
Ein Duell vor den Wahlen 2026
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán, ein politischer Vollblutkämpfer, hat angesichts der schwindenden Popularität seiner Partei, der Fidesz, den Fehdehandschuh angenommen. Entgegen seiner Gewohnheit gibt er nun eine Reihe von Interviews, startete – wenngleich spät – eine digitale Community-Initiative und begleitete dies alles mit einer Welle von Sozialmaßnahmen. Damit hat er zu Beginn der Herbstsaison die Deutungshoheit in der öffentlichen Debatte zurückgewonnen. Der Abwärtstrend der Regierungspartei scheint gestoppt, während die Popularität der oppositionellen Tisza-Partei ihren Zenit erreicht zu haben scheint. Für die Parlamentswahlen im Frühjahr 2026 zeichnet sich ein seit Langem nicht gesehener, erbitterter Kampf um den Sieg ab.
Ein Standpunkt von Gábor Stier, aus dem Ungarischen übersetzt von Éva Péli.
Die Risse im System: Aufstieg Péter Magyars
Seit dem schockierenden Begnadigungs-Skandal vom Februar 2024 hat die ungarische Regierungspartei ihren Halt verloren. Die Begnadigung eines wegen Beihilfe zur Vertuschung pädophiler Verbrechen verurteilten stellvertretenden Kinderheimdirektors führte zum Rücktritt von Staatspräsidentin Katalin Novák und zum Rückzug der Justizministerin Judit Varga. Doch dies besänftigte die Gemüter nicht; die Aura der Unverwundbarkeit von Orbáns Partei war zerstört.
Aus diesem Vakuum heraus trat Péter Magyar auf die Bühne. Angetrieben von Rache und Machtgier – und ehemals als Orbán-Verehrer im zweiten Glied der Fidesz aktiv – nutzte der narzisstisch veranlagte Ex-Ehemann Varga's die Gunst der Stunde. Er positionierte sich als „Aufdecker“, veröffentlichte heimlich mitgeschnittene private Gespräche mit seiner Frau, kaufte kurzfristig eine Kleinpartei und konnte bei den Europawahlen 1,3 Millionen Stimmen auf sich vereinen, während Fidesz etwas mehr als zwei Millionen erhielt.
Die Glaswand des Nationalen Kooperationssystems (NER) der Fidesz hatte einen Riss bekommen. Lange war fraglich, ob Viktor Orbán diesen Bruch kitten kann. Die Partei zeigt zunehmend die Ermüdungserscheinungen der Regierungszeit seit 2010 mit Verfassungsmehrheit: Korruption und der hemmungslose Luxus-Lebensstil prominenter NER-Akteure. Obwohl diese Missstände nicht neu sind, wirken sie seit dem Skandal in einem anderen Licht. Der bekannte ungarische Analytiker Péter Tölgyessy weist darauf hin, dass die Wahrnehmung von Korruption stärker wiegt, weil die Fidesz sich im anhaltenden Abwärtstrend befindet, Orbán das ungeschriebene Verbot der offensichtlichen Bereicherung politischer Führer missachtet hat und die anhaltende Wirtschaftsstagnation sowie die Inflation, die zwar von 25 Prozent (2023) auf unter 5 Prozent gesunken ist (aber bei Lebensmitteln noch spürbar hoch ist), das Land zusehends auszehren.
Strukturelle Bremsfaktoren: Dämpfer für Ungarns Wirtschaftswachstum
Die ungarische Wirtschaft verzeichnete im zweiten Quartal 2025 kaum Wachstum: Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) stieg nur um magere 0,1 bis 0,2 Prozent und entging einer technischen Rezession nur knapp. Während Baugewerbe, Konsum und Dienstleistungen standhielten, schwächelten Industrie und vor allem die von Dürre betroffene Landwirtschaft. Investitionen verharren auf einem Tiefpunkt, da die externe Nachfrage, primär aufgrund der Unsicherheiten in Deutschland, schwach bleibt. Experten erwarten zwar einen Anstieg des Haushaltskonsums vor den Wahlen, prognostizieren aber aufgrund struktureller Probleme für das Gesamtjahr nur ein Wachstum von 0,5 bis 0,7 Prozent.
Das Wachstum wird vom Konsum getragen, doch die schwachen Exporte dämpfen die Dynamik. Weil die Volkswirtschaften Deutschlands und Österreichs noch nicht richtig anspringen, belastet dies die Investitionen. Als weitere Bremsfaktoren wirken die zurückgehaltenen EU-Mittel sowie knappe staatliche und kommunale Finanzen. Staatliche Programme wie „Heimstart“ (Otthon Start) und das „Wohnkapitalprogramm“ (Lakhatási Tőkeprogram) sollen Investitionen stimulieren; der Konsum wird durch steigende Reallöhne und Vergünstigungen gestützt. Für einen nachhaltigen Schwung ist jedoch ein Exportaufschwung unerlässlich, wofür bestehende Betriebe stärker ausgelastet werden müssten.
Populistische Offensive gegen Sparpläne
Die Fidesz versucht, ihre Wahlchancen durch spektakuläre Wohltaten zu verbessern. Kernstück ist Europas größtes Steuersenkungsprogramm. Bis 2026 sollen Familien mit zwei Kindern jährlich 1,7 Millionen Forint mehr (etwa 4.340 Euro), bei drei Kindern 2,4 Millionen Forint (etwa 6.127 Euro) mehr zur Verfügung haben. Über vier Jahre sollen so 4 Billionen Forint zusätzlich bei den Familien verbleiben.
Zum 1. September startete mit „Heimstart“ das aufwendigste Wohnungseigentumsprogramm seit der Wende zur Stärkung der Mittelschicht. Zehntausend Kreditanträge wurden in den ersten drei Wochen eingereicht. Das Programm soll den Bau von 50.000 zusätzlichen Wohnungen ermöglichen.
Die Regierung verlängerte die Senkung der Gewinnmargen und vereinbarte freiwillige Preisbremsen mit Banken, Versicherungen und Telekommunikationsanbietern, was die Inflation im August um 1,6 Prozentpunkte senkte. Ferner erhalten fast 2,4 Millionen Rentner einen 30.000 Forint Lebensmittelgutschein. Auch der Zinsstopp wurde verlängert, und eine zusätzliche Rentenerhöhung bringt Rentnern im Schnitt über 50.000 Forint extra.
Diese offensiven Ausgaben stehen im Kontrast zu den durchgesickerten Plänen der Opposition, welche die Rückkehr zur progressiven Besteuerung und massive Sparmaßnahmen vorbereiten sollen.
Orbáns Kampf um die Macht
Die politischen Turbulenzen – manifestiert durch das „Opfer“ zweier prominenter Politiker, die bezeichnende Ernennung des farblosen Tamás Sulyok anstelle von Katalin Novák, sowie der Aufstieg der Tisza-Partei – signalisieren eine klare Krise im etablierten System. Zwar könnte die Rückkehr von Donald Trump als US-Präsident Ministerpräsident Orbán begünstigen, doch verdeckt dies nicht die inneren Schwächen.
Orbán spürt die Gefahr des Abwärtstrends seiner Fidesz-Partei und hat sich deshalb entschlossen, den Wahlkampf persönlich anzuführen. Neben innenpolitischen und wirtschaftlichen Fragen dreht sich dieser zentral um Krieg und Frieden sowie die Ablehnung des EU-Beitritts der Ukraine. Offiziell hält Orbán die Verteidigung der nationalen Souveränität und die Kritik an der Brüsseler EU-Führung, die sich zunehmend offen hinter dem ihm feindlich gesinnten Péter Magyar stellt, an der Oberfläche.
Der Fidesz holt auf, Tisza verliert leicht
Das populistische Wirtschaftsprogramm und Orbáns Kampfgeist haben zumindest das Ergebnis gebracht, dass das Abrutschen des Fidesz gestoppt wurde und er beginnt, wieder stärker zu werden, während die Unterstützung für die Tisza-Partei, wenn auch nur leicht, nachlässt. Der im Frühsommer vorhandene Oppositionsvorsprung von mindestens 5, manchen Forschungsinstituten zufolge sogar 10 Prozentpunkten, hat sich spürbar verringert, und die beiden Parteien liegen zunehmend Kopf an Kopf. Zudem könnte die Erfahrung des Fidesz in den Einzelwahlkreisen, die die Hälfte der Abgeordneten stellen, entscheidend sein.
Die unter 30-Jährigen scheinen selbst durch Anreize wie das 3-Prozent-Wohnungsbaukreditangebot nicht ins Orbán-Lager zurückzukehren. Diese Generation ist des amtierenden Ministerpräsidenten müde und sehnt sich nach neuen Gesichtern. Hier hat der Fidesz wenig Erfolgschancen.
Bei den über 40-Jährigen hingegen bestehen trotz berechtigter Regierungskritik weiterhin erhebliche Zweifel an der Regierungsfähigkeit der Opposition.
Laut der jüngsten Medián-Umfrage sind Fidesz-Wähler weitaus stärker von den Fähigkeiten ihres eigenen Anführers überzeugt: 99 Prozent vertrauen ihm, 80 Prozent halten Orbán für vollkommen geeignet. Im Tisza-Lager hingegen sind nur 37 Prozent der Befragten völlig von der Eignung Péter Magyars überzeugt.
Für den Wahlausgang wird die effektive und vollständige Mobilisierung des jeweiligen Lagers voraussichtlich entscheidend sein. Auf beiden Seiten gibt es etwa 30 Prozent der Wähler, die noch unentschieden sind, ob sie überhaupt wählen werden. Die Überzeugung der parteilosen Wähler ist die zweite große Aufgabe für die nächsten rund sieben Monate.
Die finale Konfrontation
Hinzu kommt die Vermeidung beziehungsweise Bewältigung von Skandalen, denn sowohl Fidesz als auch Tisza verfügen in dieser Hinsicht über „Munition“.
Die Opposition hält das Thema „Luxusleben“ hoch, indem sie das sogenannte Orbán-Anwesen Hatvanpuszta öffentlich thematisiert. Zugleich greift sie die moralischen Grundfesten der Regierungspartei mit vermeintlichen Pädophilie-Fällen an.
Die Stärke des Fidesz resultierte in den letzten Jahren jedoch auch aus der Lähmung der Opposition. Nun scheint es, dass die Unerfahrenheit, mangelnde Information, peinliche Aussagen und unglückliche Äußerungen der Tisza-Politiker Orbáns Lager ständig neue Munition liefern. So kann der Fidesz einen Teil des Wahlkampfes ruhig auf den Fehlern der heterogenen und verständlicherweise nicht wirklich auf die Regierungsführung vorbereiteten Tisza aufbauen. Dies könnte selbst unzufriedene Fidesz-Wähler verunsichern und sie zur Einsicht bringen, dass ein Regierungswechsel ein Abenteuer wäre.
Der Fidesz verspricht seinen verunsicherten Anhängern Berechenbarkeit, Stabilität und Erneuerung. Die Anhänger der Tisza-Partei fordern hingegen den vollständigen Bruch mit Orbán und seinem System. Ungarn steuert somit auf eine Wahl zu, die als Volksabstimmung verstanden werden kann – eine Entscheidung darüber, ob Viktor Orbán im Amt bleibt oder eine neue Ära anbricht.
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bild: Viktor Orbán (Ministerpräsident Ungarns)
Bildquelle: Gints Ivuskans / shutterstock
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