Lyrische Beobachtungsstelle

Bayreuther Festspiele 2026: Die KI führt Regie | Von Paul Clemente

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“Die Lyrische Beobachtungsstelle” von Paul Clemente.

Was ist der Mensch? - Antwort: Ein Lebewesen, das sich selbst nicht leiden mag. Zumindest im westlichen Kulturkreis. Egal, was passiert: Der Mensch gibt sich selber die Schuld. Beispiel Klima: Früher galten Dürre, Erdbeben, Sturmfluten als göttliche Strafen. Weil der Mensch nicht brav genug, also selber schuld war. Heute ist es die Natur, die in Form von Katastrophen ihre Wunden zeigt. Wer hat ihr die zugefügt? Natürlich der Mensch. Die Natur, selbst grausam durch und durch, wird zur Geschändeten. Zur Unschuld, an der sich die Menschheit vergriffen hat. Bei einem solchen Selbstbild kann man dem Homo Sapiens kaum verübeln, dass er Kompetenzen abgeben möchte. Nur, an wen? An den christlichen Gott? Nein, an den glaubt er nicht mehr. Stattdessen inthronisiert er die KI. Wie ein Schicksal propagiert er sie: Übermächtig, unaufhaltsam. Von keiner Instanz limitiert. Trotz der Angst, die sie bereitet, ergibt man sich ihr.

Beispiel Flugzeuge. Kürzlich wurde nachgewiesen: Passagiermaschinen stürzten ab, weil der Pilot falsche Entscheidungen des Bordcomputers nicht korrigieren konnte. Die KI hat ihn einfach blockiert. Als wollte sie sagen: Ich hab mehr Ahnung als der doofe Flugkäptn. Und? Wird man daraus Konsequenzen ziehen? Die Macht des Bordcomputers einschränken? Kaum. Egal, wie oft die KI versagt: Der Glaube an ihre Überlegenheit bleibt. Unerschütterlich. Und weil sie sich rasend fortentwickelt, avancierte sie zum neuen Utopia. Auch im Kulturbereich. Prominente Autoren strecken die Waffen, entblöden sich mit dem Bekenntnis: Die KI schreibe besser als sie selber. Zugegeben, ein Großteil der Journalistenzunft verdient tatsächlich die Ablösung. Aber für gute Schreiber bietet die KI null Ersatz. Der lyrische Beobachter hat die Probe aufs Exempel gemacht und KI-Texte geordert. Zu unterschiedlichen Themen. Das Ergebnis: Wenig berauschend. Stilistisch bot sie das Niveau gehobener Schulaufsätze und der Faktencheck deckte mehr als eine Verwechslung auf. Wehe dem, der ihr vertraut.

Jetzt verkünden auch die Bayreuther Festspiele den Einsatz von KI. Anlass: Das 150. Gründungsjubiläum im kommenden Jahr. Zur Feier gibt es eine Neuaufführung vom „Ring des Nibelungen“, einer Opern-Parabel über den Untergang des Kapitalismus und Befreiung von jeglicher Herrschaft. Der Held Siegfried trägt Züge des russischen Anarchisten Michael Bakunin. Der kämpfte 1849 mit Wagner in der Dresdner Revolution. Ab den 1930ern versuchte Hitler, den wilden Komponisten zu vereinnahmen. Das Festspielhaus wurde zur Pilgerstätte brauner Bonzen. Davon hat es sich bis heute nicht erholt. Ab den 1970er Jahren, unter der Leitung Wolfgang Wagners, avancierte die „Werkstatt Bayreuth“, zur Experimentierbühne: Regie-Größen wie Patrice Chéreau, Peter Hall, Heiner Müller, Werner Herzog, Christoph Schlingensief oder Frank Castorf sorgten mit ihren Inszenierungen für Schlagzeilen.

Zuletzt wurde es still um Bayreuth. Spektakuläre Aufführungen fanden Ersatz im Promi-Klatsch, wie dem Outing von Festivaldirektorin Katharina Wagner als MeToo-Opfer. Das könnte sich 2026 ändern. Auf der Website des Festspielhauses  findet man die Ankündigung einer kommenden „Ring“-Inszenierung. Dabei fällt auf: Der Regiestuhl blieb unbesetzt. Kein Regisseur genannt. Keine Regisseurin. Ahnen Sie was? - Richtig! Die Inszenierung des „Rings“ wird von einer KI bewerkstelligt! Der posthumane Regisseur hält Einzug.

Wie das funktionieren soll? O-Ton Festspielhaus:

„Zum 150-jährigen Jubiläum der Bayreuther Festspiele erwartet das Publikum ein Experiment von visionärer Kraft: eine ,Inszenierung’, die nicht nur Richard Wagners Musikdrama aufführt, sondern seine Rezeptionsgeschichte in den Mittelpunkt stellt – durch eine visuelle Ebene, die sich stetig verändert, die erweitert, neu zusammensetzt. Zum ersten Mal in der Geschichte der Festspiele wird dabei Künstliche Intelligenz auf der Bühne mitspielen – nicht als Figur, sondern als bildgebende Kraft.“ 

- Was wurde gesagt? Zum einen, dass es keine Neuinterpretation der Musikdramen geben wird. Stattdessen stellt deren Wirkungsgeschichte das Thema. Die ist im Falle Wagners sehr groß, reicht von Friedrich Nietzsche, Charles Baudelaire, Rudolf Steiner, Joseph Beuys bis Luis Buñuel. Eine endlose Kette an Künstlern, Dichtern, Malern, Filmemachern usw. Mit anderen Worten: Hier ist Recherche angesagt. Okay, das kann die KI. Aber so ganz unkontrolliert darf sie noch nicht sampeln. Deshalb wurde Marcus Lobbes, Leiter der Dortmunder Akademie für Theater und Digitalität, als „Kurator“ eingesetzt.

Opern, deren Bühnenraum aus digitaler Bildprojektion bestehen, gibt es seit den Neunzigern. So inszenierten Peter Greenaway mit Saskia Boddeke die Oper „Christoph Kolumbus“ in der Berliner Staatsoper. Eine gigantische Bilderflut von Assoziationen. Inmitten der Projektionen agierten die Sänger. Deren szenisches Spiel aber soll in Bayreuth entfallen. In der Ankündigung heißt es:

„Die Sänger*innen stehen im Zentrum der Aufführung, in ruhiger, fast skulpturaler Präsenz. Ihre Körper werden zum Fixpunkt in einem visuell brodelnden Kosmos aus Licht, Textur, Geschichte und Assoziation, inmitten von Projektionen, die aufbrechen, sich permanent verschieben, miteinander verschmelzen. Die Projektionen sind mehr als Bühnenbild – sie sind Reflexionsfläche eines 150-jährigen Diskurses.“

Heißt soviel wie: Es wird nicht mehr gespielt, sondern die KI-Collage übernimmt die Hauptrolle gänzlich. Experimental-Kino mit Live-Gesang. Auch nicht das Allerneueste. Man erinnere sich an die Film-Oper „La Belle et la Bête“, bei der Philipp Glass der 1946er Kinoversion seine Live-Musik unterlegte. Die Sänger postierte er vor der Leinwand. Selbst Hologramm-Projektionen hat Glass mit Robert Wilson für die Oper „Monsters of Grace“ entwickelt - vor mehr als einem Vierteljahrhundert. Nur: Beim Bayreuther KI-Sampling werden Bildmontagen nicht fixiert, sondern bei jeder Vorstellung neu generiert. Der „Ring“ als Work-in-Progress. Ohne finale Fassung. Jede Aufführung ist verschieden. Ein Spiel mit dem Zufall. Aber braucht man dafür KI?

Nicht zwingend. Musik-Avantgardist John Cage hat solche Zufallsexperimente bereits vor Jahrzehnten präsentiert. Mit gänzlich analogen Mitteln. Kurzum: Die künstliche Intelligenz führt keinen neuen Aspekt ein. Aber weshalb ruft man nach ihr? Zumal digitale Kreativität ein schwerwiegendes Manko aufweist. KI-Kunst, beispielsweise Malerei, ist vor allem eins: Dekorativ. Technisch perfekt. Raffiniert, aber leer. Mehr Design als Kunst. Kein Feuer zu spüren. Das gleiche gilt für KI-generierte Musik-Clips. Wen haben deren Bilder je gepackt? Wen wirklich ergriffen? Bitte melden. Solch Leerlauf mag bei Clips oder Design-Objekten durchgehen, aber kaum bei einer 16stündigen Oper. Ein Trommelfeuer heftigster Emotionen. Alles, was die KI nicht vermitteln kann. Weshalb man sie trotzdem einsetzt? - Weil: Die Akzeptanz ihrer Begrenztheit steht noch aus. Kleiner Trost: Irgendwann kommt sie.

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bild: Ein Mensch vor einem digitalen Gehirn

Bildquelle: lassedesignen / shutterstock


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