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Das durchstoßene Herz

Das durchstoßene Herz


Ein Meinungsbeitrag von Stefan Nold.

Ende der achtziger Jahre arbeitete ich als Ingenieur in der Entwicklung mikroelektronischer Anwendungen beim Pumpenhersteller KSB in Frankenthal. Im Nebenzimmer saß ein angehender Betriebswirt, der in einem Praxissemester das Controlling unseres jungen, aber etwas chaotischen Profitcenters auf Vordermann bringen sollte. (Wir machten alles außer Profit.)

Als ich ihm am Montagmorgen des 29. August 1988 im Flur auf dem Weg zur Kaffeemaschine begegnete, war an Arbeit nicht mehr zu denken. Am Tag zuvor war er mit einer Kollegin, einer hübschen jungen Frau aus der Zentralabteilung, bei einer Flugshow in der US Airbase in Ramstein gewesen. Als er während der Vorführung kurz seinen Platz verlassen hatte, passierte es. Eine italienische Kunstflugstaffel zeigte eine besonders spektakuläre Figur, das „durchstoßene Herz“. Als krönender Abschluss sollten dabei von einer Seite fünf, von der anderen Seite vier Düsenjäger aufeinander zu rasen. In dem Moment, in dem die neun Maschinen sich in geringem Höhenabstand kreuzten, sollte eine zehnte im rechten Winkel knapp unter ihnen hinweg donnern. Das ging schief. Drei Flugzeuge stießen in 50 Meter Höhe zusammen, 300 Meter von den Zuschauern entfernt. 70 Menschen starben, Hunderte erlitten schwerste Verbrennungen. Auch die Bekannte unseres Controllers hatte es schlimm erwischt; über Monate hinweg lag sie im Krankenhaus.

Der Mensch ist gerne mutig. Vor kurzem haben Generäle der Luftwaffe darüber diskutiert, wie man mit Taurus-Raketen aus deutscher Produktion die komplette Brücke zerstören könnte, die das russische Festland auf insgesamt 18 Kilometer mit der Krim verbindet. Letzte Woche hat ein Abgeordneter mit dem klangvollen Vornamen Roderich vorgeschlagen, die Ukraine solle in Moskau Ministerien angreifen. Was wird dann passieren? Wird Russland aufgeben? Es hat nicht nur ein großes Arsenal an Atomwaffen, sondern mit der Kinschal auch eine Hyperschallrakete, die mit 3,3 – 10 facher Schallgeschwindigkeit fliegt, bei einer Reichweite von bis zu 2.000 Kilometer. Sie soll noch in der Erprobungsphase sein, hat aber die ersten echten Einsätze hinter sich und dürfte nun laufend verbessert werden. Unsere Luftabwehr hatte im roten Meer schon mit langsamen Drohnen ihre Schwierigkeiten.

Größere Angriffe auf die Krimbrücke oder auf Moskau, die nur mit Hilfe der NATO realisierbar sind, werden Vergeltungsschläge nach sich ziehen, gerade auf Deutschland. Die Kommandozentrale der USA in Wiesbaden, der Frankfurter Flughafen, die Taurus-Fabrik in Schrobenhausen, in Büchel die Atomwaffenbasis und natürlich die US-Airbase in Ramstein, der größte US-Militärflugplatz in Europa, dürften zu den wichtigsten Zielen gehören. Das kostet nicht 70 Tote wie bei der Flugshow, sondern 700, 7.000 oder 70.000 – und Zehntausende Verletzte. Was plant die Bundesregierung? Sie will Bunker bauen. Das soll helfen. Ganz sicher!

An den letzten Krieg kann sich heute kaum jemand erinnern. Aber jeder kann sich die Doku der Flugzeugkatastrophe von Ramstein anschauen. [1] Da ist Roland Fuchs, der sich an dem Tag mit seiner jungen Familie unbedingt diese Show ansehen wollte, obwohl die fünfjährige Tochter wohl lieber an den Baggersee gefahren wäre. Uniformen, Hamburger auf dem Grill, Blaskapelle, Eis, gutes Wetter, Menschen, die erwartungsvoll auf der Wiese liegen, so war die Stimmung.

„Gefahren haben wir eigentlich keine gesehen. Wir hatten Vertrauen gehabt, dass nichts passieren kann ... wir haben das gar nicht hinterfragt … Als die letzte Flugstaffel, die italienische, gestartet ist, … da habe ich noch zu meiner Frau gesagt: Schau, die fliegen ein Herz. Und in dem Moment ist das passiert.“ (3:00-4:30) „Das Solo-Flugzeug, das da explodiert ist, ist wirklich direkt auf uns zu gekommen.“

Seine Frau wird von einem schweren Trümmerteil getroffen und ist sofort tot. Er selbst nimmt schwerverletzt seine Tochter auf den Arm:

„Die Kleider haben gebrannt, die Haut hat gebrannt… Ich hab versucht, das an mir oder am Boden auszubekommen. Dann ist jemand gekommen und hat sie mir weggenommen.“ (12:00-13:00)

Die Situation ist chaotisch. Mehrere Stunden lang irren die Armeebusse mit den unversorgten Schwerverletzten durch die Gegend. Major Flannery von der US-Army sagt am nächsten Tag bei einer Pressekonferenz: „Wir haben das sehr gut in den Griff gekriegt.“ (19:20) Christopher Söhnlein ist Krankenpfleger in dem Krankenhaus, in das die Tochter von Roland Fuchs abends eingeliefert wird.

„Anfangs hat man gedacht, sie wird das nicht überleben, dann kam 'ne Zeit wo man gesagt hat: Ja, das schafft sie und dann hat sie‘s doch nicht gepackt ... Warum nur so ein kleines unschuldiges Kind? Hat ausgesehen wie ein Engelchen.“ (16:50)

Söhnlein ist ein langer Kerl mit kahlem Kopf und großen braunen Augen, die feucht werden, wenn er über die Ereignisse von damals spricht. Noch immer plagen ihn Schuldgefühle, nicht mehr getan zu haben; dreißig Jahre später begibt er sich in Therapie, um seine Gefühle zu verarbeiten. Das US-Militär streitet bis heute jede Verantwortung für die Katastrophe ab, ebenso wie die Politik. Rupert Scholz, der Verteidigungsminister, der die Veranstaltung genehmigt hatte, zieht an seinem Zigarillo, pafft dunklen Qualm in die Luft und sagt:

„Menschliches Versagen, Pech, Unglück. Gehört leider zu unserem Leben.“ (1:00) „Ich war nicht verantwortlich, war nicht zuständig. Als deutscher Politiker kannst du dich nicht hinstellen und die Amerikaner kritisieren, öffentlich. Die Amerikaner haben nach ihren Regeln gehandelt, haben aus ihrem eigenen Recht heraus gehandelt“ (23:22) Luftwaffenexperte Erich Schmidt-Eenboom ist anderer Meinung: „Da ist man einfach sehenden Auges diese Gefahr eingegangen.“ (14:45)

Daraus lernen wir: Die Politiker und die Militärs, die vorher große Töne spucken, werden danach jede Verantwortung leugnen oder ihr Versagen mit salbungsvollen Worten verbrämen und weiter ihre dicke Pensionen kassieren. „Intelligenzbestien“ nennt der Volksmund solche Typen und trifft damit den Nagel auf den Kopf. Wenn Papst Franziskus Kiew auffordert, „Mut zur weißen Fahne zu haben“ [2] wird er von genau diesen Teufeln ohne Herz, ohne Empathie und ohne Verstand an den Pranger gestellt. Erinnert sich jemand an den letzten Präsidenten Afghanistans vor der Machtübernahme durch die Taliban? „Geberkonferenzen“ wurden abgehalten, am Ende ist der große Hoffnungsträger mit Koffern voller Dollars verduftet und ward nicht mehr gesehen.

Wenn 1 Ramstein (=1R) als Maßeinheit für Tod und Zerstörung nehmen, haben wir an der Front in der Ukraine jeden Tag etwa 10R, insgesamt nach über 2 Jahren Krieg über 7000 Ramstein. „Lasst, Vater, genug sein das grausame Spiel“, sagt die Königstochter in Schillers Ballade vom Taucher.

Als Jugendlicher habe ich das „Große Buch der Kreuzritter“ gelesen. Es enthält ein Bild des „heiligen“ Bernhard von Clairvaux, wie er aus dem Erker eines Hauses, ein großes Kreuz in der Hand, vor einer ihn anbetenden Menge predigt. Als er in Vezelay im Burgund vor einer riesigen Menge zum Kreuzzug ins Heilige Land aufruft, schreien seine Zuhörer: „Gib uns Kreuze! Gib uns Kreuze!“ Bernhard und seine Mönche reißen sich die schwarzen Kleider vom Leib, schneiden Kreuze daraus, die die Frauen auf die Mäntel ihrer Männer nähen und sie „willig in den Krieg ziehen lassen.“ [3] Die Propaganda der letzten Jahre hat es geschafft, im Ukraine-Konflikt auf beiden Seiten eine ähnliche Stimmung zu erzeugen wie damals bei den Kreuzrittern oder wie zu Beginn des ersten Weltkrieges in Europa. Die Gewissheit moralisch im Recht zu sein ist schon immer die Ursache für die grausamsten Kriege und die fürchterlichsten Verbrechen gewesen.

Der zweite Faktor für einen Krieg ist die Gewissheit, schnell als Sieger vom Platz zu gehen. In diese Falle sind in der Ukraine beide hinein getappt, zuerst Russland, dann der Westen. Eine rohstoffreiche Atommacht mit einer entschlossenen Bevölkerung kann man nicht besiegen, erst recht nicht mit Terroranschlägen. Sollen wir gegenseitig unsere Infrastruktur zerstören? Bislang hat sich Russland in der Ukraine auf die Anlagen beschränkt, die vorwiegend militärischen Nutzen haben. Das wird sich ändern, wenn mit westlicher Unterstützung zunehmend zivile Objekte im russischen Hinterland getroffen werden. Wenn die NATO Truppen in die Ukraine schickt, kommt es zum großen Krieg. Das hat Russland unmissverständlich klargemacht. Dann wird es auch uns treffen. Wenn zu der von uns gesprengten Rahmedetalbrücke auf der Sauerlandlinie noch 10 weitere Autobahn- und Eisenbahnbrücken durch Raketenangriffe zerstört werden, dazu noch einige große Talsperren, sind wir als Industrienation erledigt.

Wir müssen diesen Weg in die Selbstzerstörung verlassen. Das durchstoßene Herz von Ramstein darf nicht das Menetekel des durchstoßenen Herzens von Europa werden. Wir brauchen keine edlen Ritter; auch die vielen schrillen Moraltröten bringen uns nicht weiter. Wir brauchen nüchterne Realisten mit Mut, Herz und Verstand, die fest entschlossen zum Frieden sind. Wer wagt es? Los ihr Bürger! Auf geht‘s!

[1] SWR (26.10.2022) SWR Ramstein – Die Doku. https://ecomediatv.de/produktionen/swr-ramstein-die-doku/ In voller Länge: https://www.youtube.com/watch?v=kDwmKFfEU6g ECO Media TV Produktion: Hamburg.

[2] Meldung (9.3.2024) Bruni: „Der Papst ruft zum Mut zu Verhandlungen für die Ukraine auf“ Stellungnahme zu einem Interview des Papstes mit Lorenzo Buccella. Papst Franziskus: „Ich denke, dass der stärker ist, der die Situation erkennt, der an das Volk denkt und den Mut hat, die weiße Flagge zu schwenken und zu verhandeln.“ https://www.vaticannews.va/de/vatikan/news/2024-03/papst-franziskus-ukraine-verhandlungen-pressesprecher-erklaerung.html Vatican News: Città del Vaticano.

[3] Williams, Jay (1962) Deutsche Übersetzung: R. Vocke (1963) Das Große Buch der Kreuzritter, herausgegeben von Heinrich Pleticha, S. 61. Ensslin und Laiblin: Reutlingen.

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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bildquelle: Mayskyphoto / Shutterstock.com


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