
Warum Kiew Budapest bedroht und erpresst
Es fließt wieder Öl über die Druschba-Pipeline nach Ungarn und in die Slowakei. Allerdings werfen die andauernden und sich verstärkenden Angriffe auf die russische Energieinfrastruktur Fragen über die langfristige Sicherheit dieser Versorgungsroute auf, besonders im Kontext des andauernden Krieges.
Ein Standpunkt von Gábor Stier, aus dem Ungarischen übersetzt von Éva Péli.
Mit den Attacken auf die Druschba-Pipeline nach Ungarn und in die Slowakei hat die Ukraine nicht nur versucht, den Druck auf Russland zu erhöhen, sondern auch auf Ungarn. Dabei fand Kiew Unterstützung in der EU-Führung, die einen vollständigen Bruch mit russischen Energieträgern anstrebt. Diese Vorfälle und die begleitende Rhetorik haben die ohnehin schon angespannten ungarisch-ukrainischen Beziehungen weiter verschlechtert. Sie haben zudem das Misstrauen gegenüber der EU-Führung verstärkt und, zur Genugtuung Kiews und Brüssels, die Spaltung innerhalb der ungarischen Gesellschaft vertieft.
Auch wenn der dritte ukrainische Luftangriff innerhalb eines Monats auf die Druschba-Pipeline die Versorgungssicherheit nicht direkt gefährdet hat, lenkt er doch die Aufmerksamkeit auf die Unsicherheit russischer Energieimporte. Nach der Kompressorstation in Nowonikolsk wurde nun der Knotenpunkt in Unetscha getroffen. Der Angriff und die mehrtägige Unterbrechung werfen die Frage auf, wie Pipelines und damit die Energiesicherheit als Waffe gegen einzelne Länder eingesetzt werden können.
Mit diesen Attacken hat die Ukraine nicht nur Russland ins Visier genommen, sondern auch Ungarn und die Slowakei. Wie bewusst Kiew versucht, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen, zeigen auch die anschließenden Drohungen gegen Budapest. Wolodymyr Selenskyj sandte mit unverhohlenem Zynismus die Botschaft, Kiew habe die Freundschaft zwischen der Ukraine und Ungarn stets unterstützt, nun hänge die Existenz dieser „Freundschaft“ von Ungarns Position ab. Vielsagend ist zudem, dass die Pipeline so beschädigt wurde, dass die Öllieferungen aus Kasachstan nach Deutschland ungehindert weiterlaufen konnten. Es gibt sogar Überlegungen, die Pipeline künftig ausschließlich mit kasachischem und aserbaidschanischem Öl zu befüllen.
Der ungarische Abschnitt der Druschba-Erdölpipeline wurde 1964 in Betrieb genommen. Seitdem lief sie ununterbrochen und war von geopolitischen, wirtschaftlichen oder militärischen Konflikten unbeeinflusst. Die Odyssee der Druschba-Pipeline begann mit dem russisch-ukrainischen Krieg. Zu diesem Zeitpunkt wurde klar, dass Energieträger, der Energiesektor selbst sowie kritische Rohstoffe und Seltene Erden zu einer neuen Kriegswaffe geworden waren.
Im November 2022 wagte die Ukraine noch keinen direkten Angriff auf die Pipeline selbst oder ihre Kompressorstationen. Stattdessen wurden „nur“ die Stromleitungen, die die Stationen in russischem Territorium versorgten, beschädigt. Im Juli 2024 folgten dann die ukrainischen Spezialsanktionen gegen Lukoil, die auch die Lieferungen nach Ungarn betrafen, was zu einer ein- bis zweiwöchigen Reduzierung der Erdöllieferungen an die MOL-Raffinerie in Százhalombatta (unweit von der ungarischen Hauptstadt Budapest) führte. Im Januar und März 2025 wurde die Druschba-Pipeline dann von weiteren Drohnenangriffen getroffen. Die Ereignisse haben sich jedoch im August dieses Jahres dramatisch beschleunigt.
Folgen einer möglichen Stilllegung der Druschba-Pipeline
Die potenziellen Auswirkungen einer Stilllegung der Druschba-Pipeline würden nicht nur Ungarn und die Slowakei treffen, die für ihre Rohölimporte hauptsächlich von dieser Route abhängig sind. In beiden Ländern liegt die Abhängigkeit von russischem Öl bei über 80 Prozent, Tendenz seit Kriegsbeginn steigend.
Obwohl beide Staaten über strategische Reserven für mehr als 90 Tage verfügen und eine vorübergehende Unterbrechung überstehen könnten, gibt es für Ungarn eine mögliche Alternative: die Adria-Pipeline. Ob diese eine vollwertige Alternative darstellt, ist aufgrund widersprüchlicher Kapazitätstests umstritten. Die Umstellung würde Kosten verursachen, wird von Experten aber als machbar eingeschätzt. Die MOL, die in beiden Ländern bedeutende Raffinerien betreibt, argumentiert jedoch, dass eine Umstellung wegen Kapazitätsengpässen und der unterschiedlichen Ölqualität nicht realistisch sei.
Finanzielle Aspekte und politische Motive
Der Import russischen Öls hat auch eine weitere finanzielle Dimension. Zwischen dem Beginn der Invasion und März 2025 hat Ungarn dank russischer Preisnachlässe rund 2,3 Milliarden Euro bei den Ölimporten gespart. Ein Teil dieser Einsparungen kam den Verbrauchern durch niedrigere Preise zugute, der Rest floss in Form von Sondersteuern in die Staatskasse. Auch regierungsnahe Geschäftskreise, die in den Import involviert sind, profitierten.
Aus verständlichen Gründen will die Regierung diese Einnahmequellen nicht aufgeben, insbesondere nicht vor den Wahlen im nächsten Jahr. Doch die Kreise in Brüssel und Kiew, die am Sturz der Orbán-Regierung interessiert sind, wissen das nur zu gut.
Obwohl die Europäische Kommission behauptet hat, diese Angriffe stellten keine Bedrohung für die europäische Energieversorgung dar, entspricht dies nicht der Realität. Eine Stilllegung dieser Transportroute würde neben Ungarn und der Slowakei auch die Versorgung Ostdeutschlands und Tschechiens direkt betreffen.
Die deutsche Raffinerie in Schwedt wird beispielsweise vermutlich über die Druschba-Pipeline mit russischem Öl versorgt, das als kasachisch ausgewiesen wurde. Auch für Tschechien ist die Lage von Bedeutung. Zwar hat das Land, das früher stark von der Druschba-Pipeline abhängig war, inzwischen alternative Ölpipelines aufgebaut, um russisches Öl zu ersetzen. Allerdings ist Tschechien über Kraftstoffimporte mit Deutschland und der Slowakei verbunden, die beide von den ukrainischen Sabotageakten betroffen sind. Auch in Tschechien brennt also das Haus, selbst wenn Prag schweigt.
Eine längere Unterbrechung der Druschba-Pipeline oder mögliche weitere ukrainische Angriffe auf die Infrastruktur würden die Kraftstoffpreise in der gesamten mittel- und osteuropäischen Region in die Höhe treiben. Ganz zu schweigen davon, dass in der Ukraine erneut ein gesetzliches Verbot des russischen Gas- und Öltransits zur Diskussion steht.
MOL Group: Ein regionaler Energieversorger
Die MOL (auch MOL Group – ein ungarischer, multinationaler Öl- und Gaskonzern) und ihre Tochtergesellschaften wie Slovnaft, INA, Tifon, Energopetrol, PAP Oil versorgen die gesamte mittel- und osteuropäische Region mit günstigen Raffinerieprodukten und erreichen dabei oft Marktanteile von fast 50 Prozent.
Das Unternehmen liefert eine breite Palette von Produkten, darunter verschiedene Qualitäten von Benzin, Diesel- und Heizöl, Flugzeugtreibstoff, LPG, Bitumen, Schmierstoffe, chemische Grundstoffe (wie Polyethylen, Polypropylen und Butadien zur Kunststoffherstellung) sowie AdBlue-Abgasreinigungsmittel.
Die Hauptabsatzmärkte außerhalb Ungarns sind die Slowakei, Polen, Tschechien, Kroatien, Slowenien, Rumänien, Serbien und Bosnien-Herzegowina. Die Produkte von MOL werden jedoch in insgesamt rund 40 Länder exportiert. Zusätzlich stammen 15 Prozent der ukrainischen Dieselölimporte aus der Slowakei, was die Bedeutung der MOL-Gruppe für die regionale Energieversorgung unterstreicht.
Die durch die Druschba-Pipeline verursachte prekäre Lage hat zu ernsthaften diplomatischen Spannungen geführt. Die politische Führung Ungarns sowie der Slowakei und der Ukraine tauschten gegenseitig Botschaften aus, woraufhin Budapest und Bratislava die Europäische Kommission um Hilfe baten, jedoch mit geringem Erfolg.
Eskalation und gegenseitige Schuldzuweisungen
Außenminister Péter Szijjártó wies darauf hin, dass Budapest jeden dieser Angriffe als einen Angriff auf die Energiesicherheit und Souveränität Ungarns betrachte und dieser daher nicht ohne Konsequenzen bleiben werde. „Die Ukraine ist sich bewusst, dass die Druschba-Pipeline für die Energiesicherheit Ungarns unverzichtbar ist. Die Ukraine weiß genau, dass Angriffe auf die Druschba-Pipeline nicht in erster Linie Russland schaden, sondern vielmehr Ungarn und natürlich der Slowakei“, so seine Erklärung.
Gleichzeitig kündigte der Außenminister an, dass der Kommandeur der für die Angriffe verantwortlichen ukrainischen Militäreinheit mit einem Einreiseverbot für Ungarn und den gesamten Schengen-Raum belegt werde. Robert Brovdi, der wegen seiner ungarischen Vorfahren das Rufzeichen „Magyar“ (Ungar) trägt, schoss umgehend zurück.
„Stecken Sie sich Ihr Einreiseverbot und Ihre Beschränkungen für einen Besuch in Ungarn, Herr 'Knochentänzer', dorthin, wo die Sonne nicht scheint“, drohte Brovdi. „Ich bin Ukrainer [ukrainischer Staatsbürger] und werde auch weiterhin das Land meiner Väter besuchen. Es gibt genug echte Ungarn in Ungarn, die eines Tages die Nase voll haben werden von Ihnen. Ihre Hände sind bis zu den Ellbogen mit ukrainischem Blut befleckt. Und das werden wir uns merken“, warnte der Kommandant der Einheit „Vögel von Magyar“ die ungarische Regierung.
Internationale Reaktionen und Vorwürfe
Unmittelbar darauf stichelte der polnische Außenminister gegen die Orbán-Regierung. Radosław Sikorski schrieb auf der Plattform X, dass Ungarn, während russische Raketen Tod über Kiew brächten, damit beschäftigt sei, einen mutigen Soldaten ungarischer Abstammung Einreiseverbot zu erteilen, der es wage, für die Freiheit der Ukraine zu kämpfen. „Kommandant 'Magyar': Falls du eine kleine Pause brauchst und Ungarn dich nicht reinlässt, heißen wir dich gerne willkommen“, fügte er hinzu.
In einem ähnlich zynischen und feindseligen Ton übergab das ukrainische Außenministerium dem einbestellten ungarischen Botschafter eine offizielle Note. Darin wird von „Diskriminierung der ungarischen Minderheit in der Ukraine“ gesprochen, indem Budapest vorgeworfen wird, „den Kommandanten ungarischer Abstammung nicht in das Land seiner Vorfahren zu lassen“. All dies geschieht auf eine scheinheilige Weise seitens der Ukraine, die seit Jahren die Rechte dieser Minderheit kontinuierlich und grob verletzt.
Auch der ukrainische Präsident Selenskyj meldete sich zu Wort und bezeichnete das Einreiseverbot als empörend. Daraufhin folgte eine Reihe von ungarnfeindlichen Tiraden ukrainischer Politiker und Medien. Sie warfen Budapest seine angeblich pro-russische Haltung sowie die Blockade der ukrainischen EU-Integration vor und deuteten offen an, dass der Sturz der Orbán-Regierung im Interesse der Ukraine sei. Sie machten auch keinen Hehl daraus, dass die Angriffe auf die Pipeline in diesem Zusammenhang erfolgten, um die Regierung zu schwächen und zu bestrafen.
Kiew erhielt auch Unterstützung vom europäischen Mainstream. Eine Zeitung bezeichnete es als verständlich, dass die Ukraine mit den Angriffen nicht nur Russland schaden, sondern auch die von Selenskyj verachteten Regierungschefs der beiden betroffenen Länder bestrafen wollte.
Die ukrainischen Angriffe und die darauffolgenden Drohungen sind empörend, aber keineswegs überraschend. Sie fügen sich nahtlos in die Reihe der ungarnfeindlichen Maßnahmen der vorherigen Jahre ein.
Da die russische Energieinfrastruktur ohnehin ins Visier der ukrainischen Streitkräfte geraten ist, nutzte man dies – untermauert durch eine bewusste Kommunikationskampagne – auch zur Bestrafung und zur Ausübung von Druck auf jene Länder, die in ihrer Lesart als feindlich gegenüber der Ukraine gelten. Ziel ist es, vor allem Ungarn dazu zu zwingen, die Blockade der ukrainischen europäischen Integration aufzugeben.
Zusammen mit den europäischen „Willigen“ versuchte Selenskyj, auch Donald Trump zu überzeugen. Das brachte den Präsidenten der USA in eine heikle Lage: Einerseits steht die Blockade der EU-Beitrittsgespräche den Friedensverhandlungen im Weg, andererseits müsste er gegen einen seiner treuesten europäischen Verbündeten vorgehen. Zudem handelt es sich um eine Frage, die Orbán zu einem zentralen Thema seines Wahlkampfs gemacht hat. Doch Kiew versuchte mit diesem Schritt, wissend um die stillschweigende Unterstützung aus Brüssel, die Situation des ungarischen Premiers auch wirtschaftlich zu erschweren und der Opposition zu helfen.
Das wahre Gesicht der Ukraine
So empörend es auch ist, in Ungarn wundert sich niemand mehr darüber, dass die auf dem Weg in die EU befindliche Ukraine Mitgliedstaaten – noch dazu ihre Nachbarn – erpresst, bedroht und versucht, sich in deren innere Angelegenheiten einzumischen.
Nach all dem kann man wohl auch in der aktuellen europäischen Stimmungslage aussprechen, dass für Ungarn heute nicht Moskau, sondern Kiew die wahre Gefahr darstellt, das mit jenen Europäern zusammenarbeitet, die vor der „russischen Gefahr“ warnen.
Jene in Brüssel und in einigen westeuropäischen Hauptstädten, die das Geschehen mit Schadenfreude verfolgen, erkennen das wahre Gesicht der Ukraine nicht. Sie müssen von Kiew ein ähnliches Vorgehen erwarten, vor allem wenn die Ukraine als verfrühtes und unvorbereitetes Mitglied der EU beitritt und Brüssel Entscheidungen trifft, die den ukrainischen Interessen zuwiderlaufen.
Daher sollte man, anstatt sich zu freuen, lieber aus dem, was zwischen Ungarn und der Ukraine geschieht, lernen. Ganz zu schweigen davon, dass in einer solchen Auseinandersetzung im Namen der oft beschworenen europäischen Solidarität zu erwarten wäre, dass Brüssel sich an die Seite seiner Mitgliedsstaaten stellt, um deren Energiesicherheit zu schützen.
Quellen und Anmerkungen
Gábor Stier, geboren 1961, ist ein ungarischer außenpolitischer Journalist, Analytiker und Publizist. Er ist Fachjournalist für Außenpolitik bei der ungarischen Wochenzeitschrift Demokrata sowie Gründungschefredakteur von #moszkvater, einem Internet-Portal, das sich den slawischen Völkern und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion widmet. Zuvor war er 28 Jahre lang bis zu ihrer Auflösung bei der konservativen Tageszeitung Magyar Nemzet tätig, wo er von 2000 bis 2017 das außenpolitische Ressort leitete und als letzter Moskau-Korrespondent der Zeitung arbeitete.Sein Interesse gilt dem postsowjetischen Raum und dessen aktuellen geopolitischen Entwicklungen. Seine Beiträge und Interviews erscheinen regelmäßig in der mittel- und osteuropäischen Presse und finden auch im deutschsprachigen Raum Beachtung. Artikel von ihm werden unter anderem auf der Website NachDenkSeiten veröffentlicht und sind oft Übersetzungen seiner ungarischen Originaltexte. Stier ist Autor des Buches „Das Putin-Rätsel“, das 2000 in deutscher Sprache erschienen ist, und seit 2009 ständiges Mitglied des Waldai-Klubs.
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bild: Viktor Orban (Ministerpräsident Ungarns) und Wolodymyr Selenskyj (Präsident der Ukraine)
Bildquelle: paparazzza / shutterstock
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