuen Arbeitsfelder, die KI-Ökonomien verlangen. Ein Dateningenieurswesen, Robotik, Energiearchitektur, Algorithmik oder spezielle Verfahrenstechnik, in Deutschland kaum oder nur punktuell. Ministerien, Universitäten, Förderinstitutionen sind auf Stabilität programmiert, nicht auf Disruption. Sie verwalten die Vergangenheit, statt Zukunftssektoren zu modulieren. Darum driften Arbeitsmarkt und Technologiepfad auseinander. Qualifizierte Industriearbeit geht verloren, ohne dass neue hochwertige Tätigkeitsfelder entstehen, weil der politische Übergang nicht gestaltet wird. Dem gegenüber steht, neben Jobverlusten durch eine Automatisierung drohen auch erhebliche Belastungen durch einen hohen Energieverbrauch und ethische Dilemmata, etwa bei KI in Kriegswaffen. Zudem könnte die Abhängigkeit von US-Tech-Monopolen Europa sicher noch vulnerabler machen.
Dieses Missverhältnis verschärft sich durch die strategische Rolle Europas in globalen KI-Lieferketten. Europa ist kein machtloser Zuschauer, sondern ein zentraler Knotenpunkt. ASML, Zeiss, Spezialchemie aus Deutschland, Vakuumtechnik aus Italien und Frankreich, Materialwissenschaften aus Skandinavien(13). Die USA sind sich dieser Abhängigkeit bewusst, Europa selbst jedoch scheint sie zu ignorieren. Während amerikanische Strategiepapiere die Sicherung europäischer Lieferketten offen als eigenes Sicherheitsinteresse benennen, agieren europäische Staatskanzleien, als lägen die Hebel strategischer Autonomie weiterhin im Panzerbau, in der Munitionsfertigung oder in der symbolischen Selbstversicherung über NATO-Treue.
Im Ergebnis entsteht eine Diskrepanz, die kaum größer sein könnte. Europa hat jene Ressourcen, die die KI-Weltordnung der kommenden Jahrzehnte brauchen wird, aber nicht jene politische Klasse, die diese Ressourcen strategisch nutzen kann. Die deutsche Debatte um Aufrüstung, Pflichtdienste und konventionelle Industrie erinnert an eine Epoche, deren wirtschaftliche Grundlage bereits erodiert. Der KI-Übergang ist keine moralische Frage und kein kulturpolitischer Streit, sondern eine ökonomische Wende, die neue Energieinfrastrukturen, neue Materialketten und neue Berufsprofile verlangt. Dass Deutschland diesen Übergang scheut, liegt weniger an Unwissen als an politischen Loyalitäten gegenüber einem industriellen Modell, das nicht zu retten ist.
Mit dem Aufstieg großer Sprachmodelle, Bildgeneratoren und autonomer Systeme verschieben sich die ökonomischen Gewichte. Plötzlich werden für jede neue Generation von KI-Systemen gewaltige Mengen spezialisierter Chips benötigt und in der Folge gewaltige Mengen Energie. Nvidia-Chef Jensen Huang spricht von künftigen Modellen mit hundertfachem Ressourcenbedarf gegenüber der aktuellen Generation(3). Die „Magnificent Seven“ klagen öffentlich darüber, dass es an Produktionskapazitäten und an verlässlichen Energiequellen fehlt.
Die Grafiken, die Samatou in seinen Videos zeigt, machen deutlich, wie stark Europa in diese Wertschöpfungskette eingebunden ist. Rohstoffe wie Palladium, seltene Erden, Niob oder bestimmte hochspezialisierte Metalle kommen aus Russland, China, Afrika und Südamerika(14). Die eigentliche Chipfertigung verteilt sich auf die USA, Taiwan, Südkorea, Japan und China. Doch im Zentrum steht ein Unternehmen in Europa: ASML mit Sitz in Veldhoven, in den Niederlanden. Es ist Weltmarktführer für extrem-ultraviolette Lithografieanlagen, ohne die sich moderne Hochleistungschips gar nicht produzieren lassen. Die Optiken dafür kommen unter anderem von Carl Zeiss in Deutschland, dazu eine Vielzahl europäischer Zulieferer aus Präzisionsmechanik, Vakuumtechnik und Spezialchemie.
Samatou nennt dieses Geflecht die „Avengers der ganzen Welt“, die zusammenkommen müssen, damit ein KI-Chip entsteht. Wenn in diesem Netzwerk ein zentraler Knoten bricht, etwa ein ASML-Werk, eine Optikfabrik oder ein kritischer Zulieferer, gerät die gesamte Kette ins Rutschen. Ein Flächenkrieg auf dem europäischen Kontinent würde genau dieses Risiko erzeugen, zerstörte Industrieanlagen, unterbrochene Lieferketten, politisch instabile Standorte, in die kein Tech-Konzern mehr gerne investiert. Aus Sicht der großen US-Technologieunternehmen wäre dies ein massiver Einbruch in einem Zukunftsmarkt, der den klassischen Waffenexport um Größenordnungen übertrifft.
Noch schärfer werden die Konturen, wenn Samatou auf den Energiebedarf der KI-Ökonomie zu sprechen kommt. Hyperscale-Rechenzentren verschlingen Strommengen, die bisher nur Großstädte verbraucht haben. Die naheliegende Antwort in den USA lautet, modulare Kleinkernreaktoren, „Small Modular Reactors“ (SMRs), die direkt an Datenzentren gekoppelt werden. Auf diesem Feld ist Rosatom führend. Der russische Staatskonzern betreibt SMR-Projekte im eigenen Land, auch international, und verfügt über zentrale Kapazitäten bei der Herstellung von HALEU-Brennstoff, der für viele fortgeschrittene Reaktordesigns notwendig ist(4). Russland hat die Pionierrolle in SMR-Anwendungen jenseits von Energie. Rosatom nutzt sie bereits für schwimmende Kernkraftwerke auf Eisbrechern in der Arktis(4), was die Rohstofflage (z. B. Uran-Anreicherung) unterstreicht und zeigt, wie Russland geopolitische Vorteile in entlegenen Regionen sichert. Eine Abhängigkeit, die US-Strategien zu Frieden motivieren könnte. Westliche Fachberichte kommen an dieser Feststellung nicht vorbei, sie erklären zugleich, warum Rosatom bislang von harten Sanktionspaketen weitgehend verschont blieb.
Samatou bringt das auf eine zugespitzte Formel: „KI schlägt Waffen.“(16) Die Wertschöpfung, die in einer von US-Tech-Konzernen dominierten KI-Infrastruktur steckt, übertrifft die Profite klassischer Kriegsökonomie und macht diese Kriegsökonomie zugleich von Hochtechnologie abhängig. Wer Raketen bauen will, braucht Chips und wer Chips bauen will, braucht europäische und asiatische Hochtechnologie und russische Rohstoffe. Unter dieser Perspektive wird verständlich, warum ein rational kalkulierender US-Präsident eher auf Stabilisierung Europas drängen würde, als auf Eskalation.
Genau hier entsteht der Kontrast zu Europa. Während in Washington Strategiepapiere entstehen, die Frieden als ökonomisch gebotene Stabilisierung denken, reden europäische Spitzenpolitiker von „Jahrzehnten der Konfrontation“. Die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas fabuliert von „19 russischen Angriffskriegen in hundert Jahren“(5) , polnische Politiker sprechen offen von der Notwendigkeit, Russland zu „zerstückeln“, deutsche Leitmedien tragen dies mit. Die stellvertretende SPD-Fraktionsvorsitzende Siemtje Möller erklärt in einem Politico-Podcast, sie könne sich vorstellen, Bundeswehrsoldaten in die Ukraine zu entsenden, wenn Sicherheitsgarantien vereinbart würden(6). In London trifft sich eine Koalition der Willigen um Merz, Macron, Starmer und Selenskyj und verhandelt über Modelle, die auf dauerhafte NATO-Präsenz östlich des Dnjepr hinauslaufen.
In diesem Umfeld wirkt Samatous Diagnose des Strategiepapiers vom „mangelnden Selbstbewusstsein“ fast milde. Man könnte von einem kontinentweiten Realitätsverlust sprechen. Ein Teil der Erklärung liegt ohne Zweifel in Ideologie. Die politische Klasse der EU ist in einem Diskurs aufgewachsen, in dem die NATO als natürliche Endform der Geschichte gilt, „der Westen“ moralisch a priori überlegen ist und Russland als struktureller Störfaktor erscheint. Diese Haltung verschmilzt mit historischen Traumata in Polen und im Baltikum, mit massiven antirussischen Narrativen, die seit 2014 verstärkt wurden, und mit einer Medienlandschaft, die Kritik an dieser Linie schnell als „Desinformation“ stigmatisiert.
Hinzu kommt eine spezifische Strukturmacht. EU-Institutionen, nationale Verwaltungen, große Think Tanks und NGO-Netzwerke haben eine eigene Funktionslogik entwickelt, die sich nicht mehr primär an nationalen Interessen orientiert, sondern an der Selbstreproduktion ihres Apparats. Der „Digital Services Act“, Medienfreiheitsinitiativen, Sanktionsregime und Sicherheitsgesetze greifen ineinander. Informationskontrolle, Sicherheitspolitik und Regulierung verschmelzen.
Genau an diesem Punkt berühren sich Samatous Analyse und die Recherchen eines Russia Today-Teams zum Berliner „Gipfel zur europäischen digitalen Souveränität“, die mir auffielen und die eine eigenartige Situation zeigt. In einem Saal sitzen Regierungschefs und Minister, sprechen über „europäische Unabhängigkeit“ und eine eigene KI-Infrastruktur. Auf dem Gruppenfoto steht eine Managerin, die biografisch aus einem der einflussreichsten US-Datenkonzerne kommt. Offiziell firmiert sie als Vertreterin einer „EU-AI-Champions-Initiative“. Die berufliche Laufbahn führt jedoch zu Palantir, einem Unternehmen, das eng mit Militär, Polizei und Geheimdiensten kooperiert, dessen Software in Deutschland bereits die Auswertung hochsensibler Datenbestände übernimmt und dessen Gründer Peter Thiel offen erklärt hat, Freiheit und Demokratie ließen sich mit bestimmten Sicherheitskonzepten kaum vereinbaren(7).
Zunächst waren es das „Zentrum für Digitalrechte und Demokratie“ und netzpolitik.org, die diese Personalie sichtbar machten. Sie stellten die Frage, wie glaubwürdig ein Gipfel zur „digitalen Souveränität“ ist, wenn eine Palantir-Managerin unter neutralem Label mit am Tisch sitzt. Das RT-Team griff den Faden auf und ordnete ihn in einen größeren Kontext ein. Palantir-Gesetze in mehreren deutschen Bundesländern, der Einsatz von Gotham und verwandten Plattformen in der Polizeiarbeit, die Verbindung zu US-Rüstungs- und Überwachungsinteressen, die Rolle amerikanischer Venture-Capital-Firmen, die gleichzeitig in KI-Start-ups und Sicherheitsfirmen investieren.
Erst vor diesem Hintergrund entfaltet sich die eigentliche Brisanz. In Hessen läuft seit Jahren „Hessendata“ auf Basis von Palantir-Technologie, Nordrhein-Westfalen und Bayern nutzen eigene Analyseplattformen, Baden-Württemberg hat einen mehrjährigen Vertrag über Gotham abgeschlossen, und das, ohne das Parlament vorher zu fragen(8). Das Bundesverfassungsgericht hat zentrale Teile der ersten Palantir-Gesetze bereits gerügt, weil die Zusammenführung personenbezogener Daten aus unterschiedlichen Kontexten tief in Grundrechte eingreift(8). Dennoch werden diese Systeme weiter ausgebaut. Und gleichzeitig inszeniert die Bundesregierung einen Gipfel, bei dem über „digitale Souveränität“ gesprochen wird, während eine Managerin aus genau diesem Umfeld eine Schlüsselrolle in einer „AI-Champions-Initiative“ übernimmt.
Man kann das als Vorbereitung auf die KI-Zukunft deuten. Man kann es aber ebenso als Fortführung des alten Sicherheitsdenkens mit neuen Mitteln verstehen. Die Muster erinnern an die NATO-Logik des Kalten Krieges. Abhängigkeiten werden als Schutz verkauft. Der Unterschied besteht lediglich darin, dass Panzer, Radarstationen und Stützpunkte heute durch proprietäre Software, Cloudplattformen und Datenzentren ersetzt werden. Europa rüstet das eigene Überwachungssystem auf, während es gleichzeitig die Kriegssprache der vergangenen Jahrzehnte wiederholt.
An diesem Punkt drängt sich ein persönlicher Vergleich auf. In der DDR meiner Jugend begegnete ich Funktionären, die biografisch tief geprägt waren – von Kriegserfahrung, Verfolgung, KZs und einem sehr konkreten Misstrauen gegenüber westlichen Eliten. Ich hatte Respekt vor dieser Generation und ihrem Leid. Zugleich spürte ich eine lähmende Unbeweglichkeit. Die Apparatschiks der späten achtziger Jahre wirkten wie ein System, das seine historische Aufgabe hinter sich hatte, ohne Raum für Neues zu lassen. Der Überwachungsstaat war im Alltag weniger als düstere Totalität präsent, eher als klebriges Netz aus provinziellen Informanten, mit dem man umgehen lernte, gerade in Dörfern, in denen jeder jeden kannte. Was unübersehbar blieb, war die Abwesenheit von Erneuerung. Keine jungen Führungskräfte, keine neuen Ideen, eine Sprache, die seit Jahrzehnten in denselben Phrasen kreiste. Selbst reformerisch auftretende Figuren wie Egon Krenz konnten diesen strukturellen Stillstand nicht überdecken.
Dieses Gefühl stellte sich wieder ein, als ich Samatou zuhörte. Eine politische Klasse, die biografisch in der Logik des Kalten Krieges sozialisiert wurde, hält heute an Feindbildern fest, die mit der materiellen Wirklichkeit kaum noch korrespondieren. Pistorius, Merz, von der Leyen – sie agieren wie Verwalter eines untergehenden Zeitalters, das seine eigene Endlichkeit nicht wahrhaben will. Während die US-Strategie insgesamt rational wirkt, bleibt eines unausgesprochen, es könnten Tarife auf Europa oder volatile US-Politik Lieferketten schaden und den Friedensansatz unterlaufen. Ein Widerspruch, der die US-Position kompliziert.
Der Marktanalyst Alex Krainer liefert eine Makroperspektive darauf. In einem Interview beschreibt er Europa als Zentrum eines erschöpften imperialen Projekts(9). Die Pandemie sollte eine neue, digitale Kontrollarchitektur etablieren, mit Genehmigungssystemen, zentral verwalteten Serverfarmen und globalisierten Regeln. Das Experiment scheiterte. Die Ukraine sollte Russland in einen Sumpf ziehen, kombiniert mit einem beispiellosen Sanktionsregime, das die russische Wirtschaft zerstört und einen Regimewechsel auslöst. Auch dieser Plan ging nicht auf. Andere Versuche, neue Fronten zu öffnen – auf dem Balkan, im Kaukasus – verlaufen im Sande oder werden von anderen Akteuren entschärft. Krainer sieht ein Establishment, das „mit dem Rücken zur Wand“ steht und versucht, durch Eskalation Zeit zu gewinnen. Er verweist auf hektische Kriegsvorbereitungen in mehreren europäischen Staaten, auf Generäle, die Bevölkerung und Jugend auf Opfer einstimmen. Gleichzeitig entstehe mit dem von Trump forcierten 28-Punkte-Plan(10) eine Dynamik, die diesen Krieg beenden und eine neue Sicherheitsarchitektur in Europa erzwingen könnte. Damit geraten nicht nur politische Projektionsflächen in Gefahr, sondern auch handfeste ökonomische Erwartungen. Eingefrorene russische Vermögenswerte, Rohstoffansprüche in der Ukraine oder geostrategische Hebel.
Für Europa zeichnet Krainer ein düsteres Szenario. Die Entscheidung zugunsten eines Konfrontationskurses habe bereits einen Prozess des wirtschaftlichen Selbstverschleißes angestoßen: Deindustrialisierung, Verlust von Sicherheiten, sinkendes Vertrauen in Währungen und Anleihen. Wenn der Ukraine-Krieg nicht die erwarteten Dividenden bringt, weder politisch noch ökonomisch, drohen Stagnation, Währungskrisen und stark steigende Zinsen. Während die USA sich über einen Wiederaufbaufonds und neue Kooperationen mit Russland und dem globalen Süden positionieren könnten, stünde Europa vor der Frage, wie es nach Jahren der Hochrhetorik überhaupt zu einer pragmatischen Friedensordnung zurückkehren soll.
Samatous Videos und Krainers Analysen stammen aus verschiedenen Welten. Der eine übersetzt US-Strategiedokumente in eine Sprache, die eine jüngere Online-Öffentlichkeit erreicht. Der andere blickt aus Sicht eines erfahrenen Marktteilnehmers auf die tektonischen Verschiebungen der Weltwirtschaft. Beide zeichnen dennoch ein ähnliches Bild. Die USA beginnen, von einem durch Waffen und militärische Präsenz getriebenen Ordnungsmodell in ein Modell überzugehen, das von KI-Ökonomie, Lieferketten und Energieregimen bestimmt wird. Europa wäre in diesem Modell als eigenständiger Pol denkbar, als Brücke zwischen USA und Russland, als Technologiehub mit starken Industrien und eigener digitaler Infrastruktur. Es will nur nicht, oder kann nicht. Und in der Sicherheitspolitik greift eine Logik um sich, die aus einem anderen Jahrhundert stammt.
Samatou erfüllt hier eine Aufgabe, die eigentlich klassische Journalisten, Akademien und Regierungsparteien übernehmen müssten. Wer ihm zuhört, erkennt, wie weit sich die offiziellen Erzählungen von den materiellen Grundlagen der Macht entfernt haben. Ob Europa den Sprung aus der Rolle des alternden Kriegstreibers in eine eigenständige, technologisch souveräne Zukunft noch vollzieht, entscheidet sich weniger in Gipfelerklärungen als daran, wer dieses Jahrhundert geistig zuerst versteht.
Quellen und Anmerkungen
1.) https://www.whitehouse.gov/wp-content/uploads/2025/12/2025-National-Security-Strategy.pdf
2.) https://www.imf.org/external/datamapper/PPPSH@WEO/EU/CHN/USA
4.) https://rosatomnewsletter.com/2025/09/22/great-prospects-for-small-scale-generation/
5.) www.yahoo.com/news/articles/eu-foreign-policy-chief-over-153500110.html?guccounter=1
6.) https://www.politico.eu/article/pressure-mounts-on-germanys-merz-to-restore-military-conscription/
7.) https://www.cato-unbound.org/2009/04/13/peter-thiel/education-libertarian
8.) https://www.dw.com/en/german-police-expands-use-of-palantir-surveillance-software/a-73497117
9.) www.youtube.com/watch?v=cqIzsp1eKPg
10.) https://www.axios.com/2025/11/20/trump-ukraine-peace-plan-28-points-russia
11.) https://en.macromicro.me/charts/123469/us-magnificent-seven-total-market-cap-and-share-of-sp-500
12.) https://companiesmarketcap.com/defense-contractors/largest-companies-by-market-cap/
13.) https://www.zeiss.com/corporate/en/c/stories/insights/microchips-for-artificial-intelligence.html
14.) https://www.csis.org/analysis/mine-microchip
15.) https://www.moreincommon.com/media/4gxlm0nv/dec25-mic-ukraine-polling.pdf
16.) Podcast Salim Samatou:
Teil 1 www.youtube.com/watch?v=l5E714RWE7s&t=50s;
Teil 2 www.youtube.com/watch?v=qPCYTTSqHHk&t=663s
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