Das Manko der Vernunft: Objektiv benötigen Russland und Europa einander, doch strategische Interessen von außen haben den eurasischen Raum gespalten. Der ungarische Publizist Gábor Stier warnt: Die neue europäische Elite lässt sich zum Gefangenen des Ukraine-Konflikts machen – und wiederholt damit auf gespenstische Weise die fatalen Fehler von 1914.
Ein Standpunkt von Gábor Stier – aus dem Ungarischen übersetzt von Éva Péli.
Die europäische Lage vor dem Ersten Weltkrieg wird oft mit der paradoxen Formel beschrieben, dass niemand einen Krieg wollte, er aber unvermeidlich war. In Wahrheit gab es keine so unüberbrückbaren, unlösbaren Gegensätze zwischen den europäischen Ländern, die eine Zerstörung des Kontinents gerechtfertigt hätten. Erst jetzt beginnen wir zu verstehen, was damals auf dem Spiel stand.
Heute herrscht ein scheinbar unüberbrückbarer Gegensatz zwischen Russland und Europa. Dies geschieht, obwohl zwischen diesen beiden Polen des eurasischen Raumes objektiv keine systemischen wirtschaftlichen oder geopolitischen Konflikte bestehen. Im Gegenteil: Logisch betrachtet sind sie aufeinander angewiesen. Wenn sie zusammenarbeiten, stärkt das beide, während sie durch eine Konfrontation geschwächt werden. Der Export stand nicht in Konkurrenz zueinander, die Transportlogistik war überschaubar, und entgegen der aktuellen Kommunikation des europäischen Mainstreams war die Abhängigkeit offensichtlich gegenseitig. Russland war ein wichtiger Markt für europäische Produkte und Investoren, während Europa zum Abnehmer für russisches Öl und Gas wurde.
Diese pragmatische Beziehung, die bereits zu Sowjetzeiten funktionierte und während der deutschen Ostpolitik durch den Bau von Pipelines aufblühte, wurde nach dem Ende des Kalten Krieges durch einen Boom europäischer Investitionen ergänzt, während Menschen aus Russland in europäischen Ferienorten Urlaub machten und Geld ausgaben.
Geopolitische Strategie: Wie die USA Eurasien spalten
Diese Kooperation war so vorteilhaft, dass die Vereinigten Staaten jahrzehntelang daran arbeiteten, den eurasischen geopolitischen Raum zu spalten, um die Verbindung von europäischer Technologie und Investitionen mit russischen Ressourcen und Energie zu verhindern.
Denn dies war das strategische Interesse der Vereinigten Staaten. Wie Halford Mackinder (britischer Geograph, 1861-1947), der die Erdkugel in ein hierarchisches System konzentrischer Kreise unterteilte, formulierte: Wer Osteuropa beherrscht, beherrscht das Herzland (Heartland) – das Gebiet von der Wolga bis zum Jangtse und vom Himalaya bis zur Arktis; wer das Herzland beherrscht, beherrscht die Weltinsel, und wer die Weltinsel beherrscht, beherrscht die Welt.
Er war der Ansicht, dass die Hauptaufgabe der angelsächsischen Geopolitik darin bestehen müsse, die Bildung einer strategischen kontinentalen Allianz entlang der „geografischen Achse der Geschichte“ zu verhindern. Die Strategie der Kräfte des „äußeren oder insularen Halbmonds“ – USA, Großbritannien und Australien – müsse daher darin bestehen, so viele Küstengebiete wie möglich vom Herzland abzutrennen und sie unter den Einfluss der „insularen Zivilisation“ zu bringen.
Eine zentrale Rolle kommt hierbei dem „inneren oder marginalen Halbmond“ (Rimland) zu, der zwischen den beiden genannten Gebieten liegt. Wie der niederländischstämmige US-Amerikaner Nicholas Spykman bereits formulierte, beherrscht, wer diesen Randstreifen kontrolliert, ganz Eurasien.
Fügt man dem noch die These des US-Geostrategen Zbigniew Brzeziński hinzu, dass die Ukraine ein essentieller Teil des Westens ist und Russland ohne sie seinen Großmachtstatus verliert, wird ersichtlich: Um uns herum vollzieht sich eine umfassende geopolitische Neuordnung, in deren Frontlinie nun die Ukraine, die ständig als Pufferstaat zwischen die Lager geriet, steht.
Schließen wir diesen theoretischen Exkurs damit ab, dass die Bruchlinie zwischen den beiden Polen des eurasischen Raumes im Kalten Krieg am westlichen Rand Mitteleuropas verlief. Nach dem Zerfall der Sowjetunion änderte sich dies durch die NATO-Erweiterung nur insofern, als sie an die Ostgrenze der Region verlegt wurde. Heute verläuft diese blutige Bruchlinie weiter nach Osten verschoben durch die Ukraine.
Die neue Elite: Souveränitätsverlust und Eskalationslogik
Die führenden Politiker Europas achteten bis zur Generation von Angela Merkel darauf, dass das strategische Interesse der USA, die Spaltung des eurasischen geopolitischen Raumes, nicht vollständig verwirklicht wurde. Obwohl sie von Washington abhängig waren, verteidigten sie so gut es ging die vor allem wirtschaftlichen Interessen ihrer Länder. Sie achteten auch darauf, dass die sich erneut entwickelnde Konfrontation zwischen Ost und West keinesfalls in einen großen Krieg münden konnte.
Mit dem Niedergang der US-Hegemonie und der damit verbundenen Schwächung des westlichen Einflusses hat sich die Konfrontation weiter zugespitzt. Die neue europäische Elite verliert zusehends auch den Rest ihrer souveränen Denkweise. Statt angesichts der Gefahr eines möglichen Weltkriegs zurückzuweichen, hat sie sich zur Gefangenen des Ukraine-Konflikts gemacht. Allmählich wird Europa nicht nur für sich selbst, sondern auch für die Sicherheit des gesamten eurasischen Raumes zu einer Gefahr.
Hier stehen wir heute: Die Beziehungen zwischen Moskau und Washington konsolidieren sich, aber die Konfrontation zwischen der EU und Russland verhärtet sich zusehends. Die EU formt ihre Sicherheit in Abgrenzung zu Russland. Moskau reagiert auf diesen Amoklauf mit verärgerter Empörung und schwächt das zum Rivalen gewordene Europa, wo es nur geht. Obwohl die Strategie des europäischen Mainstreams darauf aufbaut, will Russland Europa nicht angreifen, rüstet jedoch für jeden möglichen Fall.
Wo ist die Ostpolitik oder gar die pragmatische Zusammenarbeit der 2000er Jahre geblieben? Die politische Logik zeigt in die entgegengesetzte Richtung.
Wieder trennt ein Eiserner Vorhang Europa von Russland, und jeder Schritt wird zur Reaktion auf den vorherigen. Sanktionen rufen ähnliche Antworten hervor, die Aufrüstung beschleunigt sich auf beiden Seiten. Die Rhetorik des europäischen Mainstreams wird immer militanter und antirussischer. Auf harte Aussagen folgt natürlich sofort oft eine noch härtere Antwort.
Wie formulierte es neulich der Patriarch der russischen Sicherheitspolitik-Experten, Sergej Karaganow?: Europa verfällt, und wir benötigen kein europäisches Sicherheitssystem mehr. Russland denkt und handelt innerhalb eines eurasischen Systems; in diesem Bild ist Europa lediglich ein unangenehmer westlicher Auswuchs Eurasiens.
Die Parteien interpretieren heute jede Entspannung als Schwäche, jeden Kompromiss als Kapitulation. Der Mechanismus läuft durch Trägheit, und jeder hofft, dass der andere zusammenbricht. Aber die Kosten steigen für alle gleichzeitig. Energieintensive Industrien schließen in Europa.
Warnsignale: Parallelen zu 1914 und der Preis des Friedens
Die Konfrontation hat kein erkennbares Ende. Die Türen schließen sich, es gibt keine Ausstiegsstrategie. Jeder rechnet damit, dass die Gegenseite zuerst erschöpft ist.
Die Logik der Eskalation nährt sich selbst. Auch jetzt will niemand einen NATO-Russland-Krieg, aber ein einziger Funke – siehe Attentat von Sarajevo – genügt, und alle ziehen begeistert los, um zu morden. Auf den Schlachthof. Für eine Weile. Die Hysterie reißt schon jetzt viele mit. Niemand will einen Krieg, aber jeder ist gezwungen, ihn zu unterstützen – wer sich dieser verrückten Reihe nicht anschließt, wird vom Mainstream als russlandfreundlich abgestempelt und ausgegrenzt –, weil die Alternative wie ein Eingeständnis der Niederlage erscheinen würde.
Und dann haben wir noch nicht darüber gesprochen, dass Krieg ein gutes Mittel für vieles ist, viele Probleme verdeckt und bestimmten Kreisen sogar einen hohen Gewinn einbringt. Denn der Krieg ist unter anderem ein Instrument, um die von der breiten Masse geschaffenen Güter in die Taschen eines engen Kreises umzupumpen. Wenn die „Geldwechsler“ das Gefühl haben, dass die Pumpe mit herkömmlichen Methoden zu wenig liefert, starten sie die Blutpumpe. Und natürlich gibt es auch Situationen, in denen die Großmächte die aufgestauten Spannungen bewusst durch Krieg lösen wollen. Natürlich nicht durch einen großen Krieg.
Genau dasselbe geschah in Europa vor 1914. Individuelle Entscheidungen führten zu einer kollektiven Katastrophe. Niemand strebte einen Krieg an, doch jeder Schritt führte genau dorthin.
Der damalige ungarische Ministerpräsident István Tisza sah dies als Realpolitiker und versuchte bis zum letzten Moment, den Ausbruch des Großen Krieges zu verhindern. Er war das einzige Mitglied des siebenköpfigen Entscheidungsgremiums der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, das gegen die Kriegserklärung an Serbien war. Er konnte den Konflikt um zwei Wochen verzögern.
Der derzeitige ungarische Regierungschef warnte als Realpolitiker ebenfalls bereits vor dem Ukraine-Krieg vor der Gefahr und drängt seit dessen Ausbruch auf den Friedensschluss. Im Gegenzug grenzt ihn der europäische Mainstream aus, nimmt seine Meinung nicht zur Kenntnis und setzt alles daran, ihn bei den Wahlen im kommenden Frühjahr zu stürzen.
Es wiederholt sich auf gespenstische Weise all das, was 2016 geschah, als Viktor Orbán im Zusammenhang mit der Migrationskrise ebenfalls gegen die europäische Elite antrat. Er wurde verdammt, doch heute wird bereits anerkannt – wenn auch nicht offen –, dass er recht hatte. Aber jetzt ist es zu spät. Europa geht langsam in einem Meer von Migranten verloren. Der Krieg an der Peripherie der EU könnte der nächste Nagel im Sarg der immer militanter werdenden Europäischen Union sein. Europa ist zur Geisel des Konflikts geworden.
István Tisza wurde 1918 ermordet. Orbán will man „nur“ zum Schweigen bringen und stürzen. Anstatt über das nachzudenken, was er sagt. Denn wenn die aktuellen europäischen Verantwortlichen die Lektionen von 1914 vergessen haben, verdammen sie den Kontinent dazu, die Katastrophe zu wiederholen.
Quellen und Anmerkungen
Gábor Stier (geb. 1961) ist ein ungarischer Journalist und Analytiker mit dem Spezialgebiet Außenpolitik und postsowjetischer Raum. Er ist Fachjournalist der Wochenzeitschrift Demokrata, war langjähriger Moskau-Korrespondent der Magyar Nemzet und ist Gründungschefredakteur des Fachportals #moszkvater. Er gilt als Experte für geopolitische Entwicklungen in der Region.
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bild: Denkmal von Istvan Tisza (früherer ungarischer Ministerpräsident zu Zeiten Österreich-Ungarns) in Budapest
Bildquelle: UnaPhoto.com / shutterstock
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