
“Die Lyrische Beobachtungsstelle” von Paul Clemente.
Am 2. Juli ist es wieder so weit: Dann startet „Jurassic World“ in den Kinos. Untertitel: „Die Wiedergeburt“. Bereits der siebte Teil der Erfolgsreihe. Ergänzt durch eine TV-Serie und massig Merchandising-Produkte. Es war Starregisseur Steven Spielberg, der Urzeitviecher in cineastische Hitparadenstürmer verwandelte. Seit 32 Jahren, seit dem ersten „Jurassic Park“, sind Dinos fester Bestandteil globaler Massenkultur. Dabei waren Saurier keinesfalls die ersten Monster, die Spielberg auf das Publikum losließ. Das erste gehörte einer Spezies an, die seit 400 Millionen Jahre durch die Meere kreist. Die Rede ist natürlich von „Jaws“ – dem weißen Hai. Mit ihm hatte das Schwimmen im offenen Meer seine Unschuld verloren. Endgültig. Die Eröffnungsszene traumatisierte Badeurlauber weltweit: Chrissie, ein Partygirl, gönnt sich am frühen Morgen einen Sprung ins kalte Wasser. Was sie nicht weiß: Ein hungriger Riesenhai wartet auf sie. Während sie die Abkühlung genießt, nähert sich von unten ein riesiger Schatten… Keine Frage, dieser Moment konnte es mit dem Duschmord in Hitchcocks „Psycho“ aufnehmen. Allerdings war „Jaws“ ein Film für Erwachsene. Die FSK ließ ihn hierzulande erst ab 16 zu. Das heißt: Es gab nur wenig Merchandising- Produkte um den Riesenkiller. Alle Fortsetzungen floppten gewaltig. Aber Spielberg war nach dem ersten Teil ohnehin ausgestiegen. Bald spezialisierte er sich auf Kinder- und Jugend-Entertainment. Ob in „Indiana Jones“ oder beim nervtötenden „E.T.“: Zunehmend rückten Adoleszenten ins Zentrum seiner Filme. Ebenso im „Jurassic Park“.
Mit diesem Sci-Fi-Thriller erfüllte Spielberg den Traum aller Paläontologen: Die Auferstehung ausgestorbener Tiere. Der Trick: Forscher finden eine prähistorische Mücke, in Baumharz konserviert. Die hatte kurz vor Finale noch Saurierblut genascht. Folglich enthielt ihr Magen eine ausreichende Menge an Dino-DNA. Genug für eine Neuzucht. Finanziert wird das Projekt von einem Multimilliardär. Der witterte das Big Business. Also ließ er die Forschungsstätte auf der Insel Isla Nublar zum Saurierpark ausbauen. Ein echter Touri-Magnet. Im Jeep können Abenteuerlustige die Insel befahren und die Riesenviecher live bestaunen. Das geht freilich nicht lange gut. Wie zu erwarten war, verlieren die Forscher die Kontrolle, und die Monster laufen Amok…
Nein, „Jurassic Park“ war nicht der erste Saurierfilm. Schon 1914 drehte Winsor McKay den Animationsstreifen „Gertie, der Dinosaurier“. 1925 verfilmte Hollywood den Conan-Doyle-Roman „The lost World“, wo Riesenechsen im Amazonasgebiet überlebt haben. Ähnlich „King Kong“: In ihm wüten Saurier auf der Insel Skull Island. Selbst Walt Disney ließ sich nicht lumpen: 1940, im Zeichentrickfilm „Fantasia“, zeigte er das langsame Verenden der Urzeit-Riesen. Aber es war Spielberg, der die Donnerechsen erstmals am Rechner erstellen ließ. Der übertraf das frühere Stop-Motion-Verfahren bei weitem. Vor allem aber: Spielberg hatte die Saurier ins Familienkino integriert – ohne sie zu kastrieren, zu verniedlichen oder zu verharmlosen. Bedroht wurden nicht nur die Forscher, sondern deren Familien – also auch Kinder. Damit erschloss Spielberg die definitive Fangruppe für seine popkulturellen Riesen. Bis heute. Firmen wie Schleich überschwemmen den Markt mit Saurier-Figuren. Hinzu kommen Bilderbücher und TV-Serien. Wer mit ihnen kuscheln wollte, konnte sie als Stofftier kaufen. Bis heute ist die Marktmacht der Dinos ungebrochen. In Berlin-Lichterfelde gastiert derzeit die Dinoworld aus den USA. Die präsentiert 23 mechanisch bewegte Urzeitriesen in Originalgröße. In Germendorf und Bautzen finden sich weitere Parks mit Saurier-Skulpturen. Wer’s authentischer mag, kann Skelette in Berliner, Frankfurter, Stuttgarter oder Münchener Museen bestaunen.
A propos authentisch: Die paläontologische Rekonstruktion eines Urtiers beschränkt sich nicht aufs pure Faktensammeln. Ob gefiedert, geschuppt, mit Fell überwachsen oder die Hautfarbe: all das war und ist meist Spekulation. Folglich waren Paläontologen stets auf Künstler angewiesen. Zeichner, die – gestützt auf spärliche Funde - ein lebendes Tier imaginieren können. Der tschechische Maler Zdeněk Burian erlangte mit seinen Saurier-Illustrationen sogar internationalen Ruhm. Umgekehrt haben Künstler der Moderne sich kaum um die Vorfahren heutiger Lebensformen gekümmert: Wer kennt ein Saurierbild von Picasso, Max Ernst, Dali oder Andy Warhol? Lediglich vom Berliner Maler Albert Oehlen sind einige Dino-Skizzen bekannt. Auch in Literatur und in Arthousefilmen tauchen sie selten auf. Saurier haben ihr Reservat in der Kinder-, Jugend- und Populärkultur.
Wenn man über Flohmärkte spaziert, auf denen Kinder ihr gebrauchtes Spielzeug verscherbeln, findet man auffallend viele Saurierfiguren. Bei Jungens ohnehin, bei Mädchen auch nicht selten. Was befeuert diese Faszination? Warum gerade Kinder und selten über die Pubertät hinaus? Dazu muss man sich in deren Perspektive versetzen: Kinder sind vor allem eins - sie sind klein. In jeder Hinsicht. Erwachsene, die „Großen“, sind hoffnungslos überlegen. Ihnen ist jedes Kind ausgeliefert. Seien es Eltern, Verwandte oder Lehrer. Alle schauen auf sie herab – in zweifacher Hinsicht. Saurier hingegen sind so groß. Dagegen wirken selbst Erwachsene klein. Was ist liegt da näher, als die Identifikation mit den starken Riesen? Und wenn Eltern gar Abscheu vor den Donnerechsen zeigen – umso besser! Außerdem verfügen die meisten Kinder über relativ ungezügelte Emotionen. Deren Beherrschung wird erst erlernt. Was Erwachsene ihnen besonders übelnehmen, ist enthemmte Aggression. Selbst wenn Kinder sie lediglich durch Schreie artikulieren. Aber andere Kampfmittel haben sie nicht. Das Waffenarsenal der Eltern dagegen scheint unbegrenzt: Vom Schlagen, Liebesentzug bis zu irgendwelchen Verboten. Und hier bieten Saurier optimale Kompensation: Sie brüllen lautstark. Ihr Gang ist ein erderschütternd. Ihre Hörner, Reißzähne und Panzer machen sie unangreifbar. Ich erinnere mich an einem Nachmittag im Café. Eine Mutter saß mit ihrer Freundin am Tisch. Der kleine Sohn griff derweil nach seinem neuen Gummi-Krokodil. Sofort imitierte der Kleine ein animalisches Brüllen und ging mit dem Gummi-Vieh auf die Mutter los. Das war spielerisch, keine Frage. Trotzdem war die Ego-Stärkung des Kindes spürbar: Es besaß eine starke Identifikationsfigur. Sogar Kids, die kein oder wenig Interesse an Dinos haben, sind von großen Tieren wie Elefanten fasziniert. Der Grund dafür dürfte ähnlich gelagert sein.
Wie schon angedeutet, finden Saurier jenseits der Populärkultur wenig Beachtung. Dabei enthält ihre pure Existenz ausreichend Sprengstoff für traditionelle Welt- und Menschenbilder. Sie erinnert uns, wie viel Leben es bereits vor dem Homo sapiens gab. Und wie lange! Millionen von Jahren haben Dinos den Planeten bevölkert. Der Mensch ist bloß Schlusslicht einer unvorstellbar langen Kette von Lebensformen. Im Kalender der Erdzeitalter tauchte der Homo sapiens erst vor wenigen Minuten auf. Davor? Eine Ewigkeit von vier Milliarden Jahren. Ist vor diesem Hintergrund ein Anthropozentrismus noch sinnvoll? Oder die auf ihm basierenden Religionen? Will man behaupten, dass Christus auch für die Sünden der Saurier gestorben ist? Oder: Können Saurier, Mammuts oder Säbelzahntiger ebenfalls buddhistische Erleuchtung erlangen? Können Urtiere dem Kreislauf der Wiedergeburten entkommen?
Zu den wenigen, die Urzeitforschung ins christliche Weltbild integrieren wollten, zählte neben Rudolf Steiner der Paläontologe Edgar Dacqué. Seine Ausgangsfrage war: Woher stammen die Vorstellungen von Drachen? Die gibt es seit Jahrtausenden und finden sich fast in jeder Kultur. Gänzlich unabhängig voneinander. Als man im alten China Dino-Fossilien fand, da galten sie als Überreste von Drachen. Erst seit 1853, nach Ausgrabung eines vollständig erhaltenen Skeletts, schloss man auf die Existenz von Sauriern. Begegnet sind sich Mensch und Riesenechsen eher nicht. 65 Millionen Jahren liegen zwischen ihnen. Also woher das intuitive Wissen vom Drachen? Eine Antwort lieferte Dacqué in dem 1924 erschienenem Buch „Urwelt, Sage und Menschheit“. Der Paläontologe überschritt die Grenzen seines Fachs, unternahm eine metaphysische Deutung der Evolution: Danach war der Mensch seit Beginn des Lebens als Endziel vorgesehen. Alle früheren Lebewesen, auch Saurier, waren bereits Frühformen des Menschen. Um homo sapiens zu werden, musste er unzählige Metamorphosen durchlaufen. Das dauerte gerne einige Millionen Jährchen. Demnach ist der Drache eine Erinnerung der Menschen an frühere Existenzformen. Edgar Dacqué hatte seinerzeit eine große Anhängerschaft. Zu ihr zählte Thomas Mann, der ihn im Vorspiel seiner Joseph-Romantrilogie verarbeitete. Oder der Lyriker Gottfried Benn und leider auch die Nationalsozialisten - obwohl Dacqués Werk weder völkische noch antisemitische Elemente enthält. Heute sind seine Bücher vergessen, die Frage aber weiterhin offen.
Gehen wir zum Schluss noch einmal in den „Jurassic Park“. Wäre es wünschenswert, das solch ein Park einmal Realität würde? Sollten Genetiker die Saurier wieder erwecken, falls sich Gelegenheit dazu böte? Die Antwort kann nur lauten: Lieber nicht. Nicht aus Sorge um den Menschen. Sondern im Interesse der Ausgestorbenen. Was hätte solche Neuzüchtung zu erwarten? Richtig, ein Leben im Versuchslabor? Man würde Experimente an ihm durchführen, ihn aufschneiden, verletzen und töten. Aus purer Neugier. Geschäftemacher würden ihn ausstellen, gelangweilte Millionäre ihn als Haustier halten. Eine mächtige Zeitmauer schützt frühere Lebensformen vor dem menschlichen Zugriff. Lassen wir sie stehen.
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: Elizaveta Galitckaia / shutterstock
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