
Zum Kinostart von „Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes“
“Die Lyrische Beobachtungsstelle” von Paul Clemente.
Filmfestival in Oberhausen, 1962. Eine Gruppe junger Regisseure verkündet: Papas Kino ist tot. Weg mit Edgar Wallace, Winnetou und dem Förster vom Silberwald. Es lebe der Neue Deutsche Film. Es lebe das Autorenkino. Unter den Ausrufern: Edgar Reitz. Das Manifest erwies sich als Bombe. Regisseure wie Rainer Werner Fassbinder, Werner Herzog, Werner Schroeter oder Rosa von Praunheim folgten und verhalfen dem deutschen Kino erneut zu jener Weltgeltung, die es 1933 verloren hatte. Und Edgar Reitz?
Der blieb allzu lange ein Unbekannter. Internationaler Durchbruch? Ließ bis auf sich warten. Bis 1984. Dann startete die TV-Serie „Heimat“, eine Chronik deutscher Geschichte von 1900 bis in die Fünfziger. Aber nicht aus der Perspektive von Stadtbewohnern. Nicht aus Berlin oder München. Sondern aus einem kleinen Ort im Hunsrück. Eine Gebirgsgegend, die vielen als Terra Incognita, als weißer Fleck auf der Landkarte gilt.
Hauptprotagonist der Serie: Die Familie Simon, über drei Generationen hinweg. Dezent eingestreut: Erinnerungen des Autors Reitz, der dort geboren wurde. Das Resultat war ein Heimatfilm, ein Stück Leben, vor dem Vergessen bewahrt. Der internationale Erfolg von „Heimat“ ermöglichte Fortsetzungen. Sogar ein Roman entstand. Aber erst 28 Jahre später, mit dem Prequel „Die andere Heimat“, fand das Monumentalwerk seinen Abschluss. Inzwischen ist Regisseur Edgar Reitz 92 Jahre alt. Aufhören tut er deshalb nicht. Folgt man seiner Autobiographie „Lebenszeit“ könnte es die Angst sein, die ihn treibt. Die Angst vor der Vergänglichkeit. Auch der eigenen.
Für Edgar Reitz, Sohn eines Uhrmachers, war und ist Zeit ein Lebensthema. Da ist es konsequent, dass sein neuer Film „Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes“ wieder eine Chronik, wieder eine Recherche im Vergangenen ist. Ein Tauchen nach Verschollenem, Untergegangenem, nicht länger Bewusstem.
Gottfried Wilhelm Leibniz war einer der letzten Universalgelehrten. Der Hannoveraner betätigte sich auf allen Wissensgebieten. Zu seinem bekanntesten Werken zählt die Monadologie, über die fundamentalen Substanzen der physikalischen Welt. Im Gegensatz zu Atomen sind Monaden unteilbar, immateriell. Jede von ihnen enthält das gesamte Universum. Auch die menschliche Seele ist eine Monade und daher unsterblich. Leibniz zweites Großwerk ist die „Theodizee“. Darin fragt der Autor: Wie kann ein guter vollkommener Gott eine Welt voller Schrecken und Leiden hervorbringen? Dieses Werk führt ebenfalls in die Jugend von Edgar Reitz: Schon bei der Abitur-Prüfung hatte er aus der „Theodizee“ zitiert. Der Hannoveraner Philosoph gehört also zu seinen lebenslangen Begleitern.
Im Gegensatz zu Philosophen wie Nietzsche war Leibniz bislang kaum Charakter in einem Spielfilm. Lediglich das 1942er Biopic über den Architekten „Andreas Schlüter“ gönnte ihm einen Kurzauftritt. Die von Reitz und Co-Autor Gert Heidenreich entworfene Geschichte beginnt 1704: Die junge Königin Sophie Charlotte von Preußen ist verzweifelt. Der Berliner Hof bietet ihr null geistige Anregung. Eine intellektuelle Wüste. Nostalgisch denkt sie an ihren Ziehvater und Lehrer, den Philosophen Leibniz. Also bittet sie ihre Mutter, Kurfürstin Sophie von Hannover, um ein Bildnis des Vermissten. Als Trost. Die Mutter kommt der Bitte nach, engagiert den französischen Hofmaler Pierre-Albert Delalandre. Ein hochbezahlter Routinier, der nach Schablone malt. Als Leibniz die vorgegeben Posen verweigert und eine Debatte über visuelle Darstellbarkeit des Menschen lostritt, verliert Delalandre die Geduld und wirft hin.
Eine junge flämische Malerin springt ein. Ihr Name: Aaltje Van De Meer. Die räumt das Atelier leer, verhängt alle Fenster, lässt nur minimalen Lichteinfall zu. Sie modelliert aus dem Dunkel, so wie Rembrandt – und gesteht: Das Licht zu malen falle ihr schwer. Schließlich steht Helligkeit für das Gute. Das aber finde man nur selten. Leibniz entgegnet mit einem Argument aus seiner Theodizee: Die von Gott geschaffene ist die beste aller möglichen Welten. Eine noch bessere könne nicht funktionieren. Die Malerin verwirft solchen Optimismus. Die Debatte steigert sich bis zur tiefsten aller Fragen: „Warum gibt es überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?" Reitz inszeniert ein Wechselspiel: Der Malprozess regt philosophische Debatten an. Die wiederum inspirieren Aaltjes Arbeit am Gemälde.
Der Film zeigt einen Philosophen, an dem Feministinnen ihre Freude hätten. Und nicht zu Unrecht. Der historische Leibniz war unverheiratet. Sexuelle Abenteuer oder Affären sind nicht bekannt. Er schien gänzlich in seinem Denken zuhause. Aber: Er traute Frauen viel zu. Akzeptierte sie als Gesprächspartnerinnen. Schließlich war es eine Philosophin, Anne Conway, die ihn zu seiner Monadologie inspirierte.
Während der Entstehung des Porträts kommt Sophie Charlotte angereist. Ein spontaner Entschluss. Sie ist schwer krank. Mit jedem Tag verliert sie an Kraft. Einmal, Leibniz sitzt Modell, platzt die Ausgezehrte herein, unterbricht den Malprozess. Sie hat Angst, ist verzweifelt. Zitternd berichtet Sophie über ihr Gespräch mit einem englischen Philosophen. Der habe gesagt: Die Seele überlebt den Tod des Körpers nicht. Leibniz beruhigt die Schwerkranke mithilfe seiner Monaden-Lehre. Am Ende ist Sophie Charlotte erleichtert. Ihr Glaube an die Unsterblichkeit ist restauriert. Kurz darauf stirbt sie. Was für ein Aberwitz: Sophie Charlotte ließ das Leibniz-Porträt anfertigen, um sich an ihn zu erinnern. Stattdessen wird sie – umgekehrt – für Leibniz zur Erinnerung. Er hat die junge Frau nämlich um Jahre überlebt.
Für Edgar Reitz sind Malerei und Film verwandt. Deshalb ist „Leibniz – Chronik eines verschollenen Bildes“ auch eine Reflexion übers Filmemachen. Der Hofmaler Delalandre betreibt Kunst als Gewerbe, sucht keine Tiefe, spekuliert aufs Gefällige, ist laut Reitz ein Vorläufer des KI-Designs: Technisch perfekt, aber seelenlos. Genau darin begreift Reitz die Gefahr der Gegenwart: Eine Flut, ein Meer von seelenlosen Bildern. Sorgte sich Sophie über den Fortbestand der Seele nach dem Tod, lautet eine Frage des Films: Wird unsere Seele nicht schon vor dem Tod gemordet? Es war allerdings nicht Leibniz, sondern Friedrich Nietzsche, der vor solcher Zukunft warnte. In „Also sprach Zarathustra“ heißt es: „Deine Seele wird noch schneller tot sein als dein Leib.“
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung dieses Beitrags.
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Bild: die Statue von Gottfried Wilhelm Leibniz an der Universität Leipzig. Er war ein bedeutender deutscher Universalgelehrter und einer der bedeutendsten Logiker, Mathematiker und Naturphilosophen der Aufklärung.
Bildquelle: Danny Ye / Shutersock
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