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Brückensprengung in Russland: Alles Terror oder was? | Von Paul Clemente

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Ein Kommentar von Paul Clemente.

Eine höchst bizarre Geschichte: Innerhalb weniger Stunden stürzten drei Brücken in russischen Grenzregionen ein. Jeweils infolge einer Sprengung. Das russische Ermittlerkomitee hatte eine naheliegende Deutung parat: Terroristische Anschläge. Okay, wäre nicht das erste mal, dass die Ukraine solche Bahn-Attentate verübt. Schließlich will man russische Truppen- und Waffentransporte ins Kriegsgebiet verhindern. Manch einer spekulierte über den Zeitpunkt der Sprengungen: Das Ganze wirke wie eine orchestrierte Sabotage der Istanbuler Friedensgespräche. Die sind nämlich für heute, Montag, angesetzt. Tatsächlich stand eine Zusage der Ukraine zum Zeitpunkt der Explosionen noch aus. Aber dann kam alles ganz anders… Beginnen wir mit der Nacht zum Sonntag. 

Die erste Katastrophe ereignete sich in der westrussischen Region Brjansk. Entfernung von der ukrainischen Grenze: 80 Kilometer. Das russische Bahn-Unternehmen meldete einen „illegalen Eingriff in den Transportverkehr.“ Eine harmlose Formulierung, denn dort wurde – angeblich - eine Autobahnbrücke hochgejagt. Die befand sich direkt über den Bahngleisen. Ein Lastwagen stürzte herab, ein Personenzug entgleiste. Alexander Bogomas, Gouverneur  der Region, schrieb auf Telegram: „Leider gibt es Opfer. Die Brücke wurde gesprengt, während der Zug von Klimowo nach Moskau mit 388 Passagieren an Bord die Stelle passierte." Sieben Menschen starben, 69 wurden verletzt. Unter den Verletzten befanden sich drei Kinder.

Wenige Stunden später kam es zum zweiten Einsturz einer Brücke. Ort des Geschehens: Die russische Grenzregion Kursk. Alexander Chinschtein, Gouverneur der Bezirks Schelesnogorsk, erklärte auf Telegram: Die Brücke sei eingestürzt, „als eine Güterlokomotive darüber fuhr". Ein Teil des Zugs „stürzte auf die Straße, die sich unter der Brücke befand. Eine Diesellokomotive fing Feuer.“ Der am Bein verletzte Lokomotivführer und weiteres Zugpersonal lägen im Krankenhaus. Tote gab es keine. Zur Erinnerung: Bereits im vergangenen August hatte die ukrainische Armee eine Brücke in Kursk zerstört. Damals jubelte deren Luftwaffenkommandeur Mykola Oleschtschuk auf Telegram: „Eine weitere Brücke weniger. Die Luftwaffe beraubt den Feind weiterhin mit präzisen Luftangriffen seiner logistischen Fähigkeiten.“

Kurz nach Einsturz der zweiten Brücke bestätigte das russische Ermittlungskomitee ebenfalls den Verdacht einer Sprengung. Laut der Nachrichtenagentur RIA lautete die Einstufung: Terroristischer Akt.   

Aber damit nicht genug. Dritter Tatort: Die ukrainische Region Saporischschja, nahe der Siedlung Jakymiwka. Teilweise von Russen kontrolliert, zählt diese Region zählt zu den wichtigsten Verkehrsadern von Putins Armee. Dort sorgte eine weitere Brückenexplosion für die Entgleisung eines russischen Militärzuges.  Außerdem ist damit eine wichtige logistische Verbindung  zur Krim unterbrochen. Laut der Nachrichtenagentur Interfax kam das russische Ermittlungskomitee erneut zum Resultat: Terrorakt.

Nach Angaben des Kremls habe Putin zeitnah mit dem Chef der russischen Eisenbahn und Gouverneur Bogomas telefoniert. Auch eine  „Such- und Abfangaktion“ durch die Armee sei gestartet worden. Patrouillen der Nationalgarde durchsuchten nahe gelegene Siedlungen und an Kontrollpunkten.

Es war vor allem der Zeitpunkt der Anschläge, der aufhorchen ließ: Wollte man damit die Istanbuler Friedensgespräche zwischen Russland und Ukraine ausbremsen? Wladimir Dschabarow, Vize-Chef des Auswärtigen Ausschusses, schien davon überzeugt: „Natürlich ist das alles zeitlich so abgestimmt.“ Die Ukraine wolle Russland provozieren, „damit wir uns weigern, diese Gespräche zu führen, die die Ukraine ganz sicher nicht will. Denn die Ukraine will keinen Frieden – die Ukraine will Krieg.“

Der Gouverneur von  Brjansk forderte laut der russischen Agentur Tass eine Präventionsmaßnahme: „Die Brückensprengung und die Entgleisung des Personenzugs in der Region Brjansk zeigen, dass die Ukraine von einer Gruppe von Terroristen regiert wird.“ Seine Empfehlung: „Wir sollten darauf reagieren, indem wir eine Pufferzone einrichten, die groß genug ist, um jegliches Eindringen von Terroristen in unser Land zu verhindern.“ Freilich dürfte klar sein, dass die Schaffung einer solchen „Pufferzone“ nur mit kriegerischen Mitteln möglich ist. Auch der russische Parlamentspolitiker Andrej Klischas nutzte die Vorfälle zur Degradierung des Gegners: Der Vorfall zeige, dass „die Ukraine längst die Attribute eines Staates verloren und sich in eine terroristische Enklave verwandelt hat"

Nicht weniger übellaunig reagierte Andrej Kartapolow, der Leiter des Verteidigungsausschusses der Staatsduma: „Dies wurde definitiv von ukrainischen Saboteuren oder in deren Auftrag getan.“

Westliche Medien wiesen darauf hin, dass die russischen Politiker und Ermittler bislang keinen Beweis für einen ukrainischen Anschlag vorlegt hätten. Das ist richtig. Anderseits geben sie durchaus zu, dass die Ukraine seit Kriegsbeginn mehrfach Anschläge auf russische Eisenbahnlinien verübt habe. Kiew selbst hat sie mit den Waffen- und Truppentransporten  der Bahn begründet. Außerdem: Wenn  die drei Anschläge nicht von der Ukraine verübt wurden, weshalb hat die Kiewer Regierung sich nicht postwendend distanziert? Bislang jedoch haben sich weder Putin noch Selensky zu den Anschlägen geäußert.

Am Sonntagnachmittag dann der Hammer: Die ukrainische Nachrichtenseite 112ua meldete: Das russische Ermittlungskomitee habe die Anschlagstheorie inzwischen von seiner Webseite gelöscht:

„In der neuen Mitteilung des Untersuchungsausschusses wird jedoch nur noch vom dem 'Einsturz' der Brücke in Brjansk und ,Beschädigung' der Brücke in Kursk gesprochen, von der der Zug gefallen ist. Die neue Version enthält keine Erwähnungen von Sprengungen.“ Der Autor des Artikels spekulierte über eine mögliche Kursänderung der Ermittler, muss aber zugeben: „Die genauen Gründe für diesen Schritt bleiben unbekannt.“

Wie auch immer. Am frühen Abend publizierte Selenkyj  die Entscheidung, dass die Ukraine an der heutigen Friedenskonferenz in Istanbul teilnehmen will. Die ukrainische Delegation werde von Verteidigungsminister Rustem Umerow angeführt. Weder die Brückensprengungen noch die russischen Drohnenangriffe am Wochenende schienen das zu verhindern. Es war eine Last-minute-Zusage. Bereits am Mittwoch hatte Russlands Außenminister Sergej Lawrow für Montag die Präsentation eines Memorandums angekündigt. Das soll die russische Position zu „allen Aspekten einer zuverlässigen Überwindung der Grundursachen der Krise“ beinhalten. Dann, am späten Sonntagabend: Doch eine Wortmeldung von Putin. Nur - kein Wort über die zerstörten Brücken. Stattdessen über gestrige Angriffe auf russische Flugplätze. Mit dieser Attacke, unter dem Decknamen „Aktion Spinnennetz“ durchgeführt, habe die Ukraine „deutlich gemacht, dass eine friedliche Lösung nicht möglich ist.“ Putin droht, es werde nun „keine roten Linien mehr geben“. Völlig unklar, was das für die Friedensverhandlung bedeutet. Es bleibt spannend. Leider.

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bildquelle: Oleksandr Polonskyi/ shutterstock 


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