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Aus Moskau: Impressionen und Reflexionen | Von Tilo Gräser

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Kurz vor dem 80. „Tag des Sieges“ in Moskau  

Ein Kommentar von Tilo Gräser.

In Russland wird am 9. Mai der „Tag des Sieges“ gefeiert, unter anderem mit einer großen Militärparade in Moskau. Dazu hat der russische Präsident zahlreiche Staats- und Regierungschefs eingeladen. 29 von ihnen wollen kommen, meldeten russische Medien, die sich auf den Kreml beriefen. Ob sie das tatsächlich tun trotz der Drohungen aus Kiew, eventuell die Feierlichkeiten in Russland angreifen zu wollen, wird sich zeigen. Zumindest der chinesische Präsident Xi Jinping will in Moskau dabei sein, heißt es. Soldaten der chinesischen Volksbefreiungsstreitkräfte werden an der Parade teilnehmen und üben dafür bereits in Moskau.

Fehlen werden zum 80. Jubiläum in Moskau Vertreter westliche Staaten, vor allem aus der EU und insbesondere aus Deutschland. Was einst möglich war ist nun vor allem in westlichen Hauptstädten nicht gewollt und gewünscht. Die deutsche Bundesregierung will sogar unterbinden, dass Diplomaten aus Russland und Belarus an Gedenkveranstaltungen in Deutschland teilnehmen können. Zum Glück halten sich vor allem kommunale Behörden insbesondere in Ostdeutschland nicht an die Vorgaben via „Handreichung“.

Zwar trifft die politische und mediale antirussische Hetze und Propaganda auf (zu) viel Zustimmung in der Bevölkerung, vor allem in Folge des Ukraine-Krieges. Wichtige Fakten wie die Vorgeschichte werden weggelassen und das fehlende Wissen ausgenutzt. Doch nicht alle Deutschen lassen sich davon beeindrucken. Einige wenige von ihnen haben sich auf den Weg gemacht, um den 80. Jahrestag des Sieges über den Faschismus in Russland mit den Menschen dort zu begehen. Sie sind nach Moskau, Kaliningrad, St. Petersburg oder Wolgograd, dem früheren Stalingrad, gefahren.

Und manchmal begegnen sie sich zufällig in einem ukrainischen Restaurant in Moskau oder auf der Reise nach Russland über Polen und Kaliningrad in einem Kleinbus. Eine ganze Reihe von ihnen sind in Gruppen gekommen. Dazu gehören jene, die am Dienstag an einer Konferenz über die vor 70 Jahren gegründete Organisation des Warschauer Vertrages teilzunehmen. Sie erinnerten dabei nicht nur an den Versuch der einstigen sozialistischen Staaten, dem westlichen Militärbündnis NATO eine eigene gemeinsame Verteidigungsorganisation entgegenzusetzen.

Der ostdeutsche Songpoet Tino Eisbrenner sang vor ihnen aus seinem Programm, zu dem das russische Lied „Schurawli“ (Kraniche) gehört. Das Lied erinnert an die gefallenen Soldaten, die als Kraniche über den Menschen kreisen. Eisbrenner sang es zuerst 2023 gemeinsam mit der russischen Sängerin Zara im Wettbewerb „Lieder für Jalta“ im Kreml-Palast in Moskau und errang damit den 2. Platz. Sein „Lied für den Frieden“ spielte er bei seinem Auftritt am Dienstag ebenso wie Stücke aus seinem Puschkin-Programm oder übersetzte Songs der sowjetischen Barden Wladimir Wyssozki und Bulat Okudschawa.

Mit viel Beifall bedachte das Publikum sein kleines Konzert nach der Konferenz. Unter seinen Zuhörern waren Deutsche, Schweizer und Menschen aus Russland, ehemalige Militärs aus beiden Ländern ebenso wie solche, die sich zivil für Frieden engagieren. Die aus Deutschland Angereisten wollen in den nächsten Tagen an den Feierlichkeiten in Moskau teilnehmen. Und sie wollen den russischen Menschen zeigen, dass es im Westen nicht nur Russlandhass gibt, sondern ebenso das Bemühen, die Verbindungen nicht ganz abreisen zu lassen und weiter Freundschaft zu halten.

Während in Deutschland alles Russische offen und stillschweigend unterdrückt wird und Russen zum Teil wie Feinde behandelt werden, erleben die Deutschen in Russland etwas anders: Sie werden als Gäste empfangen und behandelt, erleben Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft – und Dankbarkeit, dass sie sich trotz der politischen Hetze auf den Weg gemacht haben, um mit den Russen zu feiern und zu gedenken.

Das zeigt sich in kleinen Dingen wie dem Lächeln der Verkäuferin im Geschäft der Schokoladenfabrik „Roter Oktober“ auf dem Moskauer Boulevard Arbat. Mit Geduld half sie ihren deutschen Kunden, das nicht einfache System, wie die berühmten russischen „Konfjetty“ gekauft werden, zu bewältigen Und gab ihnen noch den Rabatt für Touristen aus Anlass des 80. Jahrestag. Oder bei der Mitarbeiterin der Moskauer Metro, die zwei aus Deutschland Angereisten half, die richtigen Fahrkarten am Automaten zu kaufen. Ein anderes Beispiel ist die junge Mitarbeiterin eines Hotels in Moskau, die ihre deutschen Gäste mit einer Freundlichkeit, die mehr ist als nur Geschäftstüchtigkeit.

Ich habe gemeinsam mit meiner Begleiterin und Kollegin erlebt, wie wir als Journalisten aus dem offiziell „unfreundlichen“ Deutschland wie alle anderen zuvorkommend behandelt werden, ob von der Pressestelle der russischen Außenministeriums oder der Akkreditierungsstelle für die Feierlichkeiten zum „Tag des Sieges“. Nirgendwo schlug uns im Ansatz so etwas wie Ablehnung oder gar Hass entgegen. Dagegen wurden zuvor russische Journalisten aus Deutschland ausgewiesen. Ihnen warf unter anderem die Berliner Ausländerbehörde vor, die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu gefährden, weil sie angeblich Propaganda für die russische Politik und Regierung sowie den krieg in der Ukraine machen würden. Das wurde zwar mit keinerlei Beweisen belegt, aber die allein politisch begründete Ausweisung wurde aufrechterhalten und durchgesetzt.

Das macht den Unterschied aus zwischen Russland, das in den nächsten Tag den Sieg der sowjetischen Armee und ihrer Alliierten feiert, und Deutschland. Letzteres vermittelt nicht erst in diesem Jahr den Eindruck, als wollten sich die Nachkommen der Verlierer des von ihnen begonnen Vernichtungskrieges gegen die Sowjetunion an den Siegern rächen. Eine Lehrerin aus Moskau sagte, dass die russischen Menschen sehr wohl wissen, wer Hetze und Hass in Deutschland verbreitet. Sie würden unterscheiden zwischen der normalem Bevölkerung und dem einen Prozent Politikern in Deutschland unterscheiden.

Wer in diesen Tagen durch Moskau geht, merkt nur wenig davon, dass es sich um die Hauptstadt eines „Landes im Krieg“ handelt. Eine russische Frau fragte mich nach meinem Eindruck davon. Ich sagte, dass die Menschen in Russland den Krieg in der Ukraine vielleicht bewusst verdrängen. Von diesem ist insgesamt in Moskau sehr wenig zu sehen: Nur vereinzelt wird an Bushaltestellen und an den Eingängen zu Geschäften für den bezahlten Militärdienst für die russische Armee in der Ukraine geworben. Manchmal gibt es Plakate zu sehen, die auf die neuen „Helden Russlands“ aufmerksam.

Aber insgesamt ist mehr zu sehen, was an den Sieg vor 80 Jahren erinnert, wenn auch nicht so massiv, wie ich es vor einem Jahr in Sankt Petersburg sah. Und es wehen weniger Kopien der legendären sowjetischen Siegesfahne von 1945 an den Häusern und in den Straßen der Hauptstadt als 2024 in der Stadt an der Newa, aus welchem Grund auch immer. Vielleicht täuscht es auch, weil es nicht ganz so großflächig geschieht. So ist an vielen Schaufenstern, an den Fahrzeugen der Stadtreinigung und selbst an Baufahrzeugen und Traktoren mindestens ein Aufkleber zu sehen, der an den Sieg vor 80 Jahren erinnert.

Zu sehen und zu erleben ist aber ein deutlich erhöhter Sicherheitsaufwand: Ob in den Metrostationen, in Kaufhäusern, in Medienzentren oder anderen öffentlich Gebäuden, überall müssen die Menschen durch Scanner gehen. Immer wieder werden ihre Taschen und Rucksäcke kontrolliert und auch gescannt, in manchen Einrichtungen geschieht das obligatorisch. An manchen Stellen wie den Metro-Stationen sind die firmeneigenen Sicherheitsdienste im Einsatz, an anderen entweder die Polizei oder auch die Nationalgarde Russlands sowie Uniformierte des staatlichen Wachdienstes „Ochrana“. Die Menschen ertragen es mit Gelassenheit, auch weil sie es nun schon seit mehreren Jahren in Folge von Terroranschlägen und dem Ukraine-Krieg erleben.

Berichten zufolge wurde in Moskau mehr als 200 Luftabwehrsysteme stationiert, um Angriffe aus der Luft abzuwehren. Wir hörten am Dienstag, dass es am Abend zuvor wieder einen ukrainischen Angriff mit rund 20 Drohnen gegeben haben soll, der abgewehrt werden konnte. Russischen Medien zufolge gab es auf den drei Moskauer Flughäfen einen massiven Kollaps. Aus Sicherheitsgründen durften demnach die Passagiere angekommener Flugzeuge diese stundenlang nicht verlassen.

Die Sicherheitslage bleibt gespannt. Polizisten patrouillieren nicht über den Arbat und andere belebte Straßen, auch Soldaten der Nationalgarde, zum Teil mit Maschinenpistolen. Die Strecke der Parade ist mit Absperrgittern und Uniformierten abgesichert. Manche Moskauer wollen am Tag des Sieges nicht ins Zentrum fahren. Das aber nicht aus Angst, sondern weil die ständigen Kontrollen und Überwachungen sie am Feiern hindern. Das sagte unter anderem die schon erwähnte Lehrerin, die sich das Geschehen wie beispielsweise die Siegesparade auf dem Roten Platz deshalb nur im Fernsehen anschauen will. Auch viele der Deutschen, die nach Moskau gekommen sehen, würden gern de Parade sehen. Aber das wird ihnen wohl aufgrund der weiträumigen Absperrungen im Stadtzentrum verwehrt bleiben. Wer Glück hatte konnte einer der Paradeproben erleben, wenigstens auf den Zufahrtsstraßen zum Roten Platz.

Aber ein Land im Krieg sieht doch noch etwas anders aus, wie ich meine. Das gilt auch für die Hauptstadt. Vielleicht hat das damit zu tun, dass Russland eben tatsächlich keinen „richtigen“ Krieg gegen die Ukraine führt. Die Gefechte gibt es an der Frontlinie in der Ost- und Südukraine. Die Raketen- und Drohnenangriffe darüber hinaus gelten militärischen und Zielen in der Infrastruktur, die wichtig für militärische Zwecke sind. Das militärische Vorgehen Russlands ist keine „vollumfängliche Invasion“ oder gar ein „Vernichtungskrieg“, wie die deutsche und die ukrainische politische und mediale Propaganda behauptet.

So wie die sowjetische Rote Armee vor mehr als 8o Jahren gegen die Faschisten kämpfte und nicht gegen Deutschland, kämpfe die russische Armee nicht gegen die Ukraine, sondern gegen den dortigen Nazismus, aber auch „gegen Europa“. Das erklärte am Dienstag auf der erwähnten Konferenz der russische Generalmajor a.D. Juri Djakow. Er widersprach den Behauptungen aus Kiew und im Westen, dass Russland gezielt zivile Ziele in der Ukraine angreife.

Als Djakow anderen Rednern zuhörte, saß neben ihm ein Deutscher, der ein Schild hochhielt, auf dem in Russisch stand „Ich schäme mich für Deutschland“. Eine Teilnehmerin aus dem thüringischen Gotha trug ein T-Shirt mit der Aufschrift in Russisch und Deutsch „Deutschland sagt Danke“. Sie wolle sich damit für die Befreiung vom Faschismus bedanken, erklärte sie auf Nachfrage dazu.

„Dankbares Europa“ ist der doppeldeutig gemeinte Titel einer Freiluft-Fotoausstellung, die auf dem Moskauer Arbat zu sehen ist. Sie besteht auf der einen Seite historischen Fotos aus den Jahren 1944 und 1945, als die Rote Armee mittel- und osteuropäische Länder vom Faschismus befreite. Zu sehen sind darauf meist Menschen in Prag, Sofia, Riga und anderswo, die die sowjetischen Soldaten begrüßten und als Befreier feierten. Auch ein Foto aus dem besiegten Berlin ist zu sehen, auf dem ein Sowjetsoldat den Verkehr regelt.

Auf den Rückseiten der Tafeln sind jeweils Fotos aus der Gegenwart zu sehen, die zeigen, wie heute sowjetische Denk- und Ehrenmäler geschändet oder auch zerstört werden, von der Ukraine über Bulgarien bis nach Litauen. Die Dankbarkeit von einst ist dem Vorwurf gewichen, „Okkupanten“ hätten die Länder besetzt oder führen heute Krieg in der Ukraine. Dazu gehört, dass kaum noch die Rede ist von den etwa 27 Millionen Toten der Sowjetunion in Folge des faschistischen Vernichtungskrieges. In einer Buchhandlung in Moskau sah ich ein Buch mit Dokumenten und Fotos über den Genozid am sowjetischen Volk. Es ist heute leider undenkbar, dass es davon eine deutsche Ausgabe geben könnte.

Ja, und undenkbar sind auch solche Kleinigkeiten wie etwa, dass akkreditierte russische Journalisten kostenlos den öffentlichen Nahverkehr in der deutschen Hauptstadt benutzen könnten. Das dürfen aber ihre deutschen Kollegen in Moskau, die zu den Feierlichkeiten zum 80. Jahrestag akkreditiert sind, wie alle dazu angemeldeten Korrespondenten und Medienvertreter.

Soweit einige Eindrücke aus der russischen Hauptstadt in diesen Tagen und Gedanken dazu. Das ist nur ein Ausschnitt an Impressionen und Reflexionen, die ich hier habe und die mich bewegen. Ich persönlich bin dankbar dafür, dass ich hier sein kann und beobachten und berichten, wie in Russland der Tag des Sieges begangen wird, während in Deutschland weiterhin beispielsweise das sowjetische Lied von „heiligen Krieg“ gegen den Faschismus in der Öffentlichkeit verboten ist, wie ich am Dienstag las.

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.

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Bildquelle: Yuliasis/ shutterstock   


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