Die Entsolidarisierungspolitik des Hendrik Streeck
Ein Kommentar von Paul Clemente.
Einer Politik, die den homo oeconomicus zum Ideal erklärt, sind Bürger, die sich nicht dem Markt hingeben, eine Provokation. Dabei spielt der Grund keine Rolle. Während Bundeskanzler und Mehrfach-Millionär Friedrich Merz den Bürgergeld-Empfängern so richtig einheizen will, hat Parteikollege Hendrik Streeck eine andere Gruppe im Visier. Eine, die ebenfalls keiner „Wertschöpfung“ nachgeht. Richtig: Die Rentner. Deren Arbeit ist getan. Von denen ist nichts mehr zu erwarten. Sie „kosten“ lediglich. Das inspiriert diverse Politiker regelmäßig zur Entsolidarisierung mit den Alten.
Als Vorkämpfer gilt der CDU-Politiker Philip Mißfelder. Der sorgte sich schon 2003 um die Finanzierbarkeit des Gesundheitssystems. Dabei ließ er keinen Zweifel, wo der Roststift anzusetzen ist:
„Ich halte nichts davon, wenn 85-Jährige noch künstliche Hüftgelenke auf Kosten der Solidargemeinschaft bekommen.“
Früher seien die Alten doch auch auf Krücken rumspaziert.
Was Mißfelder natürlich nicht aussprach: Dass reiche Rentner sich solche OPs trotzdem leisten können. Private Zahlung geht schließlich immer. Krücken drohen lediglich Vertretern der Unterschicht. Kein Zufall, denn solche Kürzungen werden stets von Personen vorgebracht, für die eine „Eigenbeteiligung“ kein Problem darstellt. So entscheiden Großverdiener oder gar Millionäre über Elend oder gar Tod einer verarmenden Bevölkerung.
Dass Mißfelders Vorschlag manchen FDP-Politiker beglückte, bedarf kaum der Erwähnung. Deren Ex-Gesundheitsminister Daniel Bahr versuchte 2012 ein Remake. Seine Behauptung: „Experten“ würden an der Notwendigkeit zahlreicher Knie- und Hüftprothesen zweifeln. 2010 habe man fast 400 000 neue Hüft- und Kniegelenke eingesetzt – so stehe es im Krankenhaus-Report 2010 der Barmer GEK. Aber auch Bahrs Reanimationsversuch scheiterte.
13 Jahre später, im Herbst 2025, plant die Merz-CDU ein glanzvolles Comeback für die Bundeswehr. Dazu benötigt man Geld. Und woher nehmen? Wie wärs mit dem Schreddern der Sozialsysteme? Das wurde vor 45 Jahren schon einmal durchgesetzt: Damals hatte US-Präsident Ronald Reagan sein Wettrüsten unter anderem durch Kürzung von Sozialprogrammen finanziert.
Ist der Zeitgeist erst vergiftet, trauen sich auch die Möchtegerns ans Mikrophon. So forderte Thomas Lemke, Vorstandsvorsitzender der Klinikengruppe Sana, vor wenigen Wochen im Podcast Table.Today:
„Wir müssen als Gesellschaft uns fragen, ob wir in jeder Lebensphase, wo die Menschen sind, und da rede ich jetzt auch 80 aufwärts sozusagen, diesen Menschen am Ende des Tages die vollumfängliche Medizin zukommen lassen.“
Das beziehe sich auf Implantate, Hüft- und Kniegelenke. Lemke verwies auf die angeblich „meisten anderen Länder der Welt“, wo medizinische Versorgung ab einem bestimmten Alter nur noch gegen Eigenbeteiligung gewährleistet sei.
Solche limitierten Vorstöße werden vom Drogenbeauftragten der Bundesregierung, CDU-Politiker Hendrick Streeck, locker überholt. Der geht gleich aufs Ganze. O-Ton:
„Es gibt einfach Phasen im Leben, wo man bestimmte Medikamente auch nicht mehr einfach so benutzen sollte.“
Mit Phasen ist natürlich das Alter gemeint. Ohne Andeutung und Euphemismen lautet die Frage: Soll man den Greisen noch teure Medikamente verschreiben? Streecks Antwort: Nein. O-Ton:
„Da müssen wir ran. Ich glaube, das muss anders laufen. Ich glaube, in der Selbstverwaltung der Medizin, da gehört es ja rein, da brauchen wir klare und verbindliche Leitlinien, dass bestimmte Medikamente auch nicht immer ausprobiert werden sollten.“
Natürlich hat der Drogenbeauftragte ein Beispiel parat: Wenn Studien behaupten, ein Medikament könnte die Mortalität um 10 Prozent verringern, wäre dessen Anwendung nicht immer sinnvoll: „Wenn man das (...) bei einer 100-Jährigen macht, dann ist die Frage: Will man wirklich diese teuren Medikamente?“ Tja, will man das? Oder möchte man lieber, dass die Alte endlich Leine zieht?
Selbst das Sterben des eigenen Vaters dient Streeck als abschreckendes Exempel: Für den Schwerkranken wurde „so viel Geld ausgegeben“ und es „hat nichts gebracht. Es wurden die neuesten Therapien aufgefahren – es hat nichts gebracht und er hat dort mehr ausgegeben als je in seinem ganzen Leben im Gesundheitswesen.“ Was will der Drogenbeauftragte damit sagen? Dass man die Therapien gar nicht hätte versuchen sollen?
Freilich ist Streeck bemüht, seine Vorschläge humanistisch zu tarnen:
„Es geht nicht ums Sparen, sondern darum, Menschen etwas zu ersparen: Wie wir sie in ihren letzten Lebensphasen verantwortungsvoll begleiten - statt sie aus falschen Anreizen zu überversorgen"
Falsch! Es geht Streeck durchaus ums Sparen. Schließlich hatte er die hohen Kosten der Medikamente doch eingeräumt. Es ist erstaunlich, wieviel Kreide die Neoliberalen fressen, um ihren Sozialabbau schmackhaft zu machen.
Die Selbstdarstellung des Virologen als Beschützer der Senioren vor den Qualen überteuerter Medizin betonte er auch in seinem Gastbeitrag für die Rheinische Post:
„Wenn die Wahrscheinlichkeit zu sterben größer ist als die zu genesen, dürfen weder Kosten noch theoretische Möglichkeiten entscheiden. Sondern der Wunsch des Menschen. Seine Würde. Sein Frieden".
- Ja, klar. Aber der Patient sollte diesen Wunsch selber zum Ausdruck bringen. Nicht die Politik für ihn. Und für den Fall, dass er eine Entscheidung nicht mehr treffen oder kundtun kann, sorgt eine Patientenverfügung für Abhilfe.
Zum Glück provozierte Streecks Vorschlag eine parteiübergreifende Ablehnung. Selbst Mainstream-Medien wie die Taz bemerkten die „gespielte Unschuld“ des Drogenbeauftragten, sprachen von der kalten Logik der Bilanzen. Sogar die Bundesregierung ging auf Distanz. Steffen Meyer, stellvertretender Regierungssprecher, stellte laut der Nachrichtenagentur KNA fest: Es sei legitim, wenn Streeck eigene Vorschläge mache, aber er müsse sich auch der Verantwortung seines Amtes bewusst sein. Es wäre ratsam, bestimmte Themen zunächst vernünftig vorzubereiten.
Es wäre auch extrem peinlich gewesen, hätte die CDU da mitgespielt. Wer sich noch erinnern kann: Vor fünf Jahren hat sie ihre Lockdown-Politik mit der Gesundheit und dem Lebenserhalt alter Menschen begründet. Da wurde das Leben der Alten plötzlich so wichtig, dass man sie lieber einsam sterben ließ als dem Risiko einer Corona-Infektion auszusetzen.
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bild: FRANKFURT AM MAIN, Deutschland - 16. Oktober 2024: Hendrik Streeck (*1977, deutscher Virologe) auf der 76. Buchmesse Frankfurt
Bildquelle: Markus Wissmann / shutterstock
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