Ein Meinungsbeitrag von Rüdiger Rauls.
Europa pfeift aus dem letzten Loch. Es ist das Pfeifen, mit dem man die Angst vor Bedrohungen vertreiben will. Was die Wirtschaftsleistung nicht mehr gewährleisten kann, soll nun die Verschuldung sicherstellen, dem eigenen Abstieg in die Bedeutungslosigkeit zu entkommen.
Untergang
In den heutigen Zeiten, wo viele Kommentatoren der Ereignisse sich mit apokalyptischen Prophezeiungen interessant machen oder den Nachweis von Kompetenz erbringen wollen, muss klar gesagt werden, was unter Untergang verstanden werden soll. „Dem Untergang entgegen“ bedeutet nicht, dass Europa untergehen wird. Europa als Kontinent wird nicht verschwinden, wenn nicht jemand den roten Knopf drückt. Aber in einem solchen Falle würde nicht nur der alte Kontinent von der Landkarte gelöscht.
Auch als Bevölkerung wird Europa nicht verschwinden. Wenn etwas zu verschwinden droht, dann sind es politische Ordnungen dieses in viele Nationen zersplitterten Kontinents, seien es einzelne Staaten wie das ehemalige Jugoslawien oder die Tschechoslowakei, seien es politische Zusammenschlüsse wie die Europäische Union. Viel wahrscheinlicher aber ist, dass sich die herrschenden politischen und gesellschaftlichen Vorstellungen der Europäer als überholt herausstellen werden.
Das politische Denken der Meinungsmacher in Europa ist immer weniger mit den Tatsachen in der Welt vereinbar, ist immer weniger den Veränderungen in der Welt gewachsen und kann immer weniger die Vorgänge in der Welt erklären und deuten. Deshalb kommt es immer häufiger zu falschen politischen Entscheidungen: Wunschdenken überlagert den Realitätssinn. Der Verfall der politischen und gesellschaftlichen Grundsätze scheint sich mit der Wahl von Trump beschleunigt zu haben. Was Jahrzehnte lang das Denken im politischen Westen bestimmt hatte, zerfällt: die Werteorientierung.
Sie hatte den Antikommunismus, der die ideologische Klammer der kapitalistischen Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg bildete, gegen Ende der 1970er Jahre abgelöst. Nach den Niederlagen der USA in Südostasien und dem Zerfall des portugiesischen Kolonialreichs in Afrika war deutlich geworden, dass der Sozialismus militärisch nicht zu besiegen war. Die Werteorientierung war in der Bekämpfung des Sozialismus erfolgreicher gewesen als die Kriege, und sie war billiger.
Unter Trump setzt nun eine Rückbesinnung auf die eigentlichen Aufgaben von Politik ein. Die neue amerikanische Administration stellt die Interessen wieder deutlich in den Vordergrund. Dass Trump die Wertepolitik zerschlägt, erfolgt nicht als durchdachte Handlung, als politische Strategie. Ihr gingen keine ausgewogenen Überlegungen und langwierigen Abwägungen voran. Sie ist vielmehr die impulsive Durchschlagung eines gordischen Knotens.
Trump wie ein Großteil der amerikanischen Bevölkerung hatten einfach die Nase voll von herrschender woker Doppelmoral und der Überbetonung von Befindlichkeiten. Politik sollte weniger die Sonderinteressen einzelner gesellschaftlicher Gruppen bedienen, als vielmehr den Interessen der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung. Das drückt sich aus in den Erklärungen Trumps und seiner Regierung, in denen der Kampf gegen die hohen Preise in den Vordergrund gerückt wird.
Abgesang
Der Wertepolitik droht das Aus, wenn Trump nicht nur eine vorübergehende Unterbrechung bisheriger Politik bleibt. Auch Werteorientierung war nichts anderes als Interessenpolitik, wenn auch nicht so offensichtlich. Der Abgesang auf sie geschieht ohne Ansage, anders als seinerzeit US-Präsident Jimmy Carter das Ende des militärischen Antikommunismus eingeleitet hatte. Der damaligen strategischen Neuausrichtung waren Diskussionen und schmerzliche Erkenntnisse über die erfolglosen Versuche vorausgegangen, den Sozialismus militärisch zu besiegen.
Solche strategischen Überlegungen sind in Zusammenhang mit Trump nicht erkennbar. Nur das Unbehagen in weiten Teilen der Bevölkerung war deutlich zu spüren. Denn die Politik der Werte schuf in ihrer Anwendung immer mehr Probleme – außenpolitisch wie auch in den eigenen Gesellschaften. Sie hatte westliche Politik mehr und mehr zu einer Gratwanderung gemacht mit zunehmender Widersprüchlichkeit und sich daraus ergebender Wirkungslosigkeit.
Nun hat Trump diesen Gordischen Knoten zerschlagen. Das ist zuerst ein Gewaltakt, kein Akt der Befreiung, der der Menschheit neue Horizonte der Entwicklung öffnet wie seinerzeit die Abschaffung der Sklaverei oder so manche Revolution und Unabhängigkeitserklärung. Dieser Akt ist der Versuch, einem angenommenen Vorrecht wieder mehr Geltung zu verschaffen, in dem Amerika für sich in Anspruch nimmt, die Welt nach den eigenen Vorstellungen gestalten zu können. Wer nicht nach der amerikanischen Pfeife tanzen will, dem wird mit der amerikanischen Zwangsmaßnahmen gedroht.
Ist Amerikas Außenhandelsbilanz schlecht, müssen die anderen Verzicht üben. Zölle sollen die Einnahmen der USA stärken und die Defizite beseitigen. Wer Zölle vermeiden will, soll sein Unternehmen in die Vereinigten Staaten verlegen oder mehr amerikanische Waren kaufen, beides zum Nutzen amerikanischer Unternehmen und Staatseinnahmen. Zwischen Freund und Feind macht Trump keine Unterschiede mehr. Sein Amerika kennt nur noch Feinde.
Nach seiner Sicht und der seiner Anhänger werden die USA von allen anderen Staaten benachteiligt oder unfair behandelt. Danach haben Europäer ebenso wie Chinesen amerikanische Arbeitsplätze gestohlen. Die Europäer haben es sich zudem Jahrzehnte lang auf Kosten der USA unter ihrem atomaren Schutzschild bequem gemacht. Sie haben für diesen Schutz zu wenig bezahlt und selbst zu wenig geleistet für ihre eigene Sicherheit. Jetzt sollen sich andere NATO-Partner stärker an den Kosten beteiligen. Dass amerikanische Rüstungsunternehmen prächtig auch an den Europäern verdient haben, sehen die Trumpisten nicht.
Den USA ist der Krieg in der Ukraine zu teuer. Trump ist nicht unbedingt ein friedliebender Mensch, was die Drohungen mit militärischer Gewalt gegen Grönland und Panama zeigt. Aber er denkt im Gegensatz zur Biden-Regierung und denen der meisten europäischen Staaten praktisch und vor allem ideologiefrei. Er will keinen Kreuzzug führen wegen irgendwelcher Werte. Er will den Krieg beenden, weil er ihm zu teuer ist und er für die USA keinen Vorteil bringt.
Dabei sind ihm die westlichen Werte egal, vor allem wenn sie ihm im Wege stehen und ihn daran hindern, die Staatskosten zu senken, die Defizite abzubauen und die Zinslasten zu mindern. Um all dies zu erreichen, scheut er sich nicht, mit Putin Deals abzuschließen. Selbst mit den Chinesen will er über die Reduzierung der Atomwaffenarsenale sprechen, denn all das stellt nur unnötige Kosten dar und birgt auch die Gefahr eines weiteren Weltkriegs in sich. Daran ist Trump nicht interessiert.
Nicht mehr westliche Werte und die Solidarität der Demokraten stehen für die neue US-Regierung an oberster Stelle, sondern der geldwerte Vorteile. Amerika soll wieder groß werden, nicht nur militärisch sondern auch finanziell und wirtschaftlich. Die Defizite müssen runter, die Preise ebenso. Dafür müssen die Kosten des Staates, die Staatsausgaben sinken, die Staatseinnahmen steigen und Arbeitsplätze für amerikanische Arbeiter geschaffen werden. Alles kommt auf den Prüfstand. Das ist der neue Ansatz, der sich ausrichtet an den Interessen der einfachen Leute, so wie Trump sie versteht.
Verblendung
All das trifft die Europäer unvorbereitet. Mit Zöllen hatten sie gerecht. So weit kennen sie Trump schon aus seiner ersten Regierungszeit, dass er seinen wirtschaftlichen Vorteil gegenüber Partnern, Verbündeten und auch Freunden sucht. Damit war man auch weitgehend einverstanden. Aber dass er sie fallen lässt und Verhandlungen mit Putin über ihren Kopf hinweg führen will, trifft sie zutiefst.
Denn bisher hatten sie sich trotz aller Differenzen, die auch mit der Biden-Regierung bestanden, immer als eine Wertegemeinschaft verstanden mit den USA und den anderen Partner des politischen Westens zusammen. Man sah sich in einer Kampfgemeinschaft gegen Autokraten und Demokratiefeinde. Nun scheint ein solcher Autokrat im eigenen Nest zu hocken, der sie schutzlos gegenüber Putin im Regen will stehen lassen, so wie er es bei der Ukraine bereits macht.
Getrieben von Angst, ohne amerikanischen Schutz dazustehen, willigten sie eilig in Trumps Forderungen nach stärkerer Beteiligung an den Kosten der NATO-Rüstung ein. Sie erklärten sich auch bereit, die Verteidigung des eigenen Kontinents selbst stärker zu finanzieren. Auch die Ukrainehilfe waren sie bereit, weitestgehend ohne die USA zu tragen, wenn ihnen nur eines erspart bliebe, Frieden mit Russland schließen zu müssen – aus einer Position der Schwäche.
Aber all die Zugeständnisse konnten den Führer der westlichen Welt nicht davon abbringen, Frieden und Neuanfang mit Russland zu suchen. Er ließ die Europäer nicht einmal an den Verhandlungen teilnehmen. So sehr wollten die ehemaligen Kolonialherren, die inzwischen keine Kolonien mehr haben und auch keine Herren mehr sind, sich nun doch nicht demütigen lassen. Wenn sie schon nicht über Krieg und Frieden mitentscheiden dürfen, dann ziehen sie es vor, selbst den Krieg fortzusetzen, den Krieg gegen Putin, aber nun auch noch den Krieg gegen Trump.
Bezeichnend für diesen Größenwahn und das weitgehende Fehlen realistischer Einschätzungen der eigenen Kräfte und Möglichkeiten ist das Verhalten der deutschen Parteien CDU und SPD. Noch vor einer Regierungsbildung wollen sie Schulden anhäufen, die sie vor den Wahlen als undenkbar abgetan hatten. Fast eine Billion Euro sollen unter Umgehung aller bisher gültigen Schuldenbegrenzungen als Sonderhaushalte beschlossen werden, besonders für die Aufrüstung der Bundeswehr. Aber auch die vernachlässigte Infrastruktur soll wieder auf Vordermann gebracht werden. Man will der Herausforderung aus den USA und China die Stirn bieten
Dem Beispiel der Deutschen folgend, sollen europaweit die Geldschleusen geöffnet werden, um aufzurüsten, damit man nicht Russland wehrlos gegenübersteht, jetzt wo die USA keinen Schutz mehr bieten wollen. Denn das gilt mittlerweile als gesicherte Erkenntnis, dass Putin nicht in Kiew Halt machen wird. Das gilt ebenso sicher wie die tödliche Wirkung der westlichen Sanktionen auf die russische Wirtschaft und die Tatsache, dass die Ukraine den Krieg gewinnen wird und Russland untergeht. Denn Russlands Soldaten finden an der Front zu Hauf den Tod, seine Raketen sollten schon im Sommer 2022 zur Neige gegangen sein und die russische Militärtechnik kann der westlichen nicht das Wasser reichen. Auf solche Selbsttäuschungen stützt sich europäischer Siegeswille.
Selbstüberschätzung
So verschulden sich nun die Europäer, als gäbe es kein Morgen mehr und als könnten sie mit Geld und gutem Willen alleine die eigenen Schwächen aus dem Weg räumen. Dabei übersehen sie, dass die Amerikaner unter Trump andere Wege gehen und die Verschuldung abbauen wollen. Diese scheinen inzwischen erkannt zu haben, dass höhere Schulden nicht höhere Sicherheit bringen. Sie bringen in erster Linie höhere Kosten für Waffensysteme. Wenn die Rüstungsetats wachsen, steigen auch die Preise für die Waffen. Aber es steigen auch die Kosten für die Schulden, die Zinsen.
Nun will auch Europa diesen Weg gehen, sich Sicherheit durch Schulden zu erkaufen. Aber es ist eine Illusion zu glauben, dass sie die politische Handlungsfähigkeit in Europa erhöhen. Zinsen müssen bedient werden und nagen als zusätzliche Kosten an den Staatshaushalten. Diese Erfahrung müssen die USA machen, die inzwischen fast eine Billion (Tausend Milliarden) Dollar allein an Zinsen zahlen und in diesem Jahr schon ein Haushaltsdefizit von fast zwei Billionen Dollar aufweisen. Das heißt, trotz hoher Kreditaufnahme fehlt es an Geld für die laufenden Staatsaufgaben.
Dabei verfügen die USA über bessere Möglichkeiten als die Europäer, sich an den Finanzmärkten zu verschulden. Sie bieten höhere Zinsen und finden damit mehr Geldgeber mit größeren Volumina. Aber ihnen beiden ist gemeinsam, dass die Leistungsfähigkeit ihrer Wirtschaft nicht ausreicht, um die Kosten von Staat und Gesellschaft zu erwirtschaften. Die Unternehmen des politischen Westens sind nicht mehr produktiv genug, um die notwendigen Milliarden für die Finanzierung der Staatsaufgaben zu erwirtschaften.
Darin aber unterscheiden sie sich vom großen politischen Rivalen China. Auch Peking hat seine Verschuldung angehoben. Aber trotz der aller westlichen Zölle und Sanktionen wächst die chinesische Wirtschaft. Die Welt kauft in China ein, denn China hat, was die Welt braucht, und das zu Preisen, die sich die Welt leisten kann. Dagegen wachsen die Defizite des politischen Westens im Handel mit China. Von den westlichen Werten werden die Menschen nicht satt. Aber wie glaubwürdig sind diese Werte noch, wenn sie selbst die westliche Führungsmacht darauf keinen Wert mehr legt?
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Rüdiger Rauls ist Reprofotograf und Buchautor. Er betreibt den Blog Politische Analyse.
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: John Duurkoop / shutterstock
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