
Ein Kommentar von Tilo Gräser.
Im vergangenen Jahr wurde großartig und offiziell der 75. Jahrestag der Verabschiedung des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gefeiert. Was wurden da nicht alles für Reden über die bundesdeutsche Demokratie und ihre Grundlagen gehalten. Immer wieder wurde auch daran erinnert, dass das Grundgesetz eine Antwort auf die vorherige, Weltkriege verursachende und Faschismus hervorbringende deutsche Politik war.
Welchen Wert dieser Ersatz einer deutschen Verfassung tatsächlich hat, zeigte sich nun ausgerechnet am 18. März 2025. An diesem geschichtsträchtigen Datum wurde von einer übergroßen Koalition aus Kriegstreibern, Demokratiefeinden und Wahllügnern ein historisches Schuldenpaket von möglicherweise über einer Billion Euro beschlossen – für „Verteidigung“, für Zivilschutz, für Nachrichtendienste, für weitere Waffen und militärische Unterstützung für die Ukraine sowie für „Klimaschutz“. Diejenigen, die dafür als Bundestagsabgeordnete ihre Stimme gaben, können nicht anders als im vorherigen Satz bezeichnet werden.
513 der Abgeordneten haben den Berichten nach dem entsprechenden Antrag von Union und SPD, vereinbart mit den Grünen, zugestimmt. Nur 207 Parlamentarier stimmten demnach mit Nein, darunter einige wenige aus dem Lager der ganz großen Koalition. SPD (207 Abgeordnete), CDU/CSU (196 Abgeordnete) und Grüne (117 Abgeordnete) kamen im bisherigen Bundestag gemeinsam auf 520 Stimmen.
Nun werden die Artikel 109, 115 und 143h des Grundgesetzes geändert. In den ersten beiden soll künftig stehen, dass Verteidigungsausgaben, Zivilschutz, Nachrichtendienste und Cybersicherheit ab einer Höhe von einem Prozent des nominalen Bruttoinlandsprodukts (BIP) von der Schuldenregel ausgenommen sind. Den Bundesländern wird ein höherer Verschuldungsspielraum bei der Haushaltsaufstellung eingeräumt, wonach die Kreditaufnahme für die Ländergesamtheit 0,35 Prozent des nominalen BIP betragen kann. Mit einem „Sondervermögen“ in Höhe von 500 Milliarden Euro, finanziert durch Kredite, soll in die Infrastruktur (etwa Schienen, Brücken, Straßen) investiert werden. Die Mittel können auch dafür verwendet werden, um das neu in Artikel 143h GG aufgenommene Ziel der „Klimaneutralität bis 2045“ zu erreichen. Am Freitag wird der Bundesrat über die Pläne abstimmen, der aber erwartungsgemäß zustimmen wird.
Diejenigen, die diesen Beschluss der Zweidrittel-Mehrheit des eigentlich abgewählten Bundestages einfädelten, haben damit nicht nur die Wahlergebnisse der vorgezogenen Bundestagswahl am 23. Februar dieses Jahres ignoriert. Hätte der neugewählte Bundestag über den Schuldenplan abstimmen müssen, wie es sich gehört hätte, hätten die Schuldenmacher keine sichere Mehrheit gehabt. Um die vor 15 Jahren ins Grundgesetz aufgenommene „Schuldenbremse“ wieder aufweichen zu können, hätte entweder die neue Fraktion der Linkspartei oder die der AfD zustimmen müssen. Das galt als zu unsicher, weshalb eine ganz große Koalition aus SPD, Union und Grünen das alte Parlament – formal noch entscheidungsbefugt – nun schnell noch entscheiden ließ. Das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe hatte zuvor mehrere Anträge verworfen, die Sondersitzung des alten Bundestags am Dienstag abzusagen oder den geplanten Beschluss des Finanzpakets zu verhindern. Auch Eilanträge gegen die Gestaltung des Gesetzgebungsverfahrens blieben erfolglos.
Umfaller für Kriegskredite
Noch nie wurde in der bundesdeutschen Geschichte eine so umfangreiche Schuldenaufnahme für staatliche Aufgaben beschlossen, heißt es. Das erfolgte am 18. März, dem Datum in der deutschen Geschichte, das für die Ausrufung der Mainzer Republik 1793 und die bürgerlich-revolutionären Barrikadenkämpfe 1848, aber auch für die erste und letzte „freie Wahl“ in der DDR 1990 steht. Was der Deutsche Bundestag sich an diesem Tag im Jahr 2025 leistete, dürfte eher zu den dunklen Kapiteln in der deutschen Geschichte gehören. Keiner der Abgeordneten, die den Billionen-Schulden zustimmten, wird für die Folgen zur Verantwortung gezogen werden. Ausbaden müssen es die Bürgerinnen und Bürger, die als Wählerinnen und Wähler einen knappen Monat zuvor die Schuldenmacher eigentlich abgewählt hatten – nicht mit dem Wahlbetrug der CDU rechnend, auch wenn solcher vom „Umfaller“ Friedrich Merz zu erwarten war.
Klar ist, dass die Schuldenbremse ein untaugliches Mittel ist, um Staatsfinanzen und Wirtschaft voranzubringen. "Die von der Schuldenbremse geforderten Haushaltskürzungen und der Verzicht auf staatliche Investitionen sind höchst unpopulär, führen zur politischen Spaltung und bürden der bereits angeschlagenen deutschen Wirtschaft erhebliche wirtschaftliche Kosten auf“, stellten unter anderem die beiden Wissenschaftler Mark Copelovitch und Daniel Ziblatt vom Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) in einer Analyse vor fast genau einem Jahr fest. Sie stelle „eine große Gefahr für die Demokratie“ dar „– nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa“, so die beiden Autoren. Die Schuldenbremse „schadet der Wirtschaft kurzfristig und verringert mittel- und langfristig die Aussichten auf Wirtschaftswachstum, weil sie die Kreditaufnahme begrenzt und die Regierung zu unpopulären Haushaltskürzungen zwingt“, schrieben sie wie auch andere Kritiker.
Doch nicht solche Erkenntnisse dürften die bisherigen Prediger der Schuldenbremse zum vermeintlichen Umdenken bewogen haben. Sie sind mit ihrer bisherigen Politik verantwortlich für die schlechte wirtschaftliche und finanzielle Lage des Landes, zu der auch sinkende Löhne, steigende Preise und wachsende Arbeitslosigkeit gehören, die nun angeblich mit dem neuen Schulden-Paket bekämpft werden soll. Zu den Ursachen gehört auch der Kriegs- und Sanktionskurs gegen Russland, das nun wieder als vermeintliche Gefahr herhalten musste für die neuen Kriegskredite. Würde es sich um die Erkenntnis handeln, dass die Schuldenbremse ein Fehler ist, dann müsste diese ganz aus dem Grundgesetz gestrichen werden. Doch darüber wurde nicht abgestimmt.
Der Ökonom Heiner Flassbeck, ein anderer Schuldenbremsen-Kritiker, äußerte sich vor wenigen Tagen im Onlinemagazin Telepolis kritisch zu dem nun beschlossenen Vorhaben der ganz großen Koalition. Er verwies darauf, dass das überraschende Ende der deutschen Schuldenbremse „mit sehr speziellen Aufgaben“ verbunden ist. Das 500-Milliarden-„Sondervermögen“ für Infrastruktur – hauptsächlich kriegswichtige – sei ein „Tiefbauförderungsprogramm, das über zehn Jahre laufen soll und mit 50 Milliarden Euro pro Jahr nur dann wirklich positive Effekte mit sich bringen wird, wenn es wirklich zusätzlich zu dem umgesetzt wird, was ohnehin geplant ist“.
„Der Rest geht weitgehend in die militärische Aufrüstung und hat nur sehr begrenzte Auswirkungen auf den Großteil der Wirtschaft, ganz abgesehen von der Tatsache, dass Investitionen in Rüstung vollkommen unproduktiv sind. Nur mit viel Fantasie kann man behaupten, es gebe positive technologische Spillovers, also Auswirkungen auf die allgemeine technologische Leistung einer Volkswirtschaft.“
Flassbeck machte auch darauf aufmerksam, dass die neue Bundesregierung „angesichts ihrer grundsätzlichen Ablehnung staatlicher Schulden alles tun wird, um im sogenannten konsumtiven Bereich zu sparen, also bei den Sozialausgaben, den Renten usw.“. CDU-Chef Friedrich Merz hatte als voraussichtlich nächster Kanzler auch schon Einsparungen als notwendig angekündigt. Flassbeck schrieb:
„Jede Art von Schuldenbremse ist bei dieser Arbeit des Staates kontraproduktiv. Die einzig sinnvolle Lösung ist folglich die komplette Abschaffung dieses bürokratischen Ungeheuers.“
Doch darum ging es wie gesagt nicht, sondern um „Kriegskredite“ mit „Klimasiegel“, wie es unter anderem Sahra Wagenknecht vom BSW in der Bundestagsdebatte klarstellte. Sie sprach von einer Absurdität, die deutlich mache, wie Politik in Deutschland heute funktioniere. „Es ist Ihnen völlig egal, was das für die Menschen in Deutschland bedeutet“, sagte sie an die Befürworter der Billionen-Schulden gewandt. Den „kriegsverrückten Grünen“ warf sie vor, dass Deutschland nun in die Ukraine-Verhandlungen hinein zusätzliche Waffen im Wert von drei Milliarden Euro an Kiew liefere. Damit werde vor dem Ende des Krieges noch einmal „maximal Öl ins Feuer“ gegossen und gehofft, dass Russland nicht reagiere. Und fügte hinzu: „Wenn doch, dann können Sie Ihre Klimaziele auf verstrahlten Ruinen weiterverfolgen.“ Und nicht die Linkspartei-Abgeordneten fielen mit Schildern „1914 wie 2025: NEIN zu Kriegskrediten“ auf, sondern die BSW-Abgeordneten hielten diese im Bundestag hoch.
Angebliche russische Bedrohung
Mit dem Beschluss vom Dienstag wird das Friedensgebot des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland ein weiteres Mal verramscht. Reihenweise begründeten Befürworter des Schuldenplans die vorgesehen Ausgaben vor allem für Rüstung und „Kriegstüchtigkeit“ mit der angeblichen russischen Gefahr. Für die gibt es nicht einen Beleg, wie selbst die US-Geheimdienste in ihrem Jahresbericht 2024 feststellten: Russland sei „mit ziemlicher Sicherheit nicht an einem direkten militärischen Konflikt mit den Streitkräften der USA und der NATO interessiert“, hieß es da.
Aber das schert jene wie Bundesverteidigungsminister Boris Pistorius (SPD) nicht, der im Bundestag erklärte „Bedrohungslage geht vor Kassenlage“. Und der behauptete: „Wer heute zögert, verleugnet die Realität.“ Pistorius stellte klar, wofür das Geld gedacht ist:
„Mehr Truppen, mehr Ausrüstung, schnellere Einsatzbereitschaft“, weil von Russland eine „unberechenbare Bedrohung“ ausgehe.
„Ohne Freiheit ist alles nichts“, rief der Unionsabgeordnete Florian Oßner und begründete so die Aufweichung von der Schuldenbremse für Verteidigung, die Aussage von Egon Bahr missbrauchend, dass ohne Frieden alles nichts sei. Die nun beschlossene Grundgesetzänderung zur Kreditaufnahme sei angesichts der aktuellen Weltlage erforderlich, erklärte CDU-Chef Merz in der Parlamentsdebatte. „Für eine solche Verschuldung lässt sich nur unter ganz bestimmten Umständen und unter ganz bestimmten Bedingungen überhaupt eine Rechtfertigung finden“, betonte der Unionsfraktionschef. Diese Umstände habe „vor allem“ der russische Präsident Wladimir Putin mit seinem Krieg in der Ukraine geliefert.
Das was da am Dienstag beschlossen wird hat nichts mit dem zu tun, was schon in der Präambel des Grundgesetzes als eine der Mahnungen aus der deutschen Vergangenheit festgehalten ist: Dass das „Deutsche Volk“ „von dem Willen beseelt“ sei, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Die ganz große Koalition unter Einschluss der einstigen Friedenspartei Die Grünen hat ein weiteres Mal missachtet, woran der frühere Bundespräsident Gustav Heinemann bei seiner Antrittsrede am 1. Juli 1969 erinnerte:
„Nicht der Krieg ist der Ernstfall, in dem der Mann sich zu bewähren habe, wie meine Generation in der kaiserlichen Zeit auf den Schulbänken unterwiesen wurde, sondern heute ist der Frieden der Ernstfall. Hinter dem Frieden gibt es keine Existenz mehr.“
Alte Ziele neu aufgelegt
Festgehalten werden muss: Es gibt gesellschaftlich gesehen keinen vernünftigen Grund für das größte Aufrüstungsprogramm der deutschen Geschichte. Es ist nur angetrieben von der anscheinend fixen Idee, dass Deutschland bis 2029 „kriegstüchtig“ sein soll, wie Pistorius 2023 verkündete. Was vom verkündeten Ziel, mit mehr Aufrüstung Russland „abschrecken“ zu müssen, zu halten ist, zeigt unter anderem eine Greenpeace-Studie vom November 2024. Dort heißt es mit Blick auf die politisch und medial beförderte Aufrüstungshysterie:
„Die militärischen Kapazitäten der Nato übertreffen die Russlands in nahezu allen Aspekten. Die NATO-Staaten geben etwa zehnmal mehr für ihre Verteidigung aus als Russland – 1,19 Billionen US-Dollar im Vergleich zu 127 Milliarden US-Dollar. Auch ohne die USA bleibt die Nato finanziell überlegen.“
Die Studie zeigt, dass die Grundgesetzänderung vom Dienstag absurd ist. Die beiden Autoren, die Friedensforscher Herbert Wulf und Christopher Steinmetz, stellen fest:
„Die Analyse der militärischen Kapazitäten der Nato und Russlands lässt keinen Zweifel an der allgemeinen militärischen Überlegenheit der Nato. Nur bei den Atomwaffen herrscht Parität zwischen beiden Seiten. Die Notwendigkeit, in Deutschland die Militärausgaben weiter und dauerhaft zu erhöhen und dabei – in logischer Konsequenz – andere essenzielle Bereich wie Soziales, Bildung oder ökologische Transformation nicht ausreichend zu finanzieren, lässt sich daraus nicht ableiten.“
Auf freitag.de stellt Sebastian Puschner fest, im beschlossenen Schuldenpaket verstecke sich die Hoffnung, das Land vor der Deindustrialisierung zu bewahren. Er warnt:
„Das ist ein gefährliches Unterfangen. Wehe, wenn das dann doch in einen großen Krieg mündet.“
Das ist es, worum es geht: Um Krieg gegen Russland, nicht um dessen „Abschreckung“, sondern um dessen Zerstörung als souveräner Staat und dessen Inbesitznahme. An den Interessen und Zielen der herrschenden Kreise des Westens und auch Deutschlands hat sich auch nach dem Ende des Kalten Krieges vor mehr als 30 Jahren nichts verändert. Es sind die gleichen wie vor 110 Jahren beim Ersten Weltkrieg und vor mehr als 80 Jahren beim Zweiten Weltkrieg. Das gehört zu den Ursachen für die Rückkehr zum antirussischen Konfrontationskurs und damit auch für den Beschluss des Bundestages am Dienstag. Dafür wurde im 80. Jahr des Sieges über den deutschen Faschismus auch das Friedensgebot des Grundgesetzes und dieses selbst ein weiteres Mal ausgehöhlt. Die Lektionen der Geschichte sind in Deutschland wie auch im Westen anscheinend bis heute nicht gelernt und begriffen worden.
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: Mo Photography Berlin / shutterstock
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