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Christliche Doppelmoral

Christliche Doppelmoral

Wieder einmal wettert die Republik. Diesmal über ein „Ja“ des Kanzlers zur Abtreibung, über eine mögliche Verfassungsrichterin mit irgendwie „linksextremer“ Haltung – und wieder finden sich konservative bis reaktionäre Stimmen zusammen, um das große Schlagwort in die Welt zu setzen: Christlichkeit. Plötzlich ist sie wieder da, die moralische Empörung. Die deutsche Abtreibungsdebatte ist einzig von Doppelmoral, sozialem Staatsversagen und kapitalistischer Ignoranz durchzogen.

Ein Meinungsbeitrag von Sabiene Jahn.

Plötzlich ist sie wieder da, die moralische Empörung. Plötzlich spricht man von „Verfall“, von „Antichristentum“, von einem „Rückzug aus der Verantwortung fürs Leben“. Und wie so oft fällt der Blick dabei auf die CDU, die sich mit dem C im Namen zu brüsten weiß, als habe sie ein Monopol auf ethisches Bewusstsein. Aber Moment: Wo war diese vielbeschworene Christlichkeit eigentlich in den vergangenen Jahrzehnten? War sie dabei, als die CDU – zusammen mit SPD, FDP oder Grünen – Waffenlieferungen genehmigte, die im Jemen, in Gaza, in Syrien, in der Ukraine und anderswo nicht nur Männer, sondern auch Kinder zerrissen haben? War sie da, als Hartz IV Kindern Bildungswege verbaute? Als Sanktionen Menschen in Syrien und im Donbass den Zugang zu Arznei, medizinischen Geräten, Insulin, Strom und sauberem Trinkwasser raubten? War sie anwesend, als Kinderheime in Deutschland unterfinanziert, Eltern alleinerziehend verheizt, ganze Wohnsiedlungen gentrifiziert wurden?

Christlich? Dieses Land wurde längst entkernt. Nicht vom Islam. Nicht von Linken. Sondern von jenen, die „Werte“ predigen, aber Interessen exekutieren. Ein Kind ist kein Kostenfaktor – es ist ein Prüfstein für den Staat.

Ich halte die Strafbarkeit der Abtreibung seit Jahrzehnten für ein Relikt aus der klerikalen Mottenkiste. Ein Mahnmal autoritärer Vergangenheit. Und es ist bezeichnend, dass ausgerechnet in einem Land, das sich als modern, aufgeklärt und rechtsstaatlich versteht, immer noch mit der Androhung von Paragraphen auf einen der intimsten Lebensbereiche Einfluss genommen wird: den Körper einer Frau. Natürlich darf und soll über den Zeitpunkt diskutiert werden. Das geltende Limit – meist bis zur 12. Schwangerschaftswoche – ist ein Rahmen, in dem medizinische, psychologische und ethische Aspekte berücksichtigt werden können. Aber diese Debatte muss ehrlich sein. Und sie darf nicht dazu führen, dass man ausgerechnet den betroffenen Frauen wieder die Entscheidungshoheit entreißt.

In den ehemaligen Ostblockländern – und auch in der DDR – war es über viele Jahre völlig selbstverständlich, dass die Frau entscheidet. Nicht leichtfertig. Nicht emotionalisiert. Sondern rational, manchmal traurig, aber frei. Frei im Denken, frei im Körper, frei in der Entscheidung. Warum? Weil sie als erwachsene Person anerkannt wurde. Weil sie – nicht der Staat, nicht ein Kirchenrat, nicht eine ethnonationale Moralpolizei – diejenige ist, die einschätzen kann: Bin ich bereit? Habe ich die Kraft? Habe ich die Mittel? Ist da ein Partner, eine Familie, ein Umfeld, das trägt? Wer diese Freiheit beschneiden will, weil er sich in einer archaischen Vorstellung von „Lebensschutz“ gefällt, soll bitte zuerst erklären, warum so viele Kinder, die geboren werden, in Armut leben müssen. Warum ein so reiches Land wie Deutschland es nicht schafft, genügend Kita-Plätze, gebührenfreie Schulbildung, bezahlbaren Wohnraum oder verlässliche Betreuungszeiten bereitzustellen. Warum das dritte Kind in Familien oft als „Kostenfaktor“ betrachtet wird, für den es keine Entlastung gibt – weder durch Mietzuschuss noch durch Kreditnachlass.

Wo sind denn die „christlichen“ Strukturen, die Leben ermöglichen? Ein Blick in die Wirklichkeit genügt:

Eine alleinerziehende Mutter, die in einer Zweiraumwohnung lebt, weil sie sich trotz Vollzeitjob keine größere leisten kann. Ein junges Paar, das sich gegen ein Kind entscheidet, weil die Angst vor sozialem Abstieg realer ist als jede moralische Predigt. Kinder, die mit leerem Magen zur Schule gehen, weil das Geld hinten und vorne nicht reicht. Schwimmbäder, die schließen, weil Kommunen sparen. Theater, die unbezahlbar geworden sind. Und Schulbücher, für die man privat blechen muss. Und gleichzeitig ruft man aus Kirchen und Parteibüros: „Würdigt das Leben!“ – Ja, bitte. Aber dann vollständig. Nicht selektiv. Und nicht scheinheilig.

Der deutsche Staat versagt nicht nur in der Familienpolitik. Er versagt ebenso in der Prophylaxe, in der Gesundheitsvorsorge, in der Altenpflege, im Umgang mit Schwerstkranken, in der palliativen Begleitung und am Lebensende. Wer hält dieses System noch zusammen? Es sind nicht die Ministerien. Nicht die Parteien. Nicht die „christlichen“ oder was weiß ich von Leitfiguren mit Dienstwagen und steuerfinanzierten PR-Abteilungen. Es sind die Vereine, die Stiftungen, die Ehrenamtlichen – die Frauen am Krankenbett, die Männer in den Hospizen, die Jugendlichen im Freiwilligendienst, die Nachbarn, die eine Katze retten oder ein Kind versorgen, wenn der Staat längst die Augen geschlossen hat.

Diese Gesellschaft funktioniert dort, wo der Staat längst abgedankt hat. Und während Milliarden in Mordwerkzeuge investiert werden, weil Sponsoren ihre Rüstungsrenditen brauchen, weil Vorstandschefs Hubschrauberflüge bezahlt bekommen – werden Hebammenstellen gestrichen, Kliniken privatisiert, Altenpflegerinnen unter Mindestlohn gedrückt.

Ich erinnere mich gut an die Coronazeit, in der plötzlich ein Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit diskutiert wurde – unter umgekehrten Vorzeichen. Damals hieß es, die Solidarität mit dem Leben gebiete es, dass der Staat Regeln setze, Eingriffe anordne, Menschen sanktioniere, wenn sie sich nicht beugen. Heute wird das Argument gedreht. Plötzlich soll dieselbe Gesellschaft, die Menschen Impfpflichten aufzwingen wollte, der Frau das Recht absprechen, über eine Schwangerschaft zu entscheiden. Plötzlich heißt es: „Das ist Mord!“ – Was für ein Zynismus. Und was für ein Misstrauen gegenüber Frauen. Die Entscheidung für oder gegen ein Kind ist keine Nebensächlichkeit. Sie ist eine existentielle Zäsur. Und sie wird – das sei all den Moralisten gesagt – niemals leichtfertig getroffen. Aber sie muss möglich sein. Ohne Anklage. Ohne Stigma. Ohne Drohung. 

Ich mag weder Friedrich Merz noch diese gruselige Richterin in spe, die gerade im Fokus steht – aber was ich noch weniger ertrage, ist die Doppelmoral, die mittlerweile auch in konservativen, alternativ-patriotischen und libertären Kreisen grassiert. Da wird das Spiel „Was war zuerst da – das Huhn oder das Ei?“ so ins Absurde verdreht, dass am Ende nur noch Schuldzuweisungen übrigbleiben – statt Lösungen. Mal ist der Staat zu übergriffig, mal nicht streng genug. Mal wird der freie Wille beschworen, dann wieder verteufelt. Mal ist es ein Skandal, wenn der Staat Leben antastet – und dann wieder ein Skandal, wenn er es der Frau überlässt. Diese Schizophrenie ist keine Ethik. Sie ist ideologisches Gewurstel ohne Verantwortung.

Was zählt, ist die Wahrheit in Zahlen – und der politische Wille. Darum, bitte: Nennt sie nicht christlich. Nennt sie, wie sie ist: Eine Union ohne Empathie. Eine Politik ohne Fürsorge. Und ein Diskurs, der mit Gottesfurcht wedelt, aber mit kalter Hand über Körper und Leben entscheidet. Humanismus wäre ein Anfang – aber er bleibt zahnlos, wenn er nicht mit handfesten Mitteln unterfüttert wird. Es geht längst nicht mehr nur um Haltung. Es geht um Strukturen. Es geht um Geld. Und es geht um Gerechtigkeit. Wer Leben wirklich schützen will, muss massiv investieren: In Familienförderung. In soziale Absicherung. In kostenfreie Bildung. In wohnortnahe Versorgung. In Kunst, Musik, Sport. In gesunde Ernährung. In bezahlbare Wohnungen. In Zeit für Mütter. In Chancen für Kinder. Und in eine Gesellschaft, in der es nicht von der Steuerklasse abhängt, ob ein Kind willkommen ist oder nicht.

Ungarn wird im europäischen Westen gern als rückständig diffamiert – doch Viktor Orbán hat eines begriffen: Ein demografisches Problem löst man nicht mit moralischer Besserwisserei, sondern mit konkreten, tragfähigen Maßnahmen. Ein freier Tag für Mütter. Prämien für Geburten. Staatliche Kredite oder Steuern (lebenslang), die erlassen werden, wenn eine Familie wächst. Musikschulen, Sportvereine und Kultureinrichtungen, die nichts kosten. Und ein Staat, der nicht wegschaut, sondern mitträgt. Schaut gern auch einmal nach Russland – es lebt soziale Verantwortung, Förderung und Schutz von Kindern vor.

Ist das wirklich so schwer zu verstehen? Für kapitalistische Systeme offenbar ja. Für eine Politik, die alles dem Profit unterordnet, ist das Kind kein Lebenswert, sondern ein Kostenfaktor. Für jene, die sich an Renditen, Börsenwerten und Wachstumskurven orientieren, sind Familien nur dann „förderwürdig“, wenn sie Steuern zahlen oder konsumieren. Und das ist die eigentliche Unmoral unserer Zeit. Es ist dumm – und es ist dreist –, Frauen und Kindern jene Möglichkeiten zu verwehren, die für eine stabile, humane Gesellschaft nötig wären. Und es ist eine Lüge, seit Jahrzehnten gepflegt und zementiert: Dass sich alles regelt, wenn der Markt nur frei genug ist. Nein – das tut er nicht. Er produziert Ausschluss, Not und Konkurrenz. Und genau darum: Hört auf, Euch in die eigene Tasche zu lügen.

Wer von Lebensschutz redet, muss zuerst den Schutz des Lebens finanzieren. Wer von Christlichkeit spricht, soll Verantwortung übernehmen. Und wer wirklich Politik für Menschen machen will – der muss aufhören, über Moral zu reden, und endlich anfangen, Gerechtigkeit zu schaffen. Mit Taten. Mit Mitteln. Und mit einem neuen Verständnis von Staat, das nicht belohnt, wer verwertet – sondern schützt, wer lebt.

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Wir danken der Autorin für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bild: schwangere Frau vor Fenster
Bildquelle: Titikul_B / shutterstock


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