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Wie überschreiben wir 80 Jahre Pazifismus-Gen? | Von Hermann Ploppa

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Wir können es ja noch mal versuchen, uns als Kriegshelden zu verwirklichen. Allerdings müssen wir dafür schwer büßen. Von Deutschland bleibt dann nur noch so ein bisschen wie Helgoland übrig. 

Ein Standpunkt von Hermann Ploppa.

Es ist schon verrückt. Da wird den Deutschen immer wieder bescheinigt, eine besondere Neigung zu Militarismus und Obrigkeit zu besitzen. Doch dann fragt tatsächlich eine Caren Miosga den Ex-Außenminister Joschka Fischer, wie man denn am besten das verhängnisvolle deutsche Pazifismus-Gen überschreiben könne <1>? Plötzlich sind wir Deutschen kriegsunwillig.

Das ist nicht gut. Denn wenn wir den Frieden dauerhaft gegen die bösen Russen behaupten wollen, dann müssen wir für den Krieg rüsten. Die ollen Römer haben das schon vor zweitausend Jahren gewusst: „Si vis pacem, para bellum!“ Also: „Wenn Du den Frieden willst, dann bereite Dich auf den Krieg vor!“ Seit Beginn des Zwanzigsten Jahrhunderts sind Angriffskriege völkerrechtlich geächtet. Seitdem gibt es grundsätzlich nur noch Verteidigungskriege. Alle Kombattanten verteidigen sich. Das weiß man doch. Denn es gibt keine Angreifer mehr. Angreifer sind grundsätzlich immer nur die anderen. 

Achtzig Jahre, und kein bisschen weise

Das Ende des Zweiten Weltkrieges liegt jetzt genau achtzig Jahre zurück. Es leben nur noch wenige Menschen unter uns, die die unbeschreiblichen Gräuel des Zweiten Weltkrieges noch persönlich erlebt und erlitten haben. Auch die Menschen, die Kriegserlebnisse von ihren Eltern und Großeltern erzählt bekamen, treten zunehmend aus dem aktiven Leben heraus. Die nachwachsende Generation, die jetzt die Geschicke unserer Gesellschaft bestimmt, hat keinerlei Vorstellung mehr davon, was Krieg eigentlich wirklich bedeutet. Krieg ist seltsamerweise abstrakt. Obwohl wir doch ständig in den Medien mit sehr konkreten Kriegsgräueln in Nahost oder in der Ukraine beliefert werden. Und wer mehr grausame Details sehen möchte, kann sich seinen Stoff im Internet besorgen. Und wer es ganz hart braucht, verschafft sich ohne große Mühen den Zugang zum Darknet.

Und das ist der Punkt. Zum Einen ist da ja immer noch diese schützende Scheibe des Monitors, die uns vor dem direkten Kontakt mit dem Gemetzel bewahrt. Es ist doch nur ein Spiel, oder? Wer heute das Erwachsenenalter erreicht, ist abgestumpft. Der hat bis zu seinem 18. Geburtstag bereits 32.000 Morde in den Medien gesehen <2>. Der ist mit der Steinzeitlogik indoktriniert worden, dass derjenige gewinnt, der als erster zieht. Dass Gewalt die normale Art der Konfliktlösung ist.

Der Schock kommt rasch, wenn sich solche Personen dann plötzlich persönlich in einem realen Krieg befinden. Der Schock ist kaum heilbar. Die so genannte Posttraumatische Belastungsstörung wird immer häufiger diagnostiziert <3>. Auch inmitten unserer Gesellschaft leben immer mehr Menschen, die posttraumatische Belastungsstörungen erleiden. Es wird unter der Decke gehalten. Und die Traumatisierten sind meistens auch bemüht, nicht aufzufallen.

Müssen wir das jetzt auch noch auf die Spitze treiben mit einem Krieg gegen Russland? Einstweilen ist ja der Einsatz von Bundeswehrsoldaten an der ukrainischen Front noch undenkbar. So versichert es jedenfalls der neue Außenminister und Merz-Intimus Johann Wadephul in einem Gespräch, das er mit russischen Journalisten geführt hat, die sich fälschlich als Selenskyj-Vertraute ausgegeben haben <4>. Wadephul meint den Herren gegenüber, den Taurus könne man ruhig in die Ukraine schicken, aber Bundeswehr-Soldaten, das ginge nicht. Da würden dann Zinksärge nach Deutschland zurückkehren, und das würde der Wähler nun gar nicht gut finden. Dann wird der Wadephul womöglich nachher nicht mehr wiedergewählt. Schade aber auch. Wadephul versichert seinen russischen Gesprächspartnern mit einem verschmitzten Lächeln, er sei nicht dumm …

Politiker mit einer solchen mangelhaften kognitiven und moralischen Ausstattung führen uns hier lachend in einen ganz handfesten Krieg. Sicher. Geopolitisch sind wir heute in einer deutlich komfortableren Situation als unsere Altvorderen im Ersten oder im Zweiten Weltkrieg. Im Ersten Weltkrieg musste das Deutsche Reich seine blinden und lahmen Verbündeten, das österreichisch-ungarische Kaiserreich und das Osmanische Reich therapeutisch betreuen und dabei auch noch einen Zweifrontenkrieg führen. Auch Hitlers Krieg artete schnell in einen Zweifrontenkrieg aus. Demgegenüber sind wir Deutschen heute von Freunden umzingelt. Es bahnt sich gerade eine Dreier-Allianz aus Frankreich, Polen und Deutschland an.

Nach außen hin hui. Aber nach innen hin: pfui! Unsere wirtschaftlichen und sozialen Probleme versetzen uns nämlich in einen Zustand der Lähmung, der Desintegration und der inneren Kündigung. Schlechte Voraussetzungen, um eine Gesellschaft in den Zustand der konzentrierten gemeinsamen Anstrengung eines Angriffskrieges zu versetzen. Das Pazifismus-Gen war nie da. Es muss nicht umprogrammiert werden. Jedoch das Intelligenz-Gen ist abhanden gekommen <5>. Das hat man weg programmiert. Aber die selbstgerechten nachwachsenden Eliten auf der anderen Seite sind nie ernsthaften Herausforderungen ausgesetzt gewesen. Sie sind nie mit dem realen Leben draußen an der Überlebensfront konfrontiert worden. Ihre Karriere bewegt sich vom Kreißsaal zum Hörsaal und von dort direkt zum Plenarsaal. Was wissen denn diese Treibhauspflanzen vom realen Leben mit seinem Blut, dem Schweiß und den vielen Tränen?

Wir sind nicht dumm, nicht wahr, Herr Wadephul?

Das Einschussloch in der Stirn des Religionslehrers

Unsere Altvorderen sind nicht gefragt worden, ob sie gegen die ganze Welt Krieg führen möchten. Meine Tante Reni schrieb am 1. September 1939 in ihr Tagebuch: „Der Krieg beginnt. Es ist nun leider doch passiert!“ Kriegsbegeisterung klingt anders. Die ersten drei Jahre haben die Deutschen dann noch nicht so viel vom Grauen des Krieges mitbekommen. Der Krieg fand in jenen Tagen noch vornehmlich in der Ufa-Tonwoche statt, die man vor dem großen Kinofilm ansehen musste. Da war nur von Siegen der deutschen Wehrmacht in irgendwelchen Ecken der Welt, die man noch gar nicht kannte, die Rede.

Aber dann, etwa ab 1942, nahm der Horror so langsam Fahrt auf. Der Frosch im langsam heißer werdenden Kochtopf. Und nach dem gescheiterten Attentat gegen Hitler am 20. Juli 1944, haben die Alliierten so richtig aufgedreht. Noch in den letzten drei Monaten des Krieges, als schon alles entschieden war, wurde ein flammendes Inferno über Deutschland ausgeschüttet. Städte wie Düren, Paderborn oder Wesel wurden komplett ausgelöscht. Nach Schätzungen des Historikers Wolfgang Benz wurde die Hälfte aller Wohnungen im Deutschen Reich zerstört <6>. Deutsche Kulturensembles wie das Elbflorenz Dresden wurden zu siebzig Prozent ausradiert <7>. Millionen Deutsche waren plötzlich obdachlos. Als die Wehrmacht sich schon im Häuserkampf gegen die Rote Armee in Berlin befand, flüchteten die Menschen in die Bunker und Keller. Wer dort keinen Platz mehr fand, suchte in den U-Bahnschächten Schutz. Doch die SS sprengte am 2. Mai 1945 einen Schacht unter dem Landwehrkanal. Wasser ergoss sich in die Schächte. Tausende Berliner ertranken elendiglich <8>.

Währenddessen strömten vierzehn Millionen obdachlos gewordene Flüchtlinge aus den verlorenen Ostgebieten in das geschrumpfte Rest-Deutschland und verschärften die Wohnungsnot dramatisch <9>. Dazu kamen zwölf Millionen sogenannte Displaced Persons, die entweder in ihre Heimat zurück wollten oder aufgrund des Stalin-Terrors eben gerade nicht wieder nach Hause wollten <10>. Displaced Persons: das ist ein Sammelbegriff für Menschen, die von den Nazis aus anderen Ländern nach Deutschland zur Zwangsarbeit deportiert wurden. Oder aber befreite Insassen von Konzentrationslagern, die keinerlei Beziehungen mehr besaßen, weil ihre Liebsten vergast worden waren oder vielleicht nach Palästina auswanderten.

Das ganze Völkergemetzel hatte einen furchtbaren Blutzoll gefordert. Insgesamt sind siebzig Millionen Menschen im Zweiten Weltkrieg durch Gewaltakte zu Tode gekommen <11>. Den größten Anteil hatte die Sowjetunion zu beklagen mit zehn Millionen gefallenen Soldaten und fünfzehn Millionen Zivilisten. Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion war kein gewöhnlicher Krieg. Hier ging es tatsächlich darum, die Menschen in der Sowjetunion auszurotten – nichts weniger. Und immer noch ist kaum bekannt, wer nach der Sowjetunion die meisten Kriegsopfer zu beklagen hatte. China hatte im Krieg gegen den Aggressor Japan tatsächlich den Tod von 3,5 Millionen Soldaten und 16,5 Millionen Zivilisten zu beklagen. An dritter Stelle folgt Deutschland mit 5,533 Millionen gefallenen Soldaten und angeblich nur 2,67 Millionen getöteten Zivilisten. Auf Platz vier folgt Polen mit 240.000 gefallenen Soldaten und 5,35 Millionen ermordeten Zivilisten. Die Monstrosität des Horrors kann man kaum in Worte fassen.

Die Wunden waren auch in meiner Kindheit nicht verheilt. Unter unseren Nachbarn und Bekannten fanden sich unglaublich viele Witwen von gefallenen Soldaten. Einem Mann waren beide Arme amputiert. An seinen Armstümpfen waren zwei Eisenhaken anmontiert. Der Mann arbeitete als Geldbriefträger für die Banken. Denn damals gehörte es sich nicht, einen Kriegsversehrten auszurauben. Ein Beinamputierter zog mit einem Riemen einen Bullerwagen hinter sich her, in dem er Schrott sammelte und dann verkaufte. Unser Religionslehrer war kriegsblind. Über seiner Sonnenbrille war in der Stirn in tiefes Einschussloch zu sehen. Ich träumte als Kleinkind von Kopf-amputierten, die friedlich durch den Park spazierten. Wenn die Luftschutzsirene versehentlich zu heulen anfing, sind die Frauen reflexartig los gerannt, bis sie begriffen, dass der Krieg ja vorbei war.

Es gibt Völker, die leiden immer noch unter dem Zweiten Weltkrieg. Die Russen zum Beispiel tragen bei ihren Siegesparaden die Bilder ihrer im Krieg gefallenen Verwandten vor sich her.

Wo ist unser Gedächtnis?

Wir haben schon in der Folge des Ersten Weltkriegs dreizehn Prozent unseres Staatsgebietes und zehn Prozent unserer Bevölkerung verloren <12>. In der Folge des Zweiten Weltkriegs haben wir noch viel mehr Territorium und Menschen eingebüßt. Dazu kommt der Verlust unserer Soft Power. Die Deutschen sind nach Hitlers schmutzigem Krieg auch aus Regionen vertrieben worden, wo sie bis dahin anerkannt und geachtet als Minderheit friedlich gelebt haben. In Prag oder Budapest oder in der Bukowina, wo deutsche Gemeinden ihre Kultur und Sprache gepflegt haben, gibt es keine deutsche Literatur und Kunst mehr. Einen Franz Kafka oder einen Paul Celan sucht man dort vergebens.

Ja, was brauchen wir denn noch? Sollen wir uns von Gestalten wie Merz oder Wadephul in einen Krieg jagen lassen, nach dessen Ende Deutschland wahrscheinlich noch die territoriale Ausbreitung von Helgoland hat?

Wir sind doch nicht dumm, oder?

Quellen und Anmerkungen

<1> https://www.youtube.com/shorts/BS2PDh1vybA

<2> http://www.antimedien.de/wieviel-gewalt-braucht-das-fernsehen/

<3> https://bundestag.de... (Link aufgrund der Länge gekürzt)

<4> https://www.youtube.com/watch?v=SiGAEiAHLww

<5> Thomas Wieczorek: Die verblödete Republik – Wie uns Medien, Wirtschaft und Politik für dumm verkaufen. München 2009

<6> https://www.bpb.de/shop/zeitschriften/izpb/deutschland-1945-1949-259/10057/infrastruktur-und-gesellschaft-im-zerstoerten-deutschland/

<7> https://www.youtube.com/watch?v=4t0WVrcy9lA&t=743s

<8> https://www.welt.de/geschichte/zweiter-weltkrieg/article140343591/Die-Flutung-der-Berliner-Tunnel-markierte-das-Ende.html

<9> https://www.mdr.de/geschichte/ns-zeit/zweiter-weltkrieg/nachkriegszeit/vertriebene-deutsche-sudetendeutsche-heimat-ostpreussen100.html

<10> https://migrations-geschichten.de/displaced-persons-dps/

<11> https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1055110/umfrage/zahl-der-toten-nach-staaten-im-zweiten-weltkrieg/

<12> https://cms.sachsen.schule... (Link aufgrund der Länge gekürzt)

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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.

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Bild: Zerstörtes Berlin 1945
Bildquelle: Everett Collection / shutterstock


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