
“Die Lyrische Beobachtungsstelle” von Paul Clemente.
Die Biographien jugendlicher Amokläufer ähneln sich in vielerlei Hinsicht. Meistens ist der Täter ein Omega-Mann, ein sogenannter „Loser“: Von Eltern geprügelt, von Lehrern gedemütigt, von Mitschülern verlacht. Außerdem besitzt er eine Horror-DVD. Und die ist an allem schuld. Besonders, wenn der Amokläufer ein Element daraus übernimmt: Wenn er beispielsweise beim Amoklauf die Hockey-Maske von Jason Voorhees trägt – dem Serienkiller aus „Freitag der 13“. Sofort schnattern geistige Tiefflieger über die Giftwirkung von Horrorstreifen. Die sollen Schuld daran tragen, dass Abgehängte zur Waffe greifen. Zudem kommen Amokläufer dem Klischee des Horrorfans sehr entgegen: Männlich, einsam und ungebildet. Einer, der sich an Gewaltdarstellung aufgeilt und anschließend zur Tat schreitet.
Ebenso verbreitet ist der Aberglaube, dass Frauen das Horror-Genre nicht goutieren. Der klassische Feminismus hat solche Behauptungen regelmäßig aufgegriffen. Zahlreiche Aktivistinnen warnen vor filmischer Gewalt! Dass auch Frauen gerne im Horrorregal der Videotheken wühlten – nein, das waren Ausnahmen. Und selbst wenn: Hergestellt wurden und werden diese Werke doch von Männern, oder? Von Regisseuren wie George A. Romero oder Dario Argento? – Zugegeben, lange Zeit schien das so, aber inzwischen ist auch diese Männerdomäne eingestürzt. Dazu zwei Beispiele:
Einer der größten Kassenknaller im vergangenen Jahr war „The Substance“. Von der Französin Coralie Fargeat gedreht. Gleichzeitig: ein Comeback für Demi Moore als alternde Show-Diva Elizabeth Sparkle. Die erlebt am 50. Geburtstag eine böse Überraschung: Ihre Aerobic-Show wird gecancelt. Der Produzent gesteht unverhohlen: Sparkles Körper sei nicht mehr frisch genug. Die Gefeuerte stürzt in Depression. Doch dann erhält sie einen obskuren Hinweis: Ein neues Gen-Medikament erzeugt frische Doubles von welkenden Körpern. Einziger Nachteil: Beide, der jugendliche und der alte Körper, bleiben seelisch miteinander verbunden. Das heißt: Nach einer Woche muss der Geist in den alten Körper zurück. Erst sieben Tagen später darf er erneut in den jungen Organismus. Sieben Tage jung und sieben Tag alt. Ein hin- und her im Wochentakt. Kein Problem, glaubt die Verzweifelte. Sie injiziert sich die Droge und tatsächlich: Ein zwanzigjähriges Double kriecht aus ihrem Körper. Die Welt scheint wieder in Ordnung: Männer drehen sich nach ihr um, und sie bekommt wieder ihre Aerobic-Show. Nach sieben Tagen folgt der Absturz: Zurück in den alten Körper, ins soziale Nirwana, wieder unbeachtet und erfolglos. Die Woche bis zur nächsten Verjüngung dehnt sich wie Kaugummi. Ist kaum auszuhalten. Schließlich kürzt Elizabeth die Wartezeit ab, gibt sich vorzeitig die nächste Dosis. Immer öfter. Das hat Konsequenzen: Bald zeigen sich erste Verfallsmerkmale. Im Finale ist ihr Körper nur noch formlose Fleischmasse. Ein zerfallendes Monster.
Ja, „The Substance“ gilt in erster Linie als Satire, arbeitet mit grober Überzeichnung: Der TV-Produzent, der Elizabeth wegen fortgeschrittenem Alter feuert, wird schon zu Beginn als Körperzerstörer etabliert: Selber fett und hässlich, zerbricht er im Restaurant eine Garnelenschale nach der anderen, um anschließend deren Fleisch zu verschlingen. Dieses aggressive Konsumieren von Körpern zeigt er auch in seinem Job.
Regisseurin Coralie Fargeat inszeniert Elizabeth Sparkles Metamorphosen maximal blutig. Die krümmt sich vor Schmerz. Ihre Haut platzt auf, ihr jüngeres Ich drängt heraus, voller Blut und Schleim. Die Symbolik ist überdeutlich: Moderner Schönheitskult ist im höchsten Maße destruktiv. Und selbst schöne Menschen haben nur 20 Jahre Zeit, aus ihrem Körper Kapital zu schlagen. Dann ist es Zeit für Sport, Diäten und Schönheits-OPs: Brutale Eingriffe in den Körper, anstrengend, schmerzhaft. Eine Selbstentfremdung vom Feinsten. Und natürlich können OPs wie Face-Lifting so richtig schief gehen. Das Resultat: Die Haut wirkt künstlich, wie aus Plastik, Operierte mutieren zu Botox-Zombies. Der traurigste Witz des Films: Die 62jährige Hauptdarstellerin Demi Moore hat wahrscheinlich selbst mehrere Schönheits-OPs durchlitten.
Regisseurin Coralie Fargeat definiert „The Substance“ als Resultat einer seelischen Notwehr. O-Ton:
„Ich hatte diese krasse Vorstellung, dass ich in meinem Alter für niemanden mehr nützlich oder interessant sein würde. Die Wucht dieser Gedanken war so stark, dass ich etwas dagegen tun musste - sonst hätten sie mich völlig zerstört und erdrückt.“
Allerdings dient die Ausbremsung des Alterns nicht bloß dem Erhalt der Schönheit. Nein, sämtliche Verjüngungskuren sind auch Versuche, den eigenen Tod zu überlisten. Seine Spuren zu verwischen. Faltige Haut ist Zeichen für Vergänglichkeit. Der kanadische Regisseur David Cronenberg, ein Meister blutiger Gruselfilme, erklärte:
„Der wirkliche Horror ist, in einen Spiegel zu schauen und festzustellen, dass das eigene treulose Fleisch an den Knochen fault, dass der Tod schon an der Arbeit ist.“
Alle Frauenzeitschriften mit den tausenden Beauty-Tipps, ob „Brigitte“, „Bild der Frau“, „Elle“ oder „Cosmopolitan“ könnten ebenso gut heißen: „Ich-will-nicht-sterben.“
Aber selbst in jungen Jahren, wenn der Tod noch fern scheint, bedeutet Schönheit Leiden. Das zeigt die norwegische Regisseurin Emilie Blichfeldt. Ihr Kinodebut „The Ugly Stepsister“ läuft aktuell in den Kinos. Eine Splatterversion von Aschenputtel beziehungsweise Cinderella. Schauplatz ist das fiktive Königreich Swedlandia. Die junge, wenig attraktive Elvira träumt von einer Heirat mit dem Prinzen. Als sie eine Einladung zur Brautschau des künftigen Monarchen erhält, weiß sie: Ihre Chancen liegen bei Null. Daraufhin schleift die Mutter sie zu schmerzhaften Schönheits-OPs: Man bricht ihr die Nase; näht ihr falsche Wimpern an; eine Perücke soll das dünne Haar kompensieren. Um Gewicht zu verlieren, schluckt sie ein Bandwurm-Ei. Im Kontrast dazu zeigt der Film den Prinzen als eingebildeten Blödsack, der mit Freunden nur übers „Bumsen“ und „Flachlegen“ schwadroniert. Am Ende ähnelt Elviras Körper dem einer Rokoko-Aristokratin: Aufgedonnert, aber kaum noch verwendbar. Pure Fassade mit ständiger Einsturzgefahr. Wie in „The Substance“ beginnt der zerstörte Leib zu bröckeln. Besonders krass: Die Szene, wenn Elviras kleine Schwester ihr den meterlangen Bandwurm aus dem Hals zieht. Oder wenn sie dessen Eier auskotzt. Zumindest überlebt die Optimierungsheldin im Finale. Regisseurin Blichfeld:
„Body Horror eignet sich hervorragend für Metaphern oder einfach, um zu zeigen, wie es sich anfühlen kann, die weibliche körperliche Erfahrung zu leben.“
Was ist die Zerstörung des Körpers, der Schmerz, das endlose Selbstzerfleischen anderes als purer Horror? Aber „ The Ugly Stepsister“ thematisiert nicht nur Körper-Optimierung. Sondern auch dessen Präsentation. Die Folter beim Schönheitschirurgen findet ihre Fortsetzung im Ballett-Unterricht. Sadistische Lehrerinnen peitschen die Körper ihrer Schülerinnen zur Höchstleistung an. - Nein, weder „The Substance“ noch „The Ugly Stepsister“ sind pures Anti-Männerkino. Beide konstatieren, dass Frauen die Ideologie physischer Optimierung ebenso verinnerlicht haben und dem Nachwuchs eintrichtern. Ihre beste Waffe: Die Drohung mit dem sozialen Tod. Diese Furcht vorm Abrutschen in die Omega-Position ähnelt den Ängsten, die den Amokläufer antreiben. Und damit wären wir wieder am Anfang. Der Kreis des Schreckens schließt sich.
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Dank an den Autor für das Recht zur Veröffentlichung des Beitrags.
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Bildquelle: Tinseltown/ shutterstock
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