Ein Meinungsbeitrag von Hans-Jörg Müllenmeister.
In den letzten Jahrzehnten hat sich unser Verständnis von Pflanzen und ihren Fähigkeiten erheblich verändert. Die Pflanzenwelt ist weitaus komplexer, als wir es je geahnt haben, wie die neuesten Forschungsergebnisse zeigen. Obwohl Pflanzen weder ein Gehirn noch ein komplexes Nervensystem besitzen, reagieren sie auf eine Vielzahl von Reizen wie Licht, Schall, Berührung und chemische Signale.
Pflanzen sind keine starren, unempfindlichen organischen Substanzen; vielmehr sind Pflanzen empfindliche und wahrnehmende Lebewesen, die mit Sinnen ausgestattet sind. Diese „Grünwesen“ nehmen ihre Umgebung bewusst wahr und reagieren darauf, als wären sie intelligente Wesen. Sie kommunizieren und kooperieren miteinander, sie können sich erinnern, sogar zählen und aus Erfahrungen lernen. In unserer Welt würden wir solche Fähigkeiten als kognitiv bezeichnen.
Ein neues Verständnis für diese komplexen und oft übersehenen Aspekte des pflanzlichen Lebens könnte unsere Sichtweise auf das Pflanzenreich revolutionieren und uns selbst zugutekommen. Wer von uns hätte gedacht, dass Pflanzen vor Fressschäden warnen und chemische Signale freisetzen, um benachbarte Pflanzen vor Schädlingen zu warnen oder Hilfe mobilisieren? Allein diese Fähigkeit zur Kommunikation zeigt, dass Pflanzen aktiv in ihrem Ökosystemen agieren.
Kurzer Ausritt durch die Geschichte der bioelektrischen Signale in Pflanzen
Im 18. Jahrhundert entdeckte Galvani den Froschschenkel als die Urform des „galvanischen“ Elements, denn dieser war nicht nur ein stromerzeugendes „Element“ selbst, sondern zeigte zugleich durch Zuckungen den elektrischen Strom an. Angeregt durch diese Erkenntnis, führte mein verehrter Naturforscher Alexander von Humboldt tausende Experimente mit Tieren und Pflanzen durch. Er kam zu dem Schluss, dass die bioelektrische Natur von Pflanzen und Tieren auf denselben Prinzipien beruht. 1842 gelang Emil Heinrich du Bois-Reymond der Nachweis der „tierischen Elektrizität“. In seinen Forschungen entwickelte, konstruierte und verfeinerte er mehrere wissenschaftliche Instrumente, wie das Galvanometer, eine Vorstufe des Elektrokardiogramm, das später zum Spezialzweig der medizinischen Diagnostik gehörte.
Berührungsreize: Elektrische Signalübertragung, sog. Aktionspotentiale
Die moderne Wissenschaft hat Messgeräte, neuartige EEG’s, die selbst die geringsten Ströme in Billionstel Ampere-Stärke aufspüren können. Wird eine Pflanze angefressen, entstehen Aktionspotentiale, die sich über die pflanzlichen Nährstoffleiterbahnen (Phloem) ausbreiten. In der Folge entströmt das Gas Methylsalicylat. Dieser Stoff tötet die Eindringlinge im Blattgewebe – zugleich werden durch Duftstoffe andere Pflanzenkollegen in der Nachbarschaft gewarnt.
Mimosenhaftes „Berührungsgedächtnis“
Erstmals kam ich mit dieser berührungsempfindlichen „Pflanzendiva“ in Südindien in Kontakt, auf dem Weg zu den mystischen Palmblatt-Bibliotheken der spirituellen Rishis mit ihren niedergeschriebenen Lebenschroniken auf Palmblättern. Der südindische Guide machte mich auf ein Gewächs am Wegesrand aufmerksam. Er drängte mich feixend, es mal zu berühren. Und siehe da, auf den Berührungsreiz meiner Hand schloss das Gewächs geschwind seine Blätter – übrigens ist das die schnellste Bewegung überhaupt in der Pflanzenwelt. Verblüffend dabei ist, dass die Mimose lernen kann, ob ein wiederholter Reiz ungefährlich oder potenziell gefährlich ist. Das würde aber ein sich Erinnern an das Erlebte voraussetzen. Die wissenschaftliche Erkenntnis dazu: Selbst nach vierzig Tagen kann sich Fräulein „Rühr-mich-nicht-an“ an das Ereignis erinnern und hat abgespeichert, ob es die Blätter einzieht oder eben nicht. Da bekommt das sprichwörtliche Elefantengehirn beachtliche Konkurrenz aus der grünen Welt. Das Berührungsphänomen wird als Thigmonastie bezeichnet und dient wahrscheinlich als Abwehrmechanismus gegen Fressfeinde. So zeigen auch insektenfressende Pflanzen wie die Venusfliegenfalle, Kannenpflanzen und der Sonnentau dieses Verhalten.
Übrigens zeigen Blätter und Blüten vieler Pflanzen sogenannte „Schlafbewegungen“. Sie öffnen oder entfalten sich bei Sonnenaufgang (Photonastie) und schließen oder falten sich bei Sonnenuntergang (Nyktinastie). Haben Sie schon einmal ein Feld mir Sonnenblumen beobachtet? Ihre „Kopfgemeinschaft“ bewegt sich exakt nach dem Sonnenstand wie der Schatten einer Sonnenuhr.
Eimal berührt, und ab geht’s in die Todeszelle der Venusfliegenfalle
Von wegen bloße Abwehr, denn eine Berührung mit der Venusfliegenfalle könnte für ein Insekt tödlich sein. Diese Pflanze lebt auf mageren Böden, sie trachtet nach tierischem Zubrot. Als raffinierte, energiesparende Insektenjägerin hat sie auf der Innenseite ihrer Fangblätter spezielle Drückerhaare. Berührt ein Insekt in kurzer Zeit zwei dieser Triggerhaare, wird ein elektrisches Signal, ein Aktionspotential erzeugt, das spezielle Ionenkanäle in den Pflanzenzellen weiterleitet; die Fangblätter beginnen sich darauf zu schließen. Nach dem „Einkerkern“ des Beutetiers, beginnen sofort freigesetzte Enzyme mit der Verdauung. Wie genau aber diese biochemischen Mechanismen ablaufen, ist noch nicht ganz verstanden.
„Erinnerungen“ – wie wir das in unserer Welt nennen
Pflanzen können sich an elektrischen und magnetischen Felder orientieren, so wie Vögel. Sie haben einen Sinn für künftige Ereignisse – wie Wetter oder Erdbeben. Zum Beispiel spüren Tomaten atmosphärische Tiefs drei Tage im Voraus und verstärken dann ihre Außenhaut. Gartenfreunde mit dem sprichwörtlich grünen Daumen können das ja mal mit einer Mikrometerschraube akribisch nachmessen.
Ein autobiographischer Einschub: Verrückte Jugend-Experimente
Als Heranwachsender führte ich aus Spaß meinen Partygästen in einer Tanzpause kleine Experimente vor. Da wurde schnell mal eine Bockwust gegart, indem ich direkt an ihren beiden Enden über Krokodilklemmen die volle Netzspannung anlegte, dies unter dem Motto: Nach dem Gesetz von Joule, erwärmt der Strom die Spule, oder besser gesagt, die Wurst – die gegart „nach Elektrizität“ schmeckte. Das war zwar gefährlich, aber nach sehr kurzer Zeit war die Wurst eben essbereit.
Ein anderes Mal zeigte ich, wie ein sonst unbrennbarer Zuckerwürfel mit blauer Flamme bildschön verbrennt. Es genügt, wenn man ihn an einer Würfelecke mit etwas Zigarettenasche betupft und dort anzündet. Die Asche (Kohlenstoff) wirkte als Katalysator. Probieren Sie’s mal.
In meiner Experimentierbude liefen weitaus skurrilere Versuche ab. Ein vages Experiment verdutzte mich besonders. Dazu tauchte ich an einem Faden aufgereihte frische Erbsen in ein Wasserbad, das ich erhitzte. An den Enden der „in Reihe geschalteten Erbsen“ hatte ich ein hochohmiges Galvanometer angeschlossen. Bei einer bestimmten Temperatur schlug urplötzlich das Instrument aus. Ich war verblüfft. Was war da geschehen? War das etwa der „Sterbezeitpunkt“ der gegarten Erbsen? Das war mir unerklärlich und unheimlich.
Heute könnte man das vielleicht so beschreiben: Bei einer bestimmten Temperatur wurden die Zellmembranen der Erbsen zerstört. Dies kann dazu führen, dass Ionen aus den Zellen freigesetzt werden: Die elektrische Leitfähigkeit erhöht sich augenblicklich. Genauer gesagt, handelt es sich um ein elektrisches Signal, das aus einer vorübergehenden Änderung des elektrischen Potenzials über einer Zellmembran (Membranpotenzial) bestehen. Signalisierten die zerstörten Zellmembranen das Ende ihrer biologischen Funktion?
Ein kurioses Kaktus-Experiment – ein faszinierendes Phänomen
Mit einer historischen Influenzmaschine lassen sich durch elektrostatische Induktion Gleichspannungen im Kilovoltbereich erzeugen. Ich stellte einen Kaktus in das damit erzeugte elektrostatische Feld. Auf den spitzen Kaktus-Stacheln bildeten sich leuchtend-funkelnde Entladungen mit hoher Feldstärke, wie das wunderbare Elmsfeuer an Segelmastspitzen bei einem Gewitter.
Was bioakustische Signale bewirken
Eine spannende Entdeckung ist, dass Pflanzen auf bioakustische Signale reagieren können. Dr. Mancuso zeigte, dass Pflanzen Geräusche wahrnehmen und darauf ansprechen. Untersuchungen bewiesen, dass bestimmte Pflanzenarten ihre Wurzeln in Richtung der Quelle von Wassergeräuschen wachsen lassen können. Und Pflanzen stoßen einen „Ultraschallschrei“ aus, wenn ihre Blätter abgeschnitten werden oder sie nicht genug Wasser bekommen. Bestimmte Arten von Musik fördern das Pflanzenwachstum. Klassische Musik, wie Mozarts „Eine kleine Nachtmusik“, übt nachweislich eine positive Wirkung auf Pflanzen aus, während harsche Musik wie Heavy Metal das Wachstum negativ beeinflusst. Ebenso regen ruhige Stimmen das Wachstum an, während Anschreien dies verhindert. Mit Gesprächen und Liedern bedacht, erbrachten umsorgte Tomatenpflanzen letztlich mehr Früchte. Übrigens wurde dieser positive Effekt durch guten Zuspruch auch beim Einblatt und der Diefenbachie, einem Aronstabgewächs, beobachtet.
Das Vielauge der Pflanze
Pflanzen sehen zwar nicht wie in unserem Sinne, aber sie können Licht und Schatten wahrnehmen. Durch Photorezeptoren erkennen sie die Richtung und Intensität des Lichts. Das hilft ihnen, sich optimal zum Licht zu orientieren. Grüne Pflanzen absorbieren sehr stark blaues und rotes Licht, reflektieren dafür grünes und nahes Infrarotlicht. Im Gegensatz zu Menschen nehmen die Pflanzen das Nah-Infrarot wahr. Sie quantifizieren das Verhältnis zwischen Rotlicht und Nah-Infrarotlicht, das sie aus der Umgebung erkennen.
Der Botaniker Haberlandt (1854 bis 1945) hatte folgende These: Pflanzen können durch ihre Epidermiszellen – geformt als eine Art konvexer Linsen – Bilder sehen, die sie auf darunterliegenden Zellschichten projizieren. Das war für die damalige Wissenschaft zu fantastisch, und so geriet seine These in Vergessenheit. Erst in den letzen Jahren hat man typische Zellen entdeckt, die den Strukturen der Hornhaut und Netzhaut unserer Augen entsprechen. Es gibt da eine Kletterpflanze mit der Fähigkeit zur Mimikry – der „Oktopus“ der Pflanzen – die die Blätter der Bäume imitiert, um die sie sich ranken.
Verspüren Schnittblumen menschliche Zuneigung und Pflege?
Experimentierfreudige Männern neigen dazu, die Monotonie/Monogamie ihrer Liebe bigamisch zu beleben. Folgender Test kann ihnen Entscheidungsklarheit bringen: Mit dem Kauf von zwei schnittgleichen, frischen Lilien – noch am gleichen Tag ein Doppeldate mit den „Liebsten“ verabredend – bekommt jede der Herzensdamen als Geschenk eine der Lilien „in Pflege“. Nach zwei Wochen steht ein erneuter Treff an, diesmal mit der banalen Frage: „Wie geht es übrigens deiner Lilie?“ Sollte die Antwort der Liebsten heißen: „Nicht so gut, sie ist leider schon welk“, könnte das nicht nur auf einen Pflegemangel hindeuten, sondern auch ein Indiz sein für eine welke Liebesbeziehung.
Haben Pflanzen Gefühle, können sie unsere Gedanken lesen?
Häufig begegnet die etablierte Wissenschaft neuen, ungewöhnlichen Beobachtungen mit Skepsis. Durchbrüche, die zunächst auf Ablehnung stoßen, werden später als revolutionär anerkannt, etwa die Entdeckung der DNA-Struktur durch Watson und Crick. Andererseits werden einige „paranormale“ Phänomene sprachlich vermenschlicht – so sprechen wir beispielsweise auch bei Pflanzen von Gefühlen und Bewusstsein.
1966 begann alles: Der Drachenbaum im Arbeitszimmer des CIA-Angestellten Cleve Backster war das erste Testobjekt für seinen neu entwickelten Lügendetektor (eine bis heute wissenschaftlich umstrittene Methode zur Aufdeckung von Lügen; ich sag da mal: eine Zimmerpflanze lügt nicht). Aus einer Laune heraus wollte Backster beobachten, wie sich seine Zimmerpflanze nach dem Gießen verhielt – erwartungsgemäß sollte der Leitwert sinken. Doch der Schreiber des Detektors zeigte eine Kurve, die der einer menschlichen Reaktion auf eine unangenehme Frage ähnelte. Das war mehr als verblüffend. Nachdem er von der CIA gefeuert wurde, unternahm Backster zahlreiche weitere Experimente und fand vor allem in mystischen Indien großes Verständnis und Anerkennung für seine Arbeit.
Ein besonders beeindruckendes Ereignis: Eine Frau besuchte Backster, unbemerkt begleitet von einer nervös herein schwirrenden Wespe. Als die Dame den unwillkommenen Luftgast bemerkte, geriet sie in Panik und schlug abwehrend wild um sich – der Lügendetektor reagierte ebenfalls heftig. Eine solche Reaktion bei einer Pflanze erscheint eher unwirklich. Ebenso wie ein weiteres Experiment zeigt: Als Backster daran dachte, ein Blatt seiner Pflanze zu verbrennen und auf dem Wege war, Streichhölzer zu holen, reagierte der Drachenbaum bereits heftig, bevor er seinen Versuch in die Tat umsetzen konnte. Es bleibt uns überlassen, ob wir dies als Mitgefühl oder Angst interpretieren. Doch was sich hier abspielte, kann durchaus als paranormal gewertet werden, zumal beide Ereignisse über eine gewisse Distanz stattfanden.
Einsichten
Pflanzen galten lange als wachstumsgetriebene „Roboter“, die nur ihr vorgezeichnetes Lebensprogramm abspulen. Doch moderne Forschung öffnet unsere Augen für die wahre Fähigkeiten und ihren komplexen Fähigkeiten zur Interaktion mit der Umwelt. Diese „Grünwesen“ verdienen nicht nur unseren Respekt, sondern auch unseren Schutz. Ihre Pflanzenwürde ist schützenswert, und klar, das hemmungslose Abholzen der Regenwälder ist ein Frevel.
Das Empfinden von Mitgefühl ist keineswegs ausschließlich den Menschen vorbehalten. Im Gegenteil, bei vielen Mitmenschen hapert es eher daran. Die Reaktionen von Pflanzen auf ihre Umwelt und Mitgeschöpfe bieten uns faszinierende und wertvolle Lektionen. Am Pflanzenwesen kann der Mensch tatsächlichen genesen. Seien wir neugierig, erkunden wir’s.
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Wir danken dem Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bildquelle: Sorapop Udomsri / shutterstock
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